Historisch betrachtet war Sexualkunde vor allem ein Fach, das wichtiges Grundwissen über die menschliche Fortpflanzung und Gesundheit vermittelte. Indirekte und direkte Äußerungen zu Geschlechterrollen zeigen uns jedoch auch immer das Gesellschaftsbild, in dessen Sinne eine junge Generation erzogen werden sollte und soll.
Sexualkunde – Zwischen individueller Entfaltung und staatlicher Einflussnahme
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Beginnen wir diesen Text mit einer Frage an die Leser:innenschaft: Aus welchem Jahrhundert stammt das folgende Zitat?
Der männliche Körper ist im Vergleich zum weiblichen muskulöser, stärker, härter. Es ist, als hätte ein Bildhauer mit Axt und Meißel die Form eines Mannes aus einer mächtigen Eiche herausgemeißelt. Es ist ein Körper, der rau und kantig ist, aber robust und stark. Ganz anders als der weibliche Körper – glatt, wohlgeformt, wie aus Frühlingsblumen geflochten. Er erfreut und zieht an durch seine Andersartigkeit und Schönheit. Dies ist die Ordnung der Welt.1
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Bedenkt man die poetische Bildsprache und das sehr vereinfachte Geschlechterbild vermutet man wahrscheinlich nicht, dass es sich hierbei um ein Zitat aus einem Ratgeber für männliche Jugendliche aus dem Jahr 2019 handelt. Tatsächlich stammt es aus einer Reihe des polnischen Verlages Rubikon, der auch die Unterrichtsmaterialien für das Fach Wychowanie do życia w rodzinie (dt. Erziehung für das Familienleben) zentral herausgibt. Sexualerziehung als Schulfach bot schon immer viel Angriffsfläche für politische und weltanschauliche Auseinandersetzungen. Als wichtiger Teil der Bildung vermag Sexualkunde es, den Heranwachsenden Wissen und Denkanstöße zu vermitteln, um informierte Entscheidungen über den eigenen Körper zu treffen. Historisch betrachtet hatte Sexualkunde aber vor allem die Aufgabe, die Zahl sexuell übertragbarer Krankheiten zu senken und eine erfolgreiche Familiengründung zu unterstützen. Auch staatliche Interessen werden hierdurch umgesetzt: Die Lenkung des demographischen Wachstums als Garant für den Erhalt der Nation spielte im Falle von Polen, das als souveräner Staat 123 Jahre lang von der Landkarte verschwunden war, eine besondere Rolle. Dieser Text ist ein Streifzug durch die Schul- und Ratgeberliteratur der letzten 200 Jahre und beleuchtet die Verstrickungen von sexueller Bildung und politischen Interessen.
Die Anfänge polnischer Ratgeberliteratur. Weiblicher Gehorsam vs. Männlicher Trieb
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Bereits während der
Teilungen Polen-Litauens
Teilungen Polen-Litauens
auch:
Teilung des Doppelstaates Polen-Litauen, Teilungen Polens
Im Zuge dreier Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795 wurde die Adelsrepublik Polen-Litauen zwischen dem Russländischen Reich, Preußen und der Habsburgermonarchie aufgeteilt und verschwand bis 1918 als souveräner Staat von der politischen Landkarte Europas.
