Sie sind eine globale Minderheit: die Russlanddeutschen. Ihre Geschichte ist oftmals geprägt von einer sich über mehrere Generationen erstreckende Migration innerhalb und außerhalb des russischen Reiches. Nicht nur Nord- und Südamerika wurden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu beliebten Migrationszielen, sondern auch neue Siedlungsgebiete in Sibirien oder Kasachstan. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dann alle Russlanddeutschen dorthin verbannt. Seit der Spätaussiedlung der 1980er und 1990er Jahre leben die meisten Russlanddeutschen in Deutschland.
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Als Ursula Herzog am 18. Mai 1965 im kasachischen
Qaraghandy
rus. Караганда, rus. Karaganda, kaz. Қарағанды

Qaraghandy ist die fünftgrößte Stadt Kasachstans und ein wichtiges Verkehrs- und Wirtschaftszentrum im Nordosten des Landes.

verstarb, trauerten ihre Kinder und Enkelkinder auf drei Kontinenten um sie, wie wir aus ihrer Todesanzeige in der Zeitschrift der Landsmannschaft der Deutschen aus 
Russland
eng. Russia, rus. Rossija, rus. Россия

Die Russische Föderation ist der größte Flächenstaat der Welt und wird von rund 145 Millionen Menschen bewohnt. Hauptstadt und größte Stadt ist Moskau mit ungefähr 11,5 Millionen Einwohner:innen, gefolgt von Sankt Petersburg mit mehr als 5,3 Millionen Einwohner:innen. Der deutlich überwiegende Teil der Bevölkerung lebt im europäischen Teil Russlands, der dichter besiedelt ist, als der asiatische.

Die Russische Föderation ist seit 1992 Nachfolgestaat der russischen Sowjetrepublik (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, RSFSR), dem mit Abstand größten Teilstaat der ehemaligen Sowjetunion. Sie ist zugleich Rechtsnachfolger der Sowjetunion im Sinne des Völkerrechts.

, Volk auf dem Weg, erfahren:
Sie wird betrauert von ihrer Tochter Celestine Wolf und deren Kindern Valentin, Joseph und Lorenz mit Frauen und Kindern, wohnhaft in und um Karaganda und Michael Wolf mit Familie, wohnhaft in Jesberg, West-Deutschland; von ihrem Sohn Valentin Herzog mit Frau und Kindern, wohnhaft in Spokane, USA; von ihren Schwiegertöchtern und von ihren Kindern Elisabeth und Alvine Herzog, Thekla und Familie Diwold, alle wohnhaft in Sibirien, außer Valentin Herzog, der mit seiner Familie ebenfalls in Spokane USA, wohnt.1
Die weit verzweigte Familie Herzog verkörpert gewissermaßen die Migrationsgeschichte der Deutschen aus Russland, auch als “Russlanddeutsche“ “Russlanddeutsche“ ist ein Sammelbegriff für Siedlergruppen, die sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhundert in verschiedenen Gebieten des Russischen Reichs niederließen. Sie gehörten unterschiedlichen Konfessionen und Dialektgruppen an und begriffen sich daher lange Zeit nicht als eine einheitliche Gruppe. Die Gruppenbezeichnung „Russlanddeutsche“ entstammt der völkischen Imagination der Zwischenkriegszeit, die heterogene deutschsprachige Diasporagruppen als „Volksgruppen“ neu konzipierte. Diese homogenisierende Außenansicht wurde aber auch durch den russischen bzw. sowjetischen Staat betrieben, in dem aus den „Kolonisten“ seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend „Deutsche“ (nemcy) wurden. Die Deportationen des Zweiten Weltkriegs waren dann konstitutiv für die Selbstwahrnehmung der Russlanddeutschen als einer Schicksalsgemeinschaft. bekannt. Dies ist eine gut 250-jährige Geschichte von mal freiwilligen, mal erzwungenen Wanderungen über „trockene“ und „nasse“ Grenzen, die Menschen aus den vornationalen deutschen Landen ins 
Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

diesseits und jenseits des
Ural
eng. Ural Mountains, rus. Ура́льские го́ры, deu. Uralgebirge, rus. Урал

Das Uralgebirge erstreckt sich über mehr als 2.500 Kilometer in nord-südlicher Richtung zwischen der osteuropäischen und der sibirischen Landebene. Es wird seit dem 18. Jahrhundert als Grenze zwischen Europa und Asien definiert.

