Eine schlichte Kommode, die aus dem Steinorter Gutshaus stammt, vermutlich aus einer Gesindekammer. 1945 war sie noch ziemlich neu, Kiefernholz, ohne weißen Anstrich. Vor zehn Jahren schenkte ein alter Herr sie dem Museum für Volkskunde in Węgorzewo, früher Angerburg, zusammen mit anderen Dingen, die er nach Kriegsende aus dem Schloss mitgenommen hatte.
Vom Verschwinden, Bewahren und Verstehen
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Das Möbelstück mit der Inventarnummer MKL/E 5056 ist heute eine Rarität, die meisten Dinge aus dem Schloss sind verloren gegangen. Wie und wann, darüber können wir nur Mutmaßungen anstellen. Wahrscheinlich stand die Kommode in einer Gesindekammer. Vielleicht auch in einem der gräflichen Kinderzimmer, auf einem Foto ist ein ähnlich schlichtes Stück zu sehen.
 
Weihnachten 1944 dürfte die Kommode noch Teil eines bewohnten Zimmers gewesen sein. Die meisten Bediensteten waren nach der Verhaftung Heinrichs von Lehndorffs, am 22. Juli des Jahres, und der Vertreibung der Grafenfamilie dageblieben.
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Mitte Januar 1945 flohen die Bewohner des Gutes und der Vorwerke Hals über Kopf, bei eisiger Kälte, und sie ließen fast alles zurück. Kurz darauf war die Rote Armee in
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

. Soldaten plünderten, wüteten im Siegesrausch. Das Lehndorffsche Herrenhaus wurde Sitz der sowjetischen Kommandantur – bis Anfang 1947.
 
Es war einer der Standorte in Ostpreußen, die als militärische Basis dienten, um die aus Berlin zurückkehrenden Truppen zu versorgen, und um „Trophäen“ zu sammeln. Reparationsgüter verschiedenster Art: Rindvieh, Maschinen, Kulturgüter, darunter das noch vorhandene kostbare Mobiliar aus dem Steinorter Schloss. Alles wurde am Bahnhof Groß Steinort verladen und nach Russland transportiert.
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Eine bescheidene Kommode war keine lohnende Beute. Es spricht einiges dafür, dass sie erst nach Abzug der Siegermacht einen neuen Besitzer fand, im Jahr 1947, als die Polen das Schloss übernahmen und dort ein volkseigenes Gut einrichteten Państwowe gospodarstwo rolne, kurz PGR.
 
Masuren füllte sich mit Neusiedlern aus dem Osten, die nichts hatten und alles brauchten: Möbel, Geschirr, Kleidung, Werkzeug und Baumaterial, Feindesgut jeder Art, jetzt herrenlos. Recht und Ordnung unter kommunistischer Führung setzten sich nur allmählich durch. Womöglich hatte der junge Milizionär, der die Kommode mit nach Hause nahm, gewisse Privilegien?
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„Vielleicht hatte er dabei ein schlechtes Gewissen?“ Sagt Krystyna Jarosz, Kustodin des Museums für Volkskunde, die mehr als ein halbes Jahrhundert später das Geschenk des alten Herrn in Empfang nahm. „Im Nachhinein zumindest.“1  Er war damals schon schwerkrank, und offenbar war ihm bewusst, dass solche banalen Dinge historischen Wert besitzen.
Vom Wert alltäglicher Dinge
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Immer wieder hatte das Museum die Bewohner des Kreises
Węgorzewo
deu. Angerburg

Angerburg ist eine Stadt im Nordosten Polens in der Woiwodschaft Ermland-Masuren (Warmińsko-Mazurskie). Sie wird von ca. 11.000 Menschen bewohnt und liegt unweit der Grenze Polens zu Russland.

aufgerufen, Alltagsgegenstände abzuliefern. Es war 1991, nach dem Ende des Kommunismus, eingerichtet worden, um sich – ohne Ideologien und Denkverbote - der Geschichte der Region und ihrer Bewohner zu widmen. Die Frage, was kulturelles Erbe ist, wurde neu gestellt.
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Inzwischen steht der Dachboden des Museums voll. Unter einer Schräge Relikte aus deutscher Zeit: gusseiserne Töpfe, Butterfass und Fleischwolf, Löffel, Bügeleisen, zerbrochene Ofenkacheln, Jagdtrophäen, ein Gänseflügel, der als Handfeger diente. Zeugen des Alltags kleiner Leute, dazwischen ein Dachziegel vom Steinorter Schloss. In einer Vitrine ein stockfleckiges Exemplar von Fritz Rahns „Schule des Schreibens“.
 
In der Mitte des Raums Dinge aus der alten östlichen Heimat der heutigen Bewohner: eine bemalte Truhe aus dem
Vilnius
deu. Wilna, rus. Вильнюс, rus. Wilnjus, yid. ווילנע, yid. Wilne, bel. Вільня, bel. Wilnja, pol. Wilno

Vilnius ist die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt Litauens. Sie liegt im südöstlichen Teil des Landes an der Mündung der namengebenden Vilnia (auch Vilnelė) in die Neris. Wahrscheinlich bereits in der Steinzeit besiedelt, datiert die erste schriftliche Erwähnung auf 1323; Magdeburger Stadtrecht erhielt Vilnius 1387. Von 1569 bis 1795 war Vilnius Hauptstadt des litauischen Großfürstentums in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Mit der dritten Teilung von Polen-Litauen verlor sie im Russischen Zarenreich diese Funktion. Erst durch die Gründung der Ersten Litauischen Republik 1918 wurde Vilnius kurzzeitig erneut Hauptstadt. Zwischen 1922 und 1940 gehörte Vilnius zur Republik Polen, weshalb Kaunas zur Hauptstadt Litauens ausgebaut wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg war Vilnius bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens 1990 Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Bereits im Mittelalter galt Vilnius als Zentrum der Toleranz. Insbesondere Juden fanden in Vilnius Zuflucht vor Verfolgung, so dass sich Vilnius bald als "Jerusalem des Nordens" einen Namen machte. Nicht zuletzt mit dem Goan von Wilna, Elijah Ben Salomon Salman (1720-1797), war Vilnius eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Bildung und Kultur. Bis zur Jahrhundertwende war die größte Bevölkerungsgruppe die jüdische, während laut der ersten Volkszählung im russischen Zarenreich 1897 lediglich 2% der litauischen Bevölkerungsgruppe angehörten. Ab dem 16. Jahrhundert entstanden zahlreiche barocke Kirchen, die der Stadt auch den Beinamen "Rom des Ostens" eintrugen und die bis heute das Stadtbild prägen, während die zahlreichen Synagogen der Stadt im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Zwischen 1941 und 1944 unterstand die Stadt dem sog. Reichskommissariat Ostland. In dieser Zeit wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung ermordet, nur wenige konnten fliehen.

Auch heute noch zeugt die Stadt von einer "phantastische[n] Verschmelzung von Sprachen, Religionen und nationalen Traditionen" (Tomas Venclova) und pflegt ihre vielkulturelle Geschichte und Gegenwart.

-Gebiet, ein ukrainischer Wandteppich, Gewänder aus
Wolhynien
eng. Volhynia, pol. Wolyń, ukr. Воли́нь, ukr. Wolyn, deu. Wolynien, lit. Voluinė, rus. Волы́нь, rus. Wolyn

Die historische Landschaft Wolhynien liegt in der nordwestlichen Ukraine an der Grenze zu Polen und Belarus. Bereits im Spätmittelalter fiel die Region an das Großfürstentum Litauen und gehörte ab 1569 für mehr als zwei Jahrhunderte zur vereinigten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Nach den Teilungen Polen-Litauens Ende des 18. Jahrhunderts kam die Region zum Russischen Reich und wurde namensgebend für das Gouvernement Wolhynien, das bis ins frühe 20. Jahrhundert Bestand hatte. In die russische Zeit fällt auch die Einwanderung deutschsprachiger Bevölkerungsteile (der sog. Wolhyniendeutschen), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Wolhynien zwischen Polen und der ukrainischen Sowjetrepublik aufgeteilt, ab 1939, infolge des Hitler-Stalin-Paktes, vollständig sowjetisch und bereits 1941 von der Wehrmacht besetzt. Unter deutscher Besatzung kommt es zur systematischen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung sowie weiterer Bevölkerungsgruppen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Wolhynien erneut zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und seit 1992 zur Ukraine. Die Landschaft ist namensgebend für die - räumlich nicht exakt deckungsgleiche - heutige ukrainische Oblast mit der Hauptstadt Luzk (ukr. Луцьк).

, private Fotos vor allem, Paare und Familien, bevor sie gewaltsam aus ihrem Zuhause gerissen und nach Masuren umgesiedelt wurden.
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Ein faszinierendes Sammelsurium! Siegfried Lenz, Autor des Romans „Heimatmuseum“, hätte seine Freude an dem friedlichen Beieinander gehabt. Ohne Kommentar können Besucher verstehen, wie ähnlich die Schicksale von Deutschen und Polen sind. Auch die dritte Abteilung, in der Haushaltsdinge aus kommunistischer Zeit ausgestellt sind, löst starke Gefühle aus – 1989 ging eine Welt unter, die die Biografien der Hiesigen bis heute prägt.
 
Jahrzehntelang war der alte Kram entsorgt worden, die Konsumgesellschaft hatte ihn noch schäbiger erscheinen lassen. Es war nicht mehr allzu viel übrig, als die Vergangenheit sich zurückmeldete, Dinge wie die Kommode des Milizionärs ins Museum wanderten.
Gemeinsames Erbe
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In den wilden Zeiten nach 1989 war noch einmal Kulturerbe verloren gegangen. Damals haben Diebe das leerstehende Schloss regelrecht ausgeschlachtet. Zuletzt verschwand über Nacht ein grüner Kachelofen, ein Meisterstück der Handwerkskunst. Laut Polizei eine geplante Aktion von Profis, der Raub löste allgemeine Empörung aus.
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Heute werden die Überreste im öffentlichen Raum geachtet. Zum Beispiel das große gemauerte Loch auf dem Schlossgelände, wo sich der gräfliche Eiskeller befand und die Dorfbewohner noch bis in die 1960er Jahre Eis aus dem Steinorter See lagerten.
 
Bei größeren Bauvorhaben haben Archäologen Zugriff, wie der erfahrene Dr. Jerzy Łapo, Kustos im Museum Węgorzewo.2  Gerade hat er in den Fundamenten des Lehndorffschen Jagdhauses gegraben und drei historische Schichten gefunden. Kleine und kleinste Fragmente, Pfeifenköpfe, Bruchstücke von Töpferware, Tierknochen, die Identifizierung ist oft Detektivarbeit. Pflanzenfasern und Getreidekörner aus der Latrine zu analysieren, oder einen handbehauenen Feuerstein einem Pistolentyp zuzuordnen.
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In der Vergangenheit lesen liegt im Trend. Der Steinorter Friedhof zum Beispiel ist zum Geschichtsbuch geworden. Lange war er im Dickicht verschwunden, nach Aufräum- und Instandsetzungsarbeiten ist die Totenstadt wieder erkennbar: Auf der Kuppe des kleinen Hügels das Lehndorffsche Erbbegräbnis, ringsherum die Gräber der Dorfleute. 107 Grabstellen wurden gefunden, 50 namentlich identifiziert, dank des deutsch-polnischen Projekts „Vergessene Friedhöfe“.
 
In Archiven haben Studenten die Lebensdaten, Verwandtschaftsverhältnisse, Berufe und Beziehungen zur Grafenfamilie rekonstruiert. Von Instleuten und Forstarbeitern, Kammerdienern und Kutschern, der alteingesessenen Töpferfamilie Sensfuss, der Lehrerdynastie Puschke – ein Einblick in die ferne feudale Welt.
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Vor allem die Puschkes haben viele Spuren hinterlassen, vier Lehrergenerationen mit engen Verbindungen zum Schloss. Davon erzählt eine ehemalige Schülerin, Klara Karasch, die im Jahr 1913 einen Klassenausflug mit Lehrer Richard Puschke unternahm, vom Friedhof, durch die alte Eichenallee bis in die gräflichen Gemächer.