begannen auf polnischem Boden die Forschungen zur so genannten Geschlechtswissenschaft (polnisch płciownictwo, von płeć Geschlecht). Der Fokus lag auf dem ehelichen Sexualleben, in das Männer und Frauen meist völlig unvorbereitet gingen.2 Bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert lagen auf Polnisch Schriften vor, die als Ratgeber zur ehelichen Hygiene deklariert waren und, die sich vor allem an junge Erwachsene aus wohlhabenderen Schichten richteten. Mit erhobenem Zeigefinger erklärten vorwiegend männliche Autoren (meist Geistliche oder Ärzte) die Rolle der Geschlechter und schrieben ihnen bestimmte Tugenden zu. In seinem Ratgeber von 1817 schreibt etwa Ignacy Czerwiński, dass die Macht in Männerhände gehöre, während Frauen zu Gehorsamkeit erzogen werden sollten.3 Sexualität sollte einzig dem Ziel der Fortpflanzung dienen, wobei in allen Ratgebern durchaus Eingeständnisse zu Gunsten der männlichen Sexualität gemacht wurden: So sei sexuelle Abstinenz gerade für junge Männer schädlich,4 was Seitensprünge zwar nicht guthieß, aber doch bis zu einem gewissen Maß legitimierte und die Vorstellung einer grundsätzlich hohen männlichen Libido beförderte. Demgegenüber stand die Idee, dass die weibliche Sexualität die beziehungsbezogenere war. Weibliches Begehren wurde somit ausschließlich im Rahmen des Kinderkriegens gutgeheißen, eine Doppelmoral, gegen die die aufstrebende Feminismus- und Frauenrechtsbewegung ankämpfte.
Dies ist der erste gedruckte Ratgeber in polnischer Sprache „Die Art und Weise eines glücklichen Lebens zwischen Mann und Frau, oder Wesentliche Tugenden, die sie zu diesem Ziel führen sollen“. polona.pl,
CC0 1.0
Dies ist der erste gedruckte Ratgeber in polnischer Sprache „Die Art und Weise eines glücklichen Lebens zwischen Mann und Frau, oder Wesentliche Tugenden, die sie zu diesem Ziel führen sollen“. polona.pl,
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Wir wollen das ganze Leben! Neue Perspektiven auf die weibliche Sexualität
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Die vor allem als Autorin bekannte
Zofia Nalkowska
Zofia Nalkowska
Zofia Nalkowska (1884–1954) war Schriftstellerin, Literaturkritikerin und zu Beginn ihrer Karriere vor allem als feministische Aktivistin bekannt geworden.
formulierte dies auf dem Polnischen Frauenkongress 1905: „Die größere Reinheit der Frauen gegenüber den Männern ist nicht das Ergebnis unserer moralischen Überlegenheit, sondern das Produkt der Anpassung an die Bedingungen der Knechtschaft – und darauf können wir nicht stolz sein.“5 Ihren Vortrag beendete sie mit der Parole „Chcemy całego życia“ (Wir wollen das ganze Leben), die heute als Losung der frühen polnischen Feministinnen gilt. Parallel dazu begannen auch männliche Forscher die moralische Schieflage zu kritisieren. Die pädagogische Fachzeitschrift Nowe Tory verweist auf den Zusammenhang des engen moralischen Korsetts für die weibliche Emanzipation: So lange Mädchen im Geist der Passivität erzogen würden und man ihnen antrainiere, ihre angeborenen Bedürfnisse zu unterdrücken, sei keine echte Gleichberechtigung der Geschlechter in anderen Lebensbereichen möglich.6 Ähnliche Töne schlägt auch der Warschauer Biologieprofessor Wacław Jezierski an, der 1904 den ersten Unterricht für männliche Schüler erteilt. Zeitgenössische Studien und Befragungen von Jugendlichen zeigten, wie wichtig es war, das Thema Sexualität nicht auf die Ehe zu reduzieren: Junge Männer erlebten ihr erstes Mal häufig bei Prostituierten, wodurch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten gefördert wurde.7 Männer wurden daher ermahnt, ihren Trieb nur im Rahmen der Ehe auszuleben. Die Überzeugung, Männer und Frauen hätten naturgegeben unterschiedliche sexuelle Temperamente, blieb jedoch erhalten.
