Völkerwanderung

Der Schauplatz Reetz (Neumark) 1945
,
Der Ort Reetz (Neumark) östlich der Oder verwandelte sich bei Kriegsende 1945 in einen großen Evakuierungsschauplatz, an dem sich Erfahrungen von Flucht, Deportation und Vertreibung verschränkten.


28.1.1945. Deutschland. 38 Kilometer seit dem letzten Nachtlager (gestern). Damit haben wir in zwei Tagen 90 Kilometer geschafft. Deutschland hat uns unwirtlich empfangen, mit Schneegestöber, heftigem Wind, fast ausgestorbenen Dörfern. Die Leute hier, die Deutschen, fürchten den Zorn des Russen. Sie fliehen und lassen all ihr Hab und Gut zurück. […] 30.1.1945. […] Die Bewohner sind fürchterlich verschreckt. […] Bei Ihnen hat man alles auf den Kopf gestellt und alles Brauchbare mitgenommen. Der Luxus der Einrichtungen ist kaum zu beschreiben, der Reichtum und die Erlesenheit dieser Sachen ist überwältigend. Unsere Slawen werden Augen machen.1

Wladimir Gelfand, sowjetischer Soldat
Ende Januar 1945 überwand die sowjetische Armee den sogenannten Ostwall, der in den 1930er Jahren an der deutsch-polnischen Grenze errichtet worden war. Anschließend drangen sowjetische Truppen unter immensem Tempo in das pommersche und 
Brandenburg
eng. Brandenburg

Brandenburg war ab der Preußischen Verwaltungsreform 1815 eine Provinz im Zentrum der Monarchie bzw. ab 1918 des Freistaats. Sie entstand anstelle des Kurfürstentums Brandenburg (Mark Brandenburg), wobei dessen Kerngebiet, die westlich der Elbe gelegene Altmark, in Sachsen eingegliedert wurde. Im Süden hingegen wurden aus dem früheren Königreich Sachsen die Niederlausitz und weitere Gebiete an Brandenburg angeschlossen. Ihr Verwaltungssitz war zunächst Potsdam, später zeitweise auch Berlin. Berlin wurde zwischen 1881 und 1920 als Preußische Haupt- und Residenzstadt schrittweise aus Brandenburg ausgegliedert. 1938 kamen im Osten einzelne Teile der aufgelösten Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen zu Brandenburg hinzu, während Gebiete im Nordosten an die Provinz Pommern abgetrennt wurden. Seit 1939 wurde offiziell der Name „Mark Brandenburg“ als Provinzname wiedereingeführt. 1945 gingen die östlich der Oder gelegene Teile Brandenburgs an Polen, der in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland verbliebene Rest wurde 1947 in das Land Brandenburg umgewandelt.

 der 
Neumark
eng. New March, eng. Neumark, pol. Nowa Marchia, lat. Terra trans Oderam

Die Neumark ist eine historische Landschaft und ein ehemaliger Landesteil der Mark Brandenburg, aus der sich bereits im Mittelalter das Kurfürstentum Brandenburg als Vorgänger des Königreichs Preußens entwickelte. Zwischen 1815 und 1945 war die Neumark Teil der preußischen Provinz Brandenburg. Heute liegt die Neumark weitgehend auf dem Territorium Polens, überwiegend auf dem Gebiet der polnischen Woiwodschaften Lebus sowie Westpommerns und Großpolens. Wichtige Städte sind und waren beispielsweise Gorzów Wielkopolski (vor 1945 Landsberg an der Warthe) oder Choszczno im Nordosten (vor 1945 Arnswalde).