Die Karte zeigt Nordasien, hell hervorgehoben das Uralgebirge. CIA World Factbook, bearbeitet von Veliath (2006), Ulamm (2008) und Copernico (2022). CC0 1.0.

, auf den amerikanischen Kontinent und schließlich, viele Generationen später, zurück nach Deutschland brachten.
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Ursula wurde 1871 in Krassna geboren, einer deutschen Kolonie im Schwarzmeergebiet, damals Teil des Russischen Reiches. Deutsche Kolonisten hatten sich seit 1763 in Russland niedergelassen, als die damalige Zarin Katharina die Große ihr „Einladungsmanifest“ erließ. Darin bekamen sie u.a. Land, Steuerfreiheit und Glaubensfreiheit gewährt, ebenso wie die Befreiung vom Militärdienst. Russland wurde so zum attraktiven Ziel einerseits für „Armutsflüchtlinge“ aus den vom Siebenjährigen Krieg verwüsteten Gebieten des deutschsprachigen Mitteleuropa, andererseits auch zunehmend für religiöse Minderheiten wie die “Mennoniten“ “Mennoniten“ Die Ursprünge der Mennoniten liegen in der Reformation. Die Freikirche geht auf die Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts zurück und ist nach dem Priester Menno Simons (1496-1561) benannt. Aufgrund verschiedener Auswanderungsbewegungen seit dem 17. Jahrhundert sind mennonitische Gemeinden heute weltweit verbreitet. , die dank der Privilegien ihren Glauben und ihren Pazifismus ausleben durften. Die ersten Kolonien entstanden an der Wolga. Ab den 1780er Jahren ließen sich deutsche Siedler auch in den „neurussischen“ Gebieten an der Schwarzmeerküste nieder, die das Russische Reich in den Jahren zuvor erobert hatte.
Auswanderungsbestrebungen Ende des 19. Jahrhunderts
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Bis 1871, Ursulas Geburtsjahr, genossen die Kolonisten in ihren verschiedenen Siedlungsgebieten weitgehende Autonomie. Ihre Privilegien wurden aber im Zuge der modernisierenden Reformen des Zaren Alexander II. – darunter die Befreiung der leibeigenen Bauern und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht – aufgehoben. In der Folge emigrierten nicht wenige Deutsche aus Russland nach Nord- und Südamerika. In ihrem Roman „Wolgakinder“ (Deti moi) lässt Gusel Jachina ihren Protagonisten, Jakob Bach, diesen Auswanderungsdrang folgendermaßen beschreiben:


Am Ende des 19. Jahrhunderts schlugen viele Herzen höher, wenn sie Namen wie Brasilien, Vereinigte Staaten oder Kanada hörten, die wie Musik in ihren Ohren klangen. Viele Russlanddeutsche, die die Geschichten von der kühnen Umsiedlung ihrer Vorfahren mit der Muttermilch eingesogen hatten, verstanden diese Begriffe als einen Ruf des Schicksals. In ihren naiven Herzen lebte nach wie vor die Hoffnung auf ein Glück, das hinter Bergen und Ozeanen auf sie wartete.2

