Die Ostexpansion Deutschlands während des Nationalsozialismus hat dazu geführt, dass das nationalsozialistische Ziel des Kampfes um Lebensraum oft nur mit Osteuropa in Verbindung gebracht wird. Die Begründungen für die Inanspruchnahme überseeischer Kolonien durch Kolonialenthusiasten während des Dritten Reiches ähnelten jedoch auffallend oft den Narrativen jener Befürworter der Osterweiterung.
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Obwohl das nationalsozialistische Deutschland in erster Linie mit seiner Ostexpansion während des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gebracht wird, gaben viele Interessensgruppen den Traum von der Wiedererrichtung eines deutschen Reiches in Afrika nicht auf, selbst nachdem im Jahr 1933 die Nationalsozialisten mit ihrer eindeutig gen Osten gerichteten Ideologie an die Macht gekommen waren. In Wirklichkeit planten staatliche NS-Institutionen wie das Kolonialpolitische Amt der NSDAP (KPA) unter der Leitung des Kriegsveteranen Franz Ritter von Epp bereits ab 1934 offiziell Möglichkeiten einer deutschen Rückkehr nach Afrika nach dem Krieg. In der Zwischenzeit produzierten Kolonialbegeisterte in ganz Deutschland eifrig Material wie Bücher und Flugblätter, besuchten Fachschulen und organisierten Veranstaltungen, die für die deutsche Expansion nach Übersee warben. Diese Kolonialenthusiasten waren häufig Mitglieder des ebenfalls unter der Führung von Epp stehenden Reichskolonialbundes (RKB), der 1933 aus dem Zusammenschluss der 1887 gegründeten Deutschen Kolonialgesellschaft mit anderen kleineren Organisationen hervorging. Während die KPA alle offiziellen Planungen für die künftige Rückgewinnung der deutschen Kolonien in Afrika übernahm, leistete der RKB Aufklärungsarbeit und informierte die Öffentlichkeit in kolonialen Fragen.
Diese Propaganda der Kolonialenthusiasten wurde oft als verschieden von jener der Befürworter deutscher Kontinentalexpansion nach Osteuropa betrachtet, zumal Adolf Hitler und andere führende Nationalsozialisten an der früheren Kolonialpolitik des Kaiserreichs (1871–1918) offen Kritik übten und stattdessen die Ostexpansion befürworteten. Bei näherer Betrachtung ähnelten sich die Argumente für die Übersee- und die Kontinentalexpansion jedoch mehr, als viele zunächst vermuten würden. Zwar unterschieden sich die geographischen Gegebenheiten der angestrebten Standorte stark, ebenso wie die historische Beziehung Deutschlands zu den Territorien, doch projizierten zahlreiche Autoren, Forscher und Aktivisten vergleichbare, stark von der nationalsozialistischen Ideologie geprägte Fantasien auf Gebiete in Afrika und Osteuropa. Diese Leute bedienten sich sehr ähnlicher Diskurse, Grundbegriffe und einer vergleichbaren Sprache, um ihre Forderungen nach Expansion zu rechtfertigen, und sie schlugen fast dieselben Lösungen für identische Probleme vor.
‚Lebensraum‘
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Es überrascht nicht, dass ein Hauptgrund für den Wunsch nach territorialer Expansion darin bestand, dass ein größerer Raumbesitz nicht nur zu mehr nationalen Ressourcen führen, sondern auch das Wachstum und die Entfaltung der deutschen Nation ermöglichen sollte. ‚Lebensraum‘ stellte einen Grundbegriff der nationalsozialistischen Ideologie und eine der Triebfedern des nationalsozialistischen Deutschlands dar.
Dennoch war der Begriff viele Jahre vor dem Nationalsozialismus entstanden. Im Jahr 1897 verknüpfte der Geograf und Ethnograf Friedrich Ratzel den Begriff ‚Lebensraum‘ mit dem Grundsatz, dass die Geografie die Entwicklung der Gesellschaft beeinflusse und folglich eine geografische Expansion notwendig sei. Das vermeintliche Bedürfnis nach ‚Lebensraum‘ erfreute sich in der Zwischenkriegszeit in den deutschen politischen und wissenschaftlichen Diskursen besonderer Beliebtheit, da der Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg die Besetzung und Entmilitarisierung des Rheinlands, die Rückgabe Elsass-Lothringens an Frankreich, die Abtretung vormals deutscher Gebiete an Polen sowie die Beschlagnahmung aller deutschen Überseekolonien vorsah (Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Neuguinea und Deutsch-Samoa), die an Belgien, Großbritannien und Frankreich abgetreten werden sollten.