Cover Czystość: Titelblatt der Zeitschrift “Reinheit” (Nr 5/1906) mit einem Text zum Sexualleben von Jugendlichen. polona.pl,
Rechte vorbehalten - freier Zugang
Cover Czystość: Titelblatt der Zeitschrift “Reinheit” (Nr 5/1906) mit einem Text zum Sexualleben von Jugendlichen. polona.pl,
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Sexuelle Liberalisierung und ein Staat vor bevölkerungspolitischen Herausforderungen
Cover Amorek: Nr 11/1924. Unterhaltungszeitschrift aus dem Jahr 1924, die Satire und Erotik kombinierte. Sie erschien wöchentlich. polona.pl,
CC0 1.0
Cover Amorek: Nr 11/1924. Unterhaltungszeitschrift aus dem Jahr 1924, die Satire und Erotik kombinierte. Sie erschien wöchentlich. polona.pl,
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Mit der Unabhängigkeit Polens 1918 wurde auch eine neue Ära des Diskurses über Sexualität eingeläutet. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts liberalisierten sich moralische Normen, was zu einer deutlichen Öffnung des Diskurses über die menschliche Sexualität führte, die allmählich nicht nur in Bezug auf den reinen Reproduktionszweck erörtert wurde. Forderungen nach Gleichberechtigung und eine freiere Ausgestaltung der Paarbeziehungen förderten auch die Diskussionen um die Planbarkeit von Schwangerschaften – ein Aspekt, der in Ratgebern der Zwischenkriegszeit vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklungen besonders ins Zentrum rückte:8 Anders als das übrige Europa verzeichnete Polen ein starkes Bevölkerungswachstum: In der Zwischenkriegszeit wuchs die Bevölkerung von 27 Millionen auf 34 Millionen.9 Die junge Republik hatte parallel mit massiven sozialen Folgen der Teilungszeit, Kriegsopfern und Zerstörungen der Infrastruktur zu kämpfen. Darüber hinaus waren Arbeitslosigkeit und Krankheiten in der Zwischenkriegszeit ein wichtiges Thema, das sich mit der Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre noch verschärfte. Die unsichere Nachkriegsatmosphäre förderte die bildhafte Idealvorstellung eines widerstandsfähigen nationalen Körpers, in dessen Mittelpunkt die polnische christliche Familie stand. Während katholische Zeitschriften vor allem zur Abstinenz aufriefen, beschrieben progressive Ratgeber Sex- oder Eheverbote als unmenschlich und nahmen vor allem Männer in die Pflicht, Verhütung nicht der Frau zu überlassen, zumal Abtreibungen – obwohl ab 1932 unter bestimmtem Umständen straffrei – sozial geächtet waren: Die katholische Kirche lehnte Abtreibungen aus moralischen Gründen ab; zugleich nutzte sie das Thema jedoch für Verleumdungskampagnen gegen jüdische Ärzt:innen und Hebammen, denen sie vorwarf, sich an illegalen Schwangerschaftsabbrüchen zu bereichern.
Ein armes Mädchen zur Mutter zu machen, ihr die Arbeit zu entziehen, weil sie die Mutterschaft erwartet, sie mit Verachtung zu treten, ihr die ganze Last ihres Irrtums und dessen Folgen aufzubürden und ihr mit jahrelanger Haft zu drohen, wenn sie sich in einem Anfall von Verzweiflung von dieser für ihre Kräfte zu schweren Last befreien will – das ist die Philosophie der Gesetze, die, wie man nur zu gut weiß, von Männern geschrieben wurden!10
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Dieser Satz stammt von
Tadeusz Boy-Żeleński
Tadeusz Boy-Żeleński
Tadeusz Boy-Żeleński (1864–1941) war ein polnischer Dichter und Literaturkritiker, in der Zwischenkriegszeit v.a. wegen seines Einsatzes für die bewusste Familienplanung und weibliche Emanzipation bekannt.
und zeigt das wachsende Bewusstsein für die überlegenen Stellung der Männer und der Ungleichheiten im Zusammenhang mit Geschlecht und Macht. Boy-Żeleński wusste, wie Fragen der sozialen Unsicherheit, ungewollter Schwangerschaft und Ausgrenzung miteinander verwoben waren. Er und
Irena Krzywicka
Irena Krzywicka
Irena Krzywicka (1899–1994) war eine polnische Feministin und Aktivistin, Übersetzerin und Autorin. Popularisierte Verhütungsmethoden und den Begriff der Bewussten Mutterschaft.
prägten den Begriff der „Bewussten Mutterschaft“ und richteten unter anderem Beratungsstellen in Großstädten ein.