Nach 1945 wurden die östlich der Oder gelegenen, jetzt polnischen Teile der preußischen Provinz Brandenburg und damit auch große Teile der Neumark teils als Ostbrandenburg bezeichnet, dem aber keine historische Region oder Landschaft entspricht. Heute ist zumeist die Bezeichnung als Ziemia Lubuska bzw. Lebuser Land üblich, auch wenn nicht ganz präzise.

 bis an den Fluss 
Oder
lat. Odera, lat. Oddera, lat. Viadrus, lat. Viadua, ces. Odra, pol. Odra

Die Oder gehört zu den größten Flüssen Mitteleuropas. Sie entspringt im tschechischen Oderbergland und trennt im Oberlauf die historischen Regionen Mähren und Schlesien. In Schlesien bildet sie auf einem kurzen Abschnitt zudem die Grenze zu Polen, bevor sie auf rein polnisches Gebiet übergeht. Ab dem Zusammenfluss mit der Lausitzer Neiße südlich von Eisenhüttenstadt bildet der Fluss über 162 km die deutsch-polnische Grenze. Erst kurz vor Stettin und bis zur Mündung in die Ostsee über das Stettiner Haff, fließt die Oder streckenweise wieder nur durch polnisches Gebiet. Die frühere Länge der Oder von ca. 1.150 km wurde aufgrund von Regulierungsmaßnamen an diesem über Jahrhunderte für die Binnenschifffahrt wichtigen Strom auf heute 842 bzw. 866 km reduziert – je nachdem, ob das Stettiner Haff als Meeresgewässer betrachtet wird. Ihr Einzugsgebiet umfasst 118.561 bzw. 122.512 km². Die menschlichen Eingriffe in die Flusslandschaft führten zu zahlreichen Extremereignissen wie verheerenden Hochwassern oder extremen Niedrigwassern sowie Massensterben von Flussorganismen. Die wirtschaftliche Bedeutung der Oder ging nach dem Zweiten Weltkrieg besonders in Polen stark zurück.

 vor, wo sie Anfang Februar vorerst zum Stehen kommen sollten.
Zuvor hatten Flüchtlingstrecks und Kolonnen von Kriegsgefangenen, die von den Wachmannschaften westwärts getrieben wurden, das Vordringen der Roten Armee angekündigt. Am Kriegsende kam es gleichzeitig zu Deportationen sowie zivilen und militärischen Fluchtbewegungen, wie sich am Beispiel der vormals deutschen und heute polnischen Kleinstadt 
Recz
deu. Reetz, deu. Reetz Nm.

Recz ist eine Kleinstadt im Nordwesten Polens in der Woiwodschaft Westpommern (Einwohnerzahl Ende 2020: 2.873). Sie liegt in der historischen Landschaft der Neumark.

 anhand von Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Fotografien eindrücklich offenlegen lässt.2 Von einem geordneten Rückzug konnte trotz propagandistischer Verlautbarungen ebenso wenig die Rede sein wie von einer rechtzeitigen Evakuierung der Bevölkerung. Vielmehr glich die chaotische Situation der eines Durchgangsbahnhofs und stellte „ein schauriges Gegenstück zu dem einst so gepriesenen Septemberfeldzug des Jahres 1939“ dar.3

Reetz (Neumark)

Die Kleinstadt Reetz liegt an der 
Ina
deu. Ihna, pol. Ina

Die Ina ist ein rechter Nebenfluss des Unterlaufs der Oder auf dem Gebiet der nordwestpolnischen Woiwodschaft Westpommern. Sie ist 126 km lang und hat ein Einzugsgebiet von 2.151 km². Seit dem 13. Jahrhundert befand sich an der Mündung der Ihna ein Hafen. Der polnische Flussname wurde erst 1949 offiziell festgelegt.