Die Nationalsozialisten übernahmen den Begriff ‚Lebensraum‘, um jenen Raum zu beschreiben, der es Deutschland ermöglichen würde, die Überbevölkerung zu bekämpfen, Zugang zu natürlichen Ressourcen und Nahrungsmitteln zu erhalten und so Deutschland für künftige Generationen von Deutschen zu sichern. Gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie sollte der ‚Lebensraum‘ nicht nur durch den Erwerb von Raum geschaffen werden, sondern auch durch ethnische Neuordnungen und Säuberungen der in den Gebieten lebenden Bevölkerungen und die Neuansiedlung deutscher Siedler. Im Gegensatz zur Idee, diesen Raum in Übersee zu suchen, sahen viele während des Dritten Reichs, insbesondere Wissenschaftler, die sich mit der so genannten Ostforschung beschäftigten, Polen und andere Gebiete in Osteuropa als den idealen Standort für deutsche Expansionsbestrebungen an. Die Ostforscher arbeiteten in verschiedenen Bereichen wie Geschichte, Ethnographie und Geographie und konzentrierten ihre Arbeit auf osteuropäische Regionen. In der Zwischenkriegszeit und während des Dritten Reiches wurde ihre Arbeit zunehmend politisch vereinnahmt. So befassten sie sich direkt mit Themen wie der Rückgewinnung deutscher Gebiete in Polen und der deutschen Expansion nach Osten und verliehen so den nationalsozialistischen Diskursen eine wissenschaftliche ‚Legitimation‘. Darüber hinaus nährte ihre Arbeit häufig negative Vorurteile über die osteuropäische Bevölkerung, die während des NS-Regimes bereits im Umlauf gewesen waren und durch ihre Arbeit gleichermaßen radikaler wie populärer wurden.
Diese Wissenschaftler äußerten sich besonders beredt darüber, wie viel Platz für ‚Lebensraum‘ in den benachbarten polnischen Gebieten zur Verfügung stehen würde. Der Historiker Hermann Aubin stellte fest, dass Polen trotz des Rückgangs der polnischen Abwanderung in den Westen immer noch „einen Überfluss für seine Bevölkerung“1 bereit halte. Der Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler Otto Fitzner nahm in die Publikation „Breslau und Deutscher Osten“ eine Vergleichstabelle mit den Bevölkerungszahlen pro Quadratkilometer auf, aus der hervorging, dass je weiter östlich man ging, desto mehr Raum zur Verfügung stand.2 Solche Theorien über das Platzangebot in Polen standen oft in Verbindung mit rassistischen Vorurteilen über die polnische Bevölkerung als unorganisiert und chaotisch. Den Polen wurde oft vorgeworfen, sie seien nicht in der Lage oder nicht fähig, das Gebiet ordnungsgemäß zu verwalten, und bedürften daher deutscher Hilfe.