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Die Migration wird hier zum gleichsam „vererbten“ Drang der Russlanddeutschen, sich immer wieder auf die Suche nach einem besseren Leben in der Ferne zu begeben. Tatsächlich blieben die meisten Kolonisten allerdings in Russland. Ab den 1890er Jahren ging für manche von ihnen die Reise dann auch nach Osten, in sogenannte Tochterkolonien im asiatischen Teil des Russischen Reiches, in Sibirien und Kasachstan. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts fanden sich Russlanddeutschen so auf vier Kontinenten (wenn man Nord- und Südamerika getrennt betrachtet) wieder. Diese Siedlungskerne in Übersee wurden auch zum Ziel russlanddeutscher Emigranten und Flüchtlinge nach der Russischen Revolution von 1917 – ebenso wie das Deutsche Reich, das sie zeitweise als „Rückwanderer“ willkommen hieß.
Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert
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Waren ihre Migrationen im 18. und 19. Jahrhundert noch meist freiwillig – wenn auch unter dem Druck der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse – so prägten Zwangsmigrationen das 20. Jahrhundert der Russlanddeutschen. Bereits im Ersten Weltkrieg wurden sie als vermeintlich illoyale Bevölkerungsgruppe erstmals Opfer von kollektiven Umsiedlungen. Nach der Revolution waren sie als oft vergleichsweise wohlhabende Bauern in den 1920er und 1930er Jahren von den Repressionen gegen die sogenannten “Kulaken“ “Kulaken“ Kulak ist eine russischsprachige Bezeichnung für einen Großbauern, die in der Sowjetunion abwertend belegt, aber nie klar definiert war. Viele vergleichsweise wohlhabende oder auch nur selbstständige Bauern wurden im Stalinismus als Kulaken und somit „Klassenfeinde“ ermordet oder in Straflager verschleppt. betroffen, was oft die Deportation nach Osten bedeutete. Im August 1941 folgte dann nach dem Überfall von NS-Deutschland auf die
Sowjetunion
eng. Soviet Union, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR, Russisch: Союз Советских Социалистических Республик (СССР) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Die UdSSR wurde von ungefähr 290 Millionen Menschen bewohnt und bildete mit ca. 22,5 Millionen Quadratkilometern den größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem.

die kollektive Deportation der Deutschen aus dem
Wolga
rus. Во́лга, eng. Volga

Die Wolga entspringt etwa 300 km nordöstlich von Moskau in den Waldaihöhen, einem Plateau im europäischen Teil Russlands. Sie ist 3530 km lang. Bei Astrachan fächert sich die Wolga in die verschiedenen Arme des Wolgadeltas auf und mündet schließlich ins Kaspische Meer.

, wo seit 1924 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen bestanden hatte. Diese Republik, in der den Russlanddeutschen gemäß den Leitlinien der Leninschen Nationalitätenpolitik der Sozialismus in ihrer Muttersprache nahegebracht werden sollte, wurde aufgelöst, ca. 900.000 Deutsche wurden zur Zwangsansiedlung nach
Kasachstan
rus. Казахстан, eng. Kazakhstan

Kasachstan ist heute ein zentralasiatischer Binnenstaat zwischen Russland, China, Kirgisistan, Usbekistan und Turkmenistan. In der Vergangenheit wurde die Region von verschiedenen Steppenvölkern beherrscht, bis sich die Kasachen in mehreren Schritten zwischen 1731 und 1742 dem Russischen Zarenreich unterstellten. Ab 1936 war Kasachstan als Kasachische SSR Teil der Sowjetunion; seit deren Zerfall im Jahre 1991 ist Kasachstan unabhängig.

und
Sibirien
rus. Sibir, rus. Сиби́рь, eng. Siberia

Sibirien erstreckt sich über eine Fläche von 12,8 Mio. Quadratkilometern zwischen dem Ural, dem Pazifik, dem Nordpolaarmeer, China und der Mongolei.1581/82 begann die russische Eroberung Sibiriens. Zur Zeit der Aufklärung vor allem Rohstoffquelle und Raum für den Handel mit Asien, gewann Sibirien ab dem 19. Jahrhundert Bedeutung als Ort für Strafkolonien und Verbannte. Mit der Erschließung durch die transsibirische Eisenbahn und der Dampfsschifffahrt am Ende des 19. Jahrhunderts kamen Industrialisierung und damit neue Siedler nach Sibirien. Weitere Industrialisierung unter Stalin wurde vor allem mit der Arbeitskraft von Gulag-Häftlingen und Kriegsgefangenen umgesetzt.