Ein Ratgeber zur Bewussten Mutterschaft und Schwangerschaftsverhütung aus der Zwischenkriegszeit. Polskie Towarzystwo Popierania Nauk Farmaceutycznych Lechicja: Świadome macierzyństwo i środki zapobiegania ciąży, 1935. polona.pl,
CC0 1.0
Ein Ratgeber zur Bewussten Mutterschaft und Schwangerschaftsverhütung aus der Zwischenkriegszeit. Polskie Towarzystwo Popierania Nauk Farmaceutycznych Lechicja: Świadome macierzyństwo i środki zapobiegania ciąży, 1935. polona.pl,
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Irena Krzywicka. Portrait von 1914. polona.pl,
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Irena Krzywicka. Portrait von 1914. polona.pl,
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Sex im Sozialismus
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Parallel zu den sozialen Bewegungen existierte natürlich auch immer ein starker kirchlicher Standpunkt. Dieser Dualismus wirkte auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Nach dem Ende der Stalinistischen Periode 1948, in der Sexualität ein Tabuthema darstellte, etablierten sich zwei einander gegenüberstehende Systeme11: Während Geistliche vor allem in der Eheberatung und in Ehevorbereitungskursen die katholische Lehre weitergaben, gab es von staatlicher Seite ab 1957 erste Schritte in Richtung systematische Aufklärung. Dem ging eine wichtige Gesetzesänderung voraus: 1956 wurde das polnische Abtreibungsgesetz dahingehend liberalisiert, dass eine Abtreibung auch aus sozialen Gründen durchgeführt werden konnte, was de facto den Eingriff auf Wunsch möglich machte. Die schulischen Unterrichtsmaterialien der frühen Phase stellten eine erfüllte Sexualität als Teil der persönlichen Lebensqualität dar, während die Materialien aus den 1970ern den Schwerpunkt wieder deutlich auf die Elternschaft legten und Sexualität wieder eng mit emotionaler Bindung und (heterosexueller) Partnerschaft verknüpften (Homosexualität wurde in der Volksrepublik als deviant betrachtet).12 Ein systematisches Konzept für den Sexualkundeunterricht wurde erst 1973 geschaffen. Das Fach nannte sich Vorbereitungsunterricht für das Leben in der sozialistischen Familie. Wie der Titel bereits suggeriert, ist auch hier die individuelle Sexualität einem höheren Ziel, nämlich der Gründung einer Familie als Kernelement der Nation untergeordnet. In diesem ungebrochen starken Narrativ steckte wohl auch die politische Sorge um eine negative Bevölkerungsentwicklung.13 Es ist jedoch davon auszugehen, dass jenseits der Schulbank eine noch interessantere Lektüre zur sexuellen Bildung vieler junger Pol:innen beigetragen hat: Das Werk der Gynäkologin
Michalina Wisłocka
Michalina Wisłocka
Michalina Wisłocka (1921–2005) war eine polnische Gynäkologin und Sexualforscherin. Sie war 1957 Mitbegründerin der Polnischen Gesellschaft für Familienentwicklung.
, Sztuka Kochania (Die Kunst des Liebens), avancierte 1978 zum Bestseller – und das nicht ohne Grund. Schließlich bot das Buch nicht nur eine reich bebilderte Anleitung zu den unterschiedlichsten Stellungen, sondern gab auch zu psychosozialen Aspekten des Liebeslebens Auskunft.