, einem Nebenfluss der Oder, und gehörte bis 1945 zum 
Kreis Arnswalde
deu. Arnswalder Kreis

Der Kreis Arnswalde ist ca. im 16/17. Jahrhundert zunächst als einer der sogenannten Hinterkreise im Süden der Mark Brandenburg entstanden. Nach Gründung des Deutschen Reichs und dessen Aufteilung in einzelne Provinzen gehörte er zur preußischen Provinz Brandenburg. 1938 wurde der Kreis Arnswalde in die Provinz Pommern eingegliedert, fiel 1945 jedoch bereits (mit weiteren Teilen Pommerns) an die Volksrepublik Polen. Der nun nach dem polnischen Namen seines Hauptorts, Choszczno, benannte Kreis bestand bis 1975 und wurde 1999, nach der Wiedereinführung von Kreisstrukturen (Powiaty), erneut gegründet. Seine aktuellen Grenzen decken sich in etwa mit den historischen Grenzen des Arnswalder Kreises.

Historische Orte
Brandenburg
  (
deu. Brandenburg, eng. Brandenburg
)
 in der Neumark. Der Kreis war Teil der preußischen Provinz Brandenburg gewesen, bis er 1938 im Zuge der Verwaltungsneugliederung an
Pommern
eng. Pomerania

Die preußische Provinz Pommern wurde 1815 infolge des Wiener Kongresses gegründet und dabei aus dem Gebiet des ehemaligen Herzogtums Pommern und Teilen der historischen Neumark gebildet. Die Provinz bestand insgesamt und in wechselnden Grenzen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. 1945 fielen die Hauptstadt Stettin, die Insel Wollin (Wolin), Teile Usedoms und der östlich der Oder gelegene Teil der Provinz (Hinterpommern) an die Volksrepublik Polen. Der westliche Teil der Provinz mit großen Teilen der historischen Landschaft Vorpommern gehört heute zur Bundesrepublik Deutschland.

 überging. Zu dieser Zeit zählte Reetz 3.646 Einwohner:innen.4 In der Stadt befand sich auch eine kleine jüdische Gemeinde, deren Synagoge und Friedhof während des Novemberpogroms 1938 zerstört wurden.5
Der deutsche Angriff auf Polen 1939 berührte die Ortschaft im Grenzgebiet zunächst nur indirekt. Das Personal des nördlich gelegenen Luftwaffen-Flugplatzes Gabbert suchte Reetz als nächstgelegene Kleinstadt auf und wohnte teilweise auch dort. Während des Krieges erlebte Reetz zudem einen Zuzug von Frauen und Kindern, die aus den luftkriegsbedrohten Städten in die ländlichen Regionen Ostdeutschlands evakuiert wurden. Im Januar 1945, als die sowjetische Großoffensive auf das Reichsgebiet begann, kamen westwärts ziehende Flüchtlinge aus den benachbarten Reichsgaue „
Wartheland
pol. Okręg Warcki, pol. Okręg Rzeszy Kraj Warty, deu. Warthegau, deu. Reichsgau Posen, eng. Reichsgau Wartheland

Der Reichsgau Wartheland, auch bekannt als Warthegau, war ein nationalsozialistischer Verwaltungsbezirk im besetzten Polen. Er wurde am 16. Oktober 1939 als Reichsgau Posen geschaffen, und am 29. Januar 1940 umbenannt. Der Reichsgau war in größeren Teilen deckungsgleich mit der historischen Landschaft Großpolen und hatte eine Bevölkerung von 4,5 Millionen Menschen. Hauptstadt war das heutige Poznań (dt. Posen). Am 23. Januar 1945 wurde er vollständig von der Roten Armee erobert.

Die fast sechsjährige Besatzungszeit war geprägt durch die brutale Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung einerseits und der gezielten Neuansiedlung deutschsprachiger Bevölkerungsteile andererseits.

Bild: „Karte der Verwaltungseinteilung der deutschen Ostgebiete und des Generalgouvernements der besetzten polnischen Gebiete nach dem Stand vom März 1940“, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Kartensammlung, Inv.-Nr. K 32 II L 43. bearbeitet von Copernico (2022). CC0 1.0.