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Interessanterweise fand auch in den Veröffentlichungen über den Kolonialismus in Übersee die Idee des Lebensraums Verwendung (gelegentlich wurde sogar explizit dieser Begriff verwendet) sowie die konzeptuelle Verbindung zwischen einem Raum und der künftigen Entwicklung der deutschen Nation. In der Publikation „Deutschland braucht Kolonien“, die die Kolonialausstellung des RKB in Hamburg 1936 begleitete, betonte Epp das angeblich dringende deutsche Bedürfnis nach Lebensraum. In der Publikation wird Epp zitiert: „Das deutsche Volk braucht Land, und wir fordern Land für unser hungerndes Volk.“3 Das Pamphlet enthielt auch eine Vergleichstabelle mit dem Titel „Der Deutsche hat den wenigsten Lebensraum von allen“, die der oben erwähnten Tabelle von Fitzner nicht unähnlich ist. Die Tabelle listete das Größenverhältnis der Kolonien der europäischen Reiche im Verhältnis zum Reich selbst auf und hielt fest, dass 1914 die Kolonien Englands 105-mal so groß waren wie England, die belgischen Kolonien achtzigmal so groß wie Belgien, die französischen Kolonien zweiundzwanzigmal so groß wie Frankreich und die deutschen Kolonien nur fünfeinhalbmal so groß wie Deutschland.4
2. Irredentismus
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Das Konzept des Irredentismus, d.h. der Politik, die sich für die Restitution von Gebieten an ein Land einsetzt, das sie früher besessen hatte, war in der Zwischenkriegszeit besonders ausgeprägt. Wie bereits erwähnt, hatte Deutschland all seine überseeischen Kolonien und auch einige Territorien, die direkt mit ihm verbunden waren, verloren. Die Vorstellung, dass Deutschland zurückfordern müsse, was ihm genommen worden war, bezog sich vor allem auf das kontinentale Gebiet. Sie wurde häufig als Rechtfertigung für ein künftiges deutsches Engagement in diesem Gebiet herangezogen, indem behauptet wurde, die Deutschen würden das Land nach den Jahren unter fremder Herrschaft wirtschaftlich und kulturell „wieder aufbauen“. Ostforscher wiesen häufig darauf hin, wie deutsche Siedler das östliche Gebiet seit dem Mittelalter kolonisiert hatten, bekannt als Ostsiedlung, und wie sich der Einfluss der deutschen Siedler in der örtlichen Architektur wie Stadtmauern, Häusern und Kirchen sowie in gefundenen archäologischen Artefakten niedergeschlagen habe. In den Veröffentlichungen wurde stets hervorgehoben, dass die Deutschen angeblich die einzigen Kulturträger im Osten waren, welche die vermeintlich unkultivierte östliche Bevölkerung mit westlicher Kultur vertraut gemacht hätten. In einem wissenschaftlichen Sammelband mit dem Titel „Der Deutsche Osten“ erklärten die Herausgeber, dass „viele der größten und dauerhaftesten Errungenschaften, die das deutsche Volk in seiner Geschichte vorzuweisen hat, eng mit dem deutschen Osten verbunden sind.“5 Die historische Einbindung der Deutschen in das Gebiet wurde somit als Rechtfertigung und Beweis für das deutsche Recht auf Rückeroberung angesehen, da das Gebiet in den Augen der Befürworter der deutschen Kontinentalexpansion ja von Anfang an deutsch war.
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Die irredentistische Ideologie tauchte in der Zwischenkriegszeit auch in Bezug auf die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika auf, denn obwohl das Land ursprünglich nicht deutsch gewesen war, sahen viele Kolonialbegeisterte die Gebiete aufgrund der Kolonisierung durch das Kaiserreich als ‚deutsch‘ an. Publikationen zum Thema Afrika (so genannte Afrikabücher) wie „Unvergessenes deutsches Land“ vertraten schon im Titel die These, dass die ehemaligen Kolonien in Afrika trotz der Jahre belgischer, britischer und französischer Herrschaft nach dem Ersten Weltkrieg im Kern deutsch geblieben seien. Wie viele andere Bücher dieser Art enthielt es zahlreiche ethnografische Fotos neben solchen von deutschen Schulkindern, Häusern im deutschen Stil, Verwaltungsgebäuden und Infrastruktur.
