Warum immer noch Osteuropaforschung? Anhand zweier empirischer Fallbeispiele aus dem postsozialistischen Raum – der Neugründung der Central European University (CEU) in Budapest und der Osteuropaforschung in der DDR – diskutiere ich in diesem Beitrag, wie die Frage nach der Legitimation und Ausrichtung universitärer Osteuropaforschung nach Ende des Kalten Krieges von den Akteurinnen und Akteuren des Feldes in Ost und West beantwortet wurde.
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Wenngleich keine Wissenschaft frei von politischen Einflussnahmen ist, so sind Regionalwissenschaften bzw. Area Studies in besonderem Maße davon geprägt. Historisch war (und ist?) die Kategorisierung von Räumen zu Gunsten ihrer ‚Erforschbarkeit‘ weit verbreitet. So hat zum Beispiel der Schriftsteller Karl May für seinen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen sogenannten Orient-Zyklus auf wissenschaftliche Abhandlungen und Reiseberichte westlicher Zeitzeug:innen zurückgegriffen. In diesen wurden die Menschen auf dem Balkan und der arabischen Halbinsel als gewalttätig und ‚wild‘ beschrieben, die Kultur als ‚rückständig‘. Solche stereotypen Zuschreibungen prägen unsere Vorstellung von bestimmten Weltregionen bis heute. Nicht selten dienten sie in der Geschichte als Legitimation für imperiale und koloniale Herrschaftsprojekte. Die Begründung der Osteuropaforschung im 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert und schließlich ihre enorme Expansion unter den Vorzeichen des Kalten Krieges sind ein prägnantes Beispiel dafür. Sie sind historisch wie gegenwärtig primär ein Produkt westlicher Wissensproduktion und befanden sich seit jeher in einem Spannungsfeld aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und weitreichenden geopolitischen Bestrebungen. Für den deutschen Fall ist dies bis heute eng verbunden mit der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus und dessen langem Erbe. Erst mit 1989 begann eine Ära der (angestrebten) Überwindung binärer Zuschreibungen von Ost und West. Wie positionierten sich darin Osteuropaforscher:innen? Dieser Frage möchte ich anhand zweier Fallbeispiele aus Ungarn und der DDR in diesem Beitrag nachgehen.
Westliche Theorie, östliche Empirie? Die Anfangsjahre der CEU
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Im Frühjahr 1991 befand sich die Welt aufgrund der revolutionären Umbrüche im östlichen Europa noch immer im Wanken. Die sozialistischen Regime hielten in einigen Ländern des Ostblocks mit aller Kraft und Gewalt an ihrer Macht fest, während der Ruf nach Unabhängigkeit im östlichen Europa immer lauter wurde. Zum 31. März lösten sich die Militärstrukturen des Warschauer Paktes auf. Länder, wie Lettland oder Georgien, erklärten sich unabhängig, in Rumänien fanden die ersten freien Wahlen nach dem Sturz der Ceauşescus statt, in Jugoslawien wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und ein langer Krieg fand seinen Anfang. Der Ruf nach Unabhängigkeit war allerorten gleichermaßen von liberal-demokratischen Reformwünschen wie von nationalistischen Abgrenzungsprozessen geprägt. Neue Grenzen wurden auf der europäischen Landkarte gezogen, nicht selten blutig.
Während all das passierte, traf sich im Mai 1991 eine Gruppe von jungen Studierenden zu einer Sommerschule mit dem Titel „The Process of Global Social Chance and the Historical Experience of Central Europe“. Veranstalter war die „Central European University“, eine 1989 von dem ungarisch-amerikanischen Philanthropen George Soros gegründete und finanzierte Bildungsinitiative, die sich im Verlaufe des Jahres 1991 als ungarisch-amerikanische Universität akkreditieren wird. Die Studierenden des Kurses kamen mehrheitlich aus dem Ostblock und konnten trotz der Aufbruchsstimmung allerorts nur wenig damit anfangen, über Globalisierung zu diskutieren, während in den meisten ihrer Heimatorte Chaos, Krieg und Armut dominierten. Auch