Die Karte zeigt Nordasien, zentral gelegen Sibirien. CIA World Factbook, bearbeitet von Veliath (2006) und Ulamm (2008). CC0 1.0.

gebracht. Auf diese erste Massendeportation folgte die Einziehung zunächst der russlanddeutschen Männer, dann auch vieler Frauen zur Zwangsarbeit in der sogenannten „Arbeitsarmee“  oder „Trudarmee“, wie es die Deportierten im deutsch-russischen Mischmasch bezeichneten. Viele Familien wurden auseinandergerissen, bis zu 150.000 Menschen starben. Auch nach dem Ende des Krieges blieben die Deportierten unter einem strengen Verbannungsregime, der „Kommandantur“.
Auch die Schwarzmeerdeutschen wurden im Zweiten Weltkrieg kollektiv umgesiedelt, allerdings zunächst in eine andere Richtung. Aufgrund des schnellen Vormarsches der Wehrmacht gerieten sie 1941 unter deutsche (und rumänische) Besatzung, was in manchen Fällen auch die Beteiligung an der Ermordung der benachbarten jüdischen Bevölkerung nach sich zog. Ab 1943 siedelten die NS-Behörden die Schwarzmeerdeutschen nach Westen um, ins besetzte 
Polen
eng. Poland, pol. Polska

Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.

 (den sogenannten „Warthegau“). Auch Ursula Herzogs Familie war von dieser sogenannten „Administrativumsiedlung“ betroffen. Ihr Mann Michael starb dort im Februar 1945. Wie die meisten anderen Schwarzmeerdeutschen wurden die überlebenden Herzogs dann zu Kriegsende von den sowjetischen Behörden in die Sowjetunion zurückgebracht und ebenfalls nach Sibirien verbannt, in dieselben Lager wie die Wolgadeutschen. Ursula Herzogs Weg wird in ihrer Traueranzeige folgendermaßen dargestellt: „Wieder nach Russland verschleppt kam sie in ein Lager, wo sie zuerst von einem ihrer Neffen gefunden und zu sich in Pflege genommen wurde, bis auch ihre Tochter Celestine von ihr erfuhr, sie zu sich nahm und bis zu ihrem Tode pflegte.“
Migration nach dem Zweiten Weltkrieg
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Dass Ursula Herzog schließlich in Karaganda verstarb, war wiederum kein Zufall. Nachdem die Kommandantur 1955 aufgehoben wurde, ließen sich viele Russlanddeutsche in Kasachstan nieder, wo die Sowjetunion unter Chruschtschow in großem Stil „Neuland“ erschloss. Auch in den anderen zentralasiatischen Republiken bildeten sich neue Siedlungsschwerpunkte, ebenso wie im Ural und in Sibirien. Die Rückkehr in die alten Siedlungsgebiete an Wolga und Schwarzem Meer war hingegen nicht gestattet.
Ein Teil der im Krieg nach Westen umgesiedelten Russlanddeutschen entging allerdings dem Zugriff der Sowjetbehörden und der Rückführung in die Sowjetunion. So auch Ursulas Sohn Valentin, der nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft mit seiner Familie bis 1953 im hessischen Jesberg lebte. Von dort emigrierten die Herzogs 1953 in die USA, zunächst nach Montana, dann nach Kansas und schließlich nach Spokane, Washington. Dabei machten sie sich bestehende Familiennetzwerke in den USA zu Nutze.
Manche der Umsiedler blieben auch in Deutschland, so wie Ursulas Enkel Michael Wolf. Diese kleine Gruppe von Russlanddeutschen in der Bundesrepublik (und zum Teil in der DDR) wurde zum „Brückenkopf“ für die Zuwanderung von Verwandten aus der Sowjetunion ab Beginn der 1970er Jahre. Im Kontext der ost-westlichen Annäherungs- und Entspannungspolitik ließ die UdSSR, die sonst ein sehr restriktives Ausreiseregime pflegte, einige Zehntausend Russlanddeutsche zu ihren Familienangehörigen emigrieren. Auch einige Mitglieder der Familie Herzog waren dabei. 
Migration ab den 1990er Jahren
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In großem Stil in Bewegung gerieten die Russlanddeutschen aber im Zuge zunächst der Reformen und schließlich des Zusammenbruchs der 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR, Russisch: Союз Советских Социалистических Республик (СССР) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Die UdSSR wurde von ungefähr 290 Millionen Menschen bewohnt und bildete mit ca. 22,5 Millionen Quadratkilometern den größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem.