Eine weitere Rechtfertigung für die Rückgewinnung der afrikanischen Gebiete lieferten den Befürwortern der Übersee-Expansion die kulturellen und entwicklungspolitischen Anstrengungen des Kaiserreichs. Auch wurde stets die deutsche Verantwortung gegenüber der ehemals kolonialisierten Bevölkerung des Kaiserreichs betont. In dem Buch „Kolonien oder Nicht?“ argumentierte der Autor, dass Deutschland „eine Ehrenpflicht gegenüber den Eingeborenen unserer [ehemaligen] Kolonien“6 habe. In ähnlicher Weise veröffentlichte Senta Dinglreiter, die über ihre Reisen durch Afrika berichtete, ein Buch mit dem Titel „Wann kommen die Deutschen endlich wieder?“ Sowohl im Titel als auch im Buch vertrat die Autorin die These, dass die ehemals kolonisierte Bevölkerung Deutschland treu geblieben sei und sehnsüchtig auf die Rückkehr der Deutschen warte.7
Die ‚Rettung‘ der Deutschen im Ausland
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Noch bedeutsamer als die Bezugnahme auf die einheimische afrikanische Bevölkerung war die Vorstellung, dass die deutschen Siedler in den ehemaligen überseeischen Kolonien, die nun unter fremder Herrschaft lebten, der Hilfe Deutschlands bedürften. Diese Siedler, die nach dem Versailler Vertrag in den ehemaligen deutschen Kolonien verblieben waren, wurden von Kolonialenthusiasten so dargestellt, als führten sie einen endlosen Kampf, um die deutsche Sprache und Kultur sowie ihre Siedlerpräsenz gegen alle Widerstände zu bewahren. In der Propaganda wurde das angebliche Deutschtum dieser Siedler hervorgehoben, und in Veröffentlichungen wurden zahlreiche Bilder von deutschen Siedlern und ihren Farmen in Orten wie Windhoek (ehemals Deutsch-Südwestafrika) gezeigt.
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Deutsche Siedler, die in solchen Publikationen porträtiert wurden, wurden nicht nur als treue Bewahrer des Deutschtums im Ausland beschrieben, sondern auch als treue Mitglieder der Volksgemeinschaft, die sich gut in die nationalsozialistischen Rassenideale fügten. Beispielsweise zeigte „Das neue Volksbuch der Kolonien“ ein Foto von zwei blonden Jugendlichen, einem Mann und einer Frau, und beschrieb die Deutschen der dritten Generation im „Südwesten“ als „durch und durch deutsch und gesund“.8
Wie die Kolonialenthusiasten, die die Notlage der Deutschen in den ehemaligen Kolonien zur Rechtfertigung der deutschen Expansion nach Übersee nutzten, bedienten sich auch die Befürworter der deutschen Kontinentalexpansion nach Osteuropa des Begriffs auch der deutschen Minderheiten, der so genannten Volksdeutschen, um ihre Argumente zu stützen. Sie spielten darauf an, dass sich nach dem Ersten Weltkrieg Millionen von Deutschen plötzlich außerhalb der deutschen Grenzen wiedergefunden hatten. Diese Befürworter der deutschen Osterweiterung versuchten, ähnlich wie die Kolonialenthusiasten für die deutschen Siedler in Afrika, Sympathien für diese Deutschen zu wecken, indem sie betonten, wie gut jene ihre Kultur und Sprache bewahrt hatten. Karl Thalheim, ein Wirtschaftswissenschaftler und Dozent, argumentierte damit, dass die in Osteuropa lebenden Deutschen die einheimischen Dialekte ihrer pfälzischen, schwäbischen und schlesischen Vorfahren bewahrt hatten.9 In ähnlicher Weise schrieb Erich Lindow, die Deutschen in Danzig (Gdańsk) hielten Wache für Deutschland und klammerten sich an das deutsche Ostpreußen. Dies verquickte er auch mit irredentistischen Forderungen, indem er Danzig wie folgt beschrieb: „Deutsch ist die Stadt und ihre Kultur, deutsch ist der Geist und deutsch ist das Gefühl ihrer Bürger.“10
Fazit
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Trotz der Unterschiede zwischen den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und Osteuropa wurden die Fragen, mit denen Deutschland in der Zwischenkriegszeit und im Dritten Reich konfrontiert war, kontinuierlich von zwei verschiedenen Gruppen angegangen, deren Themen, Diskurse, Lösungen und Rechtfertigungen sich immer wieder überschnitten. Während die Kolonialenthusiasten nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941 letztlich kaum noch Relevanz besaßen, sahen die Befürworter der deutschen Ostexpansion ihre Arbeit angesichts der zunehmend zerstörerischen Realität als höchst wichtig an. Der Plan der Kolonialenthusiasten für ein neues deutsches Reich in Afrika sollte jedoch zum Glück eine bloße Fantasie bleiben.

Siehe auch