Demoralisierung der Jugend vs. Erfüllung von Familienrollen
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Bis 1987 war das Fach jedoch kein verpflichtender Bestandteil des Lehrplans. Themen wie Masturbation wurden ab 1985 nur zögerlich in die Lehrinhalte integriert und unter dem Kapitel „Ersatzformen des Sexuallebens“ behandelt. Ab Mitte der 1980er Jahre wurden jedoch Sprache und Inhalte zunehmend expliziter, was in einen regelrechten Skandal mündete: Das Schulbuch Vorbereitung für das Familienleben der Autor:innen Wiesław Sokoluk, Dagmara Andziak und Maria Trawińska wurde nach nur zwei Monaten vom Lehrplan genommen, da es Skizzen zu Sexstellungen beinhaltete und den Aspekt des Lustgewinnsthematisierte.14 In den 1990ern erlebten Schüler:innen ein methodologisches und weltanschauliches Potpourri im Unterricht, das auch den gesellschaftlichen Widersprüchen jener Zeit geschuldet war: Während die Autoren von Moderne Sexualerziehung (1996) – verfasst unter anderem von Polens führendem Sexualwissenschaftler
Zbigniew Lew-Starowicz
Zbigniew Lew-Starowicz
Zbigniew Lew-Starowicz (1943–2024) war ein polnischer Arzt und Psychoterapeut, Vorsitzender der polnischen Gesellschaft für Sexualwissenschaft
– auf der Straße beschimpft wurden, die polnische Familie zerstört zuhaben,15 fokussierte das Schulfach Wissen über das Sexualleben nur die gesundheitlichen und körperlichen Aspekte. Letztendlich dominieren bis heute aber Schulbücher und Ratgeber für Jugendliche, die ein sehr einseitiges Bild von Sexualität verbreiten, das konservativer Politik in die Hände spielt.
Wanderung ins Erwachsenenleben… Wohin genau?
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Seit Ende der 1990er Jahre sind es vor allem die Bücher der Reihe Wędrując ku dorosłości (dt. Wanderung ins Erwachsenenleben), die Schüler:innen ab der 4. Klasse aufklären sollen. Die gegenwärtige polnische Sexualaufklärung entspricht einer auf Abstinenz ausgerichteten Sexualerziehung,16 die seit 1999 Schüler:innen darauf vorbereitet, „Entscheidungen im Leben zu treffen und ihre Rolle in der Familie verantwortungsvoll wahrzunehmen.“17 Unter der nationalkonservativen
PiS-Partei
PiS-Partei
Prawo i sprawiedliwość, dt. Recht und Gerechtigkeit. National-, bzw. klerikalkonservative Partei.
, die das Land von 2005–2007 sowie von 2015–2023 regierte, wurde ein traditionelles Rollen- und Familienbild wieder populär und sexuelle Präferenzen jenseits von Heterosexualität als unerwünschte Abweichung von der Norm betrachtet. Erst in Kapitel 6 der Ausgabe für Viertklässler:innen werden die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern beschrieben, die Notwendigkeit eines geschlechtsspezifischen Verhaltens als etwas Angeborenes erklärt und durch Übungen unterstrichen, bei denen die Schüler „typische“ Verhaltensweisen, Kleidung, Interessen und Aussehen zuordnenmüssen.18 Das Kapitel zur Fortpflanzung („Übertragung des Lebens“) ist direkt gekoppelt mit der Erinnerung an die „ernsten Lebensrollen: Mutterschaft und Vaterschaft“, die die Voraussetzungen für eine so genannte „vollständige Familie“ seien, die aus „Mann, Frau und Kind“ bestünde. Somit definiert diese Schulbuchreihe deutlich, wer zur polnischen Gesellschaft gehört und schließt Alleinerziehende oder die LGBTQ Community aus. Was in den Darstellungen auch fehlt, ist der Prozess der Zeugung selbst, der Geschlechtsverkehr. Die Verbindungen zwischen der katholischen Sichtweise und den offiziellen Schulmaterialien werden hier sehr deutlich: Religiöse Sexualberatung setzt Entsexualisierung und Verschleierung von Sexualität als Hauptstrategien ihrer sogenannten negativen Sexualerziehung ein.19 Typisch sind die Ablenkung von sexueller Aktivität und die Betonung möglicher gesundheitlicher Risken, was sich auch in den Büchern widerspiegelt. Diese negative Erziehung zielt auf körperliche Kontrolle ab, die zu gesellschaftlicher Kontrolle führt. In Polen gibt es eine große Gegenbewegung zu solch restriktiven und binären Ansichten, Nichtregierungsorganisationen wie
Ponton
Ponton
Grupa Ponton ist ein Verbund von Trainer:innen, die mit der polnischen Stiftung für Frauen und Familienplanung zusammenarbeiten. Sie bieten Trainings für junge Menschen an und informieren über Publikationen und Social Media, gegründet 2002 in Warschau.