“ und „
Danzig-Westpreußen
pol. Gdańsk-Prusy Zachodnie, eng. Danzig-West Prussia

Der Reichsgau Danzig-Westpreußen entstand am 26. Oktober 1939 als Reichsgau Westpreußen. Er umfasste den kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1.September 1939 gegründeten Militärbezirk Westpreußen, der die bis 1918 zum Deutschen Reich gehörenden Teile der polnischen Woiwodschaft Großpommerellen, die ehemalige Freie Stadt Danzig und den aus der Provinz Ostpreußen herausgelösten Regierungsbezirk Westpreußen umfasste. Am 2. November 1939 erfolgte die Umbenennung in Danzig-Westpreußen. Als Reichsgau wurde das Gebiet keiner bereits bestehenden Provinz, sondern direkt dem Deutschen Reich unterstellt. Die Eingliederung der besetzten polnischen Gebiete war allerdings völkerrechtswidrig und somit rechtsunwirksam. Ende 1939 wohnten im Gau Danzig-Westpreußen 2,287 Mio. Personen, nach zahlreichen (Zwangs-)Umsiedlungs- und Germanisierungsmaßnahmen stellten die Polen 1943 ca. zwei Drittel seiner Bevölkerung. Angesichts der Eroberungen durch die Rote Armee hörte der Reichsgau im Februar 1945 endgültig auf zu existieren.

“ hinzu, die als erstes von der sowjetischen Großoffensive betroffen waren. Kaum mehr als zwei Wochen später waren die Menschen in Reetz, bei denen es sich vor allem um Frauen, Kinder und ältere Personen handelte, selbst von Flucht und Krieg betroffen.

Kriegsschauplatz Neumark 1945

Am 12. Januar 1945 begann die Winteroffensive der Roten Armee. Im Mittelabschnitt der Ostfront, der Reetz betreffen sollte, starteten zwei Tage später die vor 
Warszawa
deu. Warschau, eng. Warsaw, deu. Warszowa, deu. Warszewa, yid. Varše, yid. וואַרשע, rus. Варшава, rus. Varšava, fra. Vaarsovie

Warschau ist die Hauptstadt Polens und zugleich die größte Stadt des Landes (Bevölkerungszahl 2024: 1.863.845). Sie liegt in der Woiwodschaft Masowien an Polens längstem Fluss, der Weichsel. Warschau wurde erstmals Ende des 16. Jahrhunderts Hauptstadt der polnisch-litauischen Adelsrepublik und löste damit Krakau ab, das zuvor polnische Hauptstadt gewesen war. Im Rahmen der Teilungen Polen-Litauens wurde Warschau mehrfach besetzt und schließlich für elf Jahre Teil der preußischen Provinz Südpreußen. Von 1807 bis 1815 war die Stadt Hauptstadt des Herzogtums Warschau, einem kurzlebigen napoleonischen Satellitenstaat; im Anschluss des Königreichs Polen unter russischer Oberherrschaft (dem sog. Kongresspolen). Erst mit Gründung der Zweiten Polnischen Republik nach Ende des Ersten Weltkriegs war Warschau wieder Hauptstadt eines unabhängigen polnischen Staates.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Warschau erst nach intensiven Kämpfen und einer mehrwöchigen Belagerung von der Wehrmacht erobert und besetzt. Schon dabei fand eine fünfstellige Zahl an Einwohnern den Tod und wurden Teile der nicht zuletzt für seine zahlreichen barocken Paläste und Parkanlagen bekannten Stadt bereits schwer beschädigt. Im Rahmen der anschließenden Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde mit dem Warschauer Ghetto das mit Abstand größte jüdische Ghetto unter deutscher Besatzung errichtet, das als Sammellager für mehrere hunderttausend Menschen aus Stadt, Umland und selbst dem besetzten Ausland diente und zugleich Ausgangspunkt für die Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager war.

Infolge des Aufstandes im Warschauer Ghetto ab dem 18. April 1943 und dessen Niederschlagung Anfang Mai 1943 wurde das Ghettogebiet systematisch zerstört und seine letzten Bewohner verschleppt und ermordet. Im Sommer 1944 folgte der zwei Monate dauernde Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung, in dessen Folge fast zweihunderttausend Polen ums Leben kamen und nach dessen Niederschlagung auch das restliche Stadtgebiet Warschaus von deutschen Einheiten weitgehend und planmäßig zerstört wurde.

In der Nachkriegszeit wurden zahlreiche historische Gebäude und Teile der Innenstadt, darunter das Warschauer Königsschloss und die Altstadt, wiederaufgebaut - ein Prozess, der bis heute andauert.

 zusammengezogenen sowjetischen Einheiten ihren Großangriff mit dem Ziel, nach Berlin vorzustoßen. Sie waren der Wehrmacht nicht nur personell und materiell überlegen, sondern hatten auch die klimatischen Verhältnisse auf ihrer Seite: Schneeverwehungen machten es leichter, die Wehranlagen des „Ostwalls“ zu überwinden. In kurzer Zeit brach die Rote Armee den Widerstand der wenigen deutschen Verbände und löste gewaltige Fluchtbewegungen aus. Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg war die deutsche Seite diesmal nicht bereit, beim Rückzug hinter die Reichsgrenzen, nunmehr die von 1939, zu kapitulieren. Vielmehr setzten die unter dem Kommando der Heeresgruppe „Weichsel“ stehenden Verbände im Februar im Kreis Arnswalde zur Gegenoffensive an. In Reetz kam es daraufhin zwei Mal zu Evakuierungsanordnungen und wochenlangen Gefechten. Der Grund war, dass für die Stadt nunmehr die Regelungen für „rückwärtige Gebiete“ griffen.
Der militärische Begriff „rückwärtige Gebiete“ bezog sich auf die Bereiche unmittelbar hinter der Frontlinie. Sie hatten die Funktion, die dortigen Einheiten zu versorgen sowie das Kampfgeschehen zu unterstützen. Entsprechend waren diese Gebiete zu räumen und zu „sichern“. Daran hielten die Sicherungseinheiten der Wehrmacht und der (Feld-)Polizei auch fest, als sich 1944/45 die Kampfhandlungen auf das Reichsgebiet verlagerten. Gemeinsam mit den Wachmannschaften räumten sie Gefängnisse und Zwangslager, gingen gegen Zivilist:innen vor, die sich für eine Beendigung des Krieges und die kampflose Übergabe ihrer Ortschaften einsetzten, und nahmen deutsche Soldaten fest, die nicht weiterkämpfen wollten. Zudem bedrohten sie Zwangsarbeiter:innen, die sich nicht an ihren Arbeitsplätzen aufhielten, mit dem Tod – ebenso solche, die sich Lebensmittel beschafften. Sie wurden der Plünderung beschuldigt. Gleichzeitig waren die Einheiten für die Regulierung der Flüchtlingstrecks zuständig, um dem deutschen Militär die Wege an die Front freizuhalten.
Seit Beginn der sowjetischen Winteroffensive boten die Landstraßen und Bahnhöfe der Neumark ein chaotisches Bild, wie die Zeilen der Anwohnerin Dora Münch zeigen:

Reetz, Ende Januar 1945. Die Stadt liegt unter einer dichten Schneedecke und es ist bitterkalt. Seit Tagen schon zeigt das Thermometer 18 – 20 Grad unter Null an. Ich friere erbärmlich auf meinem Weg in die Stadt. Tag für Tag immer dasselbe erschütternde Bild, endlose Trecks ziehen westwärts auf der Flucht vor dem Grauen des Krieges. Die Fahrzeuge hochbeladen mit Hausrat und Vorräten, im Stroh der Wagen alte Leute und Kleinkinder, unerbittlich der Kälte ausgesetzt. Der Marktplatz ist ein einziges Heerlager, vollgestopft mit Fahrzeugen, Vieh und Menschen. Ich bin erschüttert, eine sterbende Frau im nassen Stroh eines offenen Wagens sehen zu müssen. Daneben eine junge Frau, die ihr eben geborenes Kind in Decken und Kissen hüllt. Nur ein Gedanke beseelt mich, heraus aus diesem Chaos! Aber am Bahnhof draußen vor der Stadt verläßt mich die Hoffnung ganz. Seit Wochen rollen endlos lange Züge vorbei. Wie Trauben hängen die Menschen an den Güterwagen oder hocken mit Kinderwagen, Kisten und Koffern sogar auf den Dächern. Wie soll ich da mit einem Kind von anderthalb Jahren mitkommen?6

Einerseits bewegten sich deutsche Truppen sowie Züge mit militärischem Gerät und Munition ostwärts an die Front. Gleichzeitig zogen sich deutsche Verbände und Soldaten in entgegengesetzter Richtung zurück. Auch Gefängnis- oder Lagerinsass:innen entfernten sich in Fußmärschen von der Front. Wachmannschaften brachten sie in Gebiete, die als vor Kriegshandlungen sicher erachtet wurden.
Auf den Straßen war zudem die westwärts flüchtende Bevölkerung unterwegs. Die Evakuierung ziviler Einrichtungen und Personen aus den kriegsgefährdeten Gebieten war nicht rechtzeitig geplant worden. Erst als die Front auf circa 20 bis 30 Kilometer herangerückt war, erging der Räumungsbefehl. Er kam einer Aufforderung zur Flucht gleich. Sobald ein Gebiet von deutschen Einheiten aufgegeben worden war, zerstörten Pioniereinheiten der Wehrmacht Brücken sowie die Trinkwasser-, Gas- und Stromleitungen. Für die zurückbleibende Bevölkerung war dies verheerend.

Kriegsende in Reetz (Neumark) 1945

Obwohl am 28. und 29. Januar 1945 Räumungsbefehle für den Kreis Arnswalde ergangen waren, begab sich nur ein Teil der Reetzer Bevölkerung auf die Flucht, und das auch erst am 4. und 5. Februar. Die deutsche Propaganda und die Bunkeranlagen des „Ostwalls“ hatten dafür gesorgt, dass sich viele sicher fühlten und nicht bereit waren, ihren Heimatort zu verlassen. Man sorgte sich auch um das Schicksal des eigenen Hauses oder des Viehs. Hinzu kamen die winterlichen Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, sodass vor allem alte Menschen oder Mütter mit Kleinkindern einen Fußmarsch scheuten. Die Mehrzahl der Bevölkerung wartete folglich ab, als die Bürgermeister des Kreises Arnswalde die Erlaubnis zum Aufbruch erteilten und Evakuierungspläne mit dem Ziel 
Anklam
dan. Anclam, swe. Anclam, swe. Anklam, dan. Anklam, eng. Anklam, deu. Anclam, deu. Danglyn, deu. Tanclam, deu. Tanchlym, deu. Anclem, deu. Anclim, deu. Thanglim, deu. Tanchlim, deu. Tachlim, deu. Wendenburg, deu. Tanglim, lat. Anclamium

Die Hansestadt Anklam (Bevölkerungszahl 2023: 11.965) liegt im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern gegenüber der Insel Usedom, mit der sie eine Brücke verbindet. Sie wurde im 11. bzw. 12. Jahrhundert als Marktflecken gegründet, der unter dem slawischen Namen Tachlim bekannt war. 1264 wurde er als Stadt erwähnt. 1283 schloss sich Anklam der Hanse an. Ihren Wohlstand verdankte die Stadt vor allem dem Heringshandel. Ab dem 14. Jahrhundert ist in Anklam die Anwesenheit jüdischer Bevölkerungsteile bekannt, die im 19. Jahrhundert ca. 3% der Einwohnerschaft ausmachte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg fiel die Stadt an Schweden. Im Großen Nordischen Krieg (1700-1721) wurde die Stadt von den russischen Truppen zerstört und nach dem Krieg bis 1760 zwischen Schweden und Preußen geteilt. In den 1930er Jahren wurde die Rüstungsindustrie in der Stadt stark ausgebaut, insbesondere seit 1936 die Flugzeugindustrie, für die auch die Häftlinge des Anklamer Wehrmachtsgefängnis Zwangsarbeit leisteten. 1943-1945 wurde Anklam zunächst von den Alliierten – und nach der Eroberung durch die Sowjetische Armee – von der Deutschen Luftwaffe zerstört. 1945-1990 lag die Stadt in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR. Seit der Wiedervereinigung verlor Anklam knapp 40% der Bevölkerung.

 ausgaben – auch noch, als die Stromversorgung zusammenbrach und die Rote Armee vorrückte.
So war nur etwa ein Drittel der Bevölkerung geflohen, als sowjetische Einheiten die Stadt erreichten. Auslöser für den Aufbruch war letztlich gewesen, dass die Rote Armee am 4. Februar die nahe Kreisstadt Arnswalde beschoss. Einheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS, die erst Tage zuvor eingetroffen waren, zogen sich über Reetz nach 
Stargard
pol. Stargard Szczeciński, deu. Stargard in Pommern

Stargard ist eine Stadt im äußersten Nordwesten Polens, rund 30 Kilometer östlich von Stettin (Einwohnerzahl Ende Juni 2024: 66.272). Bis heute und ungeachtet erheblicher Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg existieren noch zahlreiche (teils wiederaufgebaute) mittelalterliche und frühneuzeitliche Gebäude der historisch bedeutenden Hansestadt, darunter auch Teile der Stadtbefestigung und historische Bürgerhäuser. Stargard liegt in der historischen Landschaft Hinterpommern, fiel 1648 an Brandenburg-Preußen und entwickelte sich insbesondere im späten 19. Jahrhundert und infolge des Eisenbahnbaus zu einem regional bedeutenden Industriestandort. 1945 kam Stargard wie das gesamte Hinterpommern zur 1944 neu gegründeten Volksrepublik Polen.

 zurück. Teile der Bevölkerung folgten. Die Flüchtlingstrecks, denen eine Kolonne sowjetischer Gefangener aus dem Kriegsgefangenenlager in Arnswalde vorausging, kündigten die nahende Front an. Wachmannschaften und zur Unterstützung eingesetzte Volkssturmangehörige trieben den Gefangenenzug in Richtung Stargard, von wo die Männer in ein Kriegsgefangenenlager in Waren (Müritz) deportiert werden sollten.
Gefangene wurden als Erstes abtransportiert, damit sie sich nicht erheben oder in Gefechtssituationen, in die die Gefangenentransporte im Januar und Februar 1945 gerieten, eingreifen konnten.7 Dass Kriegsgefangene befreit und von der Roten Armee zum erneuten Kriegseinsatz gebracht wurden,8 sollte um jeden Preis vermieden werden.
Die Bevölkerung teilte sich die Fluchtwege somit mit zurückgehenden Wehrmachtseinheiten und westwärts ziehenden Gefangenentrecks. Die fliehenden Reetzer:innen reihten sich dabei hinter die Kolonne der Kriegsgefangenen ein. Sie versperrten diesen damit die Wege, auf denen sie zu sowjetischen Einheiten hätten fliehen können. Gemeinsam zogen sie in Richtung Oder.
Werner Carows Fotografien geben die katastrophale Stimmung einer sich unter harten klimatischen Bedingungen auf die Flucht begebenden Stadtbevölkerung wieder. Bei Kälte und Schneefall wurden die wenigen vorhandenen LKWs und Pferdewagen mithilfe von Wehrmachts- und Volkssturmangehörigen bereit gemacht. Züge für die Evakuierung der Neumark standen nur in geringer Zahl bereit, kamen in Reetz aber zum Einsatz. Der Fluss Ina war gefroren, sodass ein Abtransport über Wasser nicht möglich war. Mit wenig Hab und Gut sowie kaum Schutz vor der Witterung floh ein Teil der Bevölkerung in Trecks mit den Flüchtlingen, die Tage zuvor in Reetz eingetroffen waren.
Am 6. Februar griffen sowjetische Einheiten Reetz an. In der Nacht zum 7. Februar rückten Stoßtrupps in die Stadt ein. Die Besetzung der Ortschaft war von erbitterten Kämpfen begleitet. Auf den Einmarsch folgte die Entwaffnung des Volkssturms. Sowjetische Soldaten requirierten Pferde und Motorräder, belegten und plünderten Häuser oder setzten diese in Brand. Frauen und Mädchen erlitten Vergewaltigungen. Todeslisten, die Anwohnerinnen führten, belegen die große Anzahl ziviler Todesopfer in Reetz. Sie fielen während der sowjetischen Besatzung noch bis in den April Erschießungen und Krankheiten zum Opfer oder begingen Suizid. Unmittelbar nach dem Einmarsch setzte zudem die Verschleppung deutscher Männer und Frauen zur Zwangsarbeit in der 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, deu. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз, . Совет Ушем, . Советонь Соткс, rus. Sovetskij Soûz, . Советий Союз, yid. ראַטן־פֿאַרבאַנד, yid. סאוועטן פארבאנד, yid. sovətn farband, yid. sovʿtn-farband, yid. sovətn-farband, . Советтер Союзу, . Совет Союзы, deu. Советий Союз, . Советон Цæдис, . Совет Эвилели

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.

Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.

 ein. Hiervon betroffen waren vor allem Personen, denen eine Parteimitgliedschaft nachgewiesen werden konnte. Ein Verdacht reichte bereits aus. Andererseits erlebten in der Region eingesetzte französische Zwangsarbeiter, die nicht mehr westwärts getrieben worden waren oder sich versteckt hatten, die sowjetische Ankunft als Befreiung.
Da die Kämpfe um Reetz andauerten, weil deutsche Truppen hier zum Gegenangriff übergingen, evakuierte die Rote Armee die Bevölkerung aus dem Gefechtsgebiet. Schätzungsweise 1.500 Personen, die nicht geflohen waren, mussten die Stadt am 12. Februar verlassen – „gegen Abend ging die Völkerwanderung los“, wie eine Beobachterin schrieb.9 Sie kamen in weiter entlegenen Ortschaften unter und mussten ihre Unterkunft mitunter mehrfach wechseln, bevor sie nach drei Wochen zurückkehren konnten.
Anschließend betätigte sich die Bevölkerung in Reetz bei Aufräumarbeiten, beim Rückbau von Maschinen, die in die Sowjetunion abtransportiert wurden, in der medizinischen Versorgung oder der Landwirtschaft. In den folgenden Wochen und Monaten kehrten Flüchtlinge, die nach Mecklenburg gelangt waren, zurück und mussten sich eine neue Bleibe sowie über die sowjetische Ortskommandantur auch Arbeit suchen – schätzungsweise 80 Prozent der Reetzer Wohnhäuser waren nach dem Ende der Kampfhandlungen zerstört. Nach wie vor fanden Deportationen statt, Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Nachdem das Gebiet östlich der Oder formal unter polnische Verwaltung gestellt worden war, setzte im Juli die Vertreibung der deutschen Bevölkerung ein. Auf dem Reetzer Marktplatz versammelt und unter polnische Bewachung gestellt, liefen die von Hunger gekennzeichneten Menschen dem wenigen, was ihnen noch verblieben war, in langen Fußmärschen zur Oder in eine ungewisse Zukunft.

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