 nach 1985. Während Mitte der 1980er Jahre kaum jemand das Land verlassen konnte, ermöglichten die Liberalisierungen unter Gorbatschow ab 1987 eine wachsende Zahl von Ausreisen. Es entstand eine Art „Schneeballeffekt“: emigrierte Russlanddeutsche zogen ihre Familienmitglieder nach (die Emigration war nach wie vor primär Familienzusammenführung), ganze Dörfer siedelten nach Deutschland aus. Dabei half ihnen die liberale Aufnahmepraxis der Bundesrepublik, die sie aufgrund ihrer (individuell nachzuweisenden) „deutschen Volkszugehörigkeit“ als „Aussiedler“ (ab 1993 „Spätaussiedler“ genannt) einreisen ließ und ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft verlieh.
Die Zahlen wuchsen so rasant, dass die Bundesrepublik, die bis dahin das fehlende Recht auf Ausreise der Deutschen in der Sowjetunion beklagt hatte, ihrerseits die Aufnahmeregeln verschärfte. Ab 1990 durften Aussiedlungsanträge nur noch aus dem Herkunftsland gestellt werden, Menschen mussten zum Teil jahrelang auf ihren Aufnahmebescheid warten. Ab 1993 durften nur noch maximal 220.000 Spätaussiedler pro Jahr nach Deutschland einreisen. Ab 1996 wurde das Bestehen eines Sprachtests Aufnahmebedingung. Dies war für viele Russlanddeutsche schwierig, da ihre Kenntnisse des Deutschen in den Jahrzehnten nach dem Krieg mangels Bildungsmöglichkeiten in der Muttersprache stark rückläufig waren. Wer nur Russisch sprach, sollte nun in den Augen des deutschen Staats kein Deutscher mehr sein können.
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Trotz dieser Einschränkungen hat die Bundesrepublik seit 1987 über 2,3 Millionen Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen, die meisten davon in den 1990er Jahren. In Russland leben mit Stand der Volkszählung von 2010 nur noch ca. 400.000 Menschen, die sich als Deutsche identifizieren, in Kasachstan waren es 2009 noch 180.000. Die Mehrzahl der Russlanddeutschen lebt also inzwischen in Deutschland, wo sie sie sich nach anfänglichen Schwierigkeiten recht gut integriert haben und wo die meisten von ihnen auch bleiben wollen.
Manche zieht es allerdings auch jetzt wieder weiter, zum Teil zurück in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, zum Teil an die alten Sehnsuchtsorte in Übersee, die besonders für sehr religiöse Russlanddeutsche wieder attraktiv geworden sind. So zieht es russlanddeutsche Mennoniten und Pfingstler teilweise nach Nord- und Südamerika, besonders nach Kanada, aber auch zum Beispiel nach Bolivien. Die russlanddeutsche Migrationsgeschichte wird also in gewissem Maße weitergeschrieben. Für den Großteil der Gruppe ist sie mit der Etablierung in der Bundesrepublik Deutschland aber an ihr Ende gekommen.