bieten auch in Schulen zusätzliche Trainings an. Diesen außercurricularen Veranstaltungen sollte 2021 ein (im Nachhinein abgelehntes) Gesetz des damaligen Bildungsministers
Przemysław Czarnek
Przemysław Czarnek
Przemysław Czarnek (1977–) ist ein polnischer PiS-Politiker, 2020-2023 Minister für Bildung und Wissenschaft.
den Riegel vorschieben. Er sorgte im selben Jahr auch mit der Aussage für Aufruhr, dass „weibliche Tugenden“ besonders wichtig für die Wertevermittlung in einer Gesellschaft seien.20
Parada Rowności, die Gleichheitsparade, im Juni 2022. Sie findet seit 2003 statt und wurde in den 2000er Jahren unter der PiS-Regierung auf städischer Ebene mehrmals verboten. Elisa-Maria Hiemer /
CC BY-NC-SA 4.0
Parada Rowności, die Gleichheitsparade, im Juni 2022. Sie findet seit 2003 statt und wurde in den 2000er Jahren unter der PiS-Regierung auf städischer Ebene mehrmals verboten. Elisa-Maria Hiemer /
CC BY-NC-SA 4.0
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Die Beispiele aus der Ratgeber- und Schulbuchliteratur zeigen Frauen als Moralinstanz der Gesellschaft, gleichzeitig auch als fürsorgebedürftig und passiv, während den Männern die Entscheidungsmacht zugeschrieben wird. Sexualerziehung war, ist und bleibt somit auch ein Kompass für die Akzeptanz einer Gesellschaft für ein pluralistisches, feministisches Weltbild. Unter dem Kabinett von Donald Tusk wurden im April 2024 tiefgreifende Veränderungen angekündigt: Ab dem Schuljahr 2025/26 wird Erziehung für das Familienleben durch das Fach Gesundheitslehre ersetzt, in dem es auch um mentale Gesundheit, Drogenprävention und eben auch um Sexualkunde gehen soll. Die amtierende Erziehungsministerin
Beata Nowacka
Beata Nowacka
Beata Nowacka (1975) ist seit 2023 polnische Bildungsministerin, Frauenrechterlin und Gründerin der linkliberalen Partei Twój Ruch.
verspricht einen ganzheitlichen Ansatz.21 Die Frage, ob das Fach verpflichtend wird, ist noch nicht geklärt. Mit Spannung wird nun die inhaltliche Ausgestaltung des Curriculums erwartet.
Mądry, Marcin: Pokonaj żywioł, Kraków 2019, S. 19.
2.
Sikorska-Kulesza, Jolanta: Skąd się wziął twój braciszek? Początki dyskusji o wychowaniu seksualnym dzieci i młodzieży na ziemiach polskich, in: Anna Żarnowska (Hg.): Kobieta i małżeństwo: społeczno-kulturowe aspekty seksualności, wiek XIX i XX. Warszawa 2004, S. 30.
3.
Czerwiński, Ignacy Lubicz: Sposób szczęsliwego pożycia między mężem i żoną czyli Cnoty istotne, które ich do tego celu doprowadzać powinny, Przemyśł 1817, S. 48.
4.
Bołdyrew, Aneta: The Discourse on Sexual Education in the Social, Health and Educational Press of the Kingdom of Poland at the Beginning of the 20th Century, in: Iwonna Michalska und Grzegorz Michalski (Hg.): Addenda do dziejów oświaty. Z badań nad prasą XIX i początków XX wieku. Łódź 2014, S. 102.
5.
Nałkowska, Zofia: Uwagi o etycznych zadaniach ruchu kobiecego. Przemówienie wygłoszone na Zjeździe Kobiet, in: Krytyka. Miesięcznik poświęcony sprawom społecznym, nauce i sztuce 2 (1907), S. 361.
6.
Miklaszewski, Walenty: Odezwa do młodzieży dojrzałej’, Nowe Tory 10 (1906): 953–77.
7.
Kościańska, Agnieszka: To See a Moose. The History of Polish sex education. New York, Oxford 2021.
8.
Hiemer, Elisa-Maria: „Sexualität erzählen. Körperlichkeit in polnischen Eheratgebern vom 19. Jahrhundert bis 1939“ in: Magdalena Baran-Szołtys, Ingeborg Jandl (Hg.): Transformationen in slawischen Literaturen und Kulturen, Wien/Köln: Böhlau, forthcoming.
9.
Dyboski, Roman: Economic and Social Problems of Poland, in: International Affairs 16/4 (1937), S. 587.
10.
Tadeusz Boy-Żeleński, Piekło kobiet, Warszawa 1930, S. 2 https://wolnelektury.pl/media/book/pdf/pieklo-kobiet.pdf
11.
Kuźma-Markowska, Sylwia und Ignaciuk, Agata: Family Planning Advice in State-Socialist Poland, 1950s-80s: Local and Transnational Exchanges. In: Medical history 64(2) 2020, S. 240–266. DOI: 10.1017/mdh.2020.5.
12.
Lišková, Kateřina; Jarska, Natalia; Szegedi, Gábor (2020): Sexuality and gender in school-based sex education in Czechoslovakia, Hungary and Poland in the 1970s and 1980s. In: The History of the Family 25(4) 2020, S. 5.
13.
Lišková, Kateřina; Jarska, Natalia; Szegedi, Gábor (2020): Sexuality and gender in school-based sex education in Czechoslovakia, Hungary and Poland in the 1970s and 1980s. In: The History of the Family 25(4) 2020, S. 5.
14.
Kościańska, Agnieszka: To See a Moose. The History of Polish sex education. New York, Oxford 2021, S. 2.
15.
Kościańska, Agnieszka: To See a Moose. The History of Polish sex education. New York, Oxford 2021, S. 5.
16.
Dora, Marta: Lepiej nie mówić. O edukacji seksualnej w Polsce. In Przegląd Pedagogiczny (2) 2013, S. 102.
17.
www.wdz.edu.pl/o-wdz/ Fachportal für Lehrer:innen und Eltern
18.
Król, Teresa: Wedrujac ku dorosclosci, Szkola podstawowa, Klasa 4, Kraków 2017, S. 29.
19.
Koch, Friedrich (1971): Negative und positive Sexualerziehung. Eine Analyse katholischer, evangelischer und überkonfessioneller Aufklärungsschriften. Heidelberg 1971, 88-10.
20.
Cnoty niewieście. Czarnek: Ministerstwo Edukacji nic o tym nie mówiło’. https://www.rp.pl/polityka/art16533941-cnoty-niewiescie-czarnek-ministerstwo-edukacji-nic-o-tym-nie-mowilo (letzter Zugriff 22.05.2024).
Elisa-Maria Hiemer (2024-12-11): Von „weiblichen Tugenden“ und „unzähmbarer Männlichkeit“. Sexualkunde für polnische Jugendliche damals und heute. In: Copernico. Geschichte und kulturelles Erbe im östlichen Europa. URL: https://www.copernico.eu/de/link/6732193b1cf426.00520718 (18-01-2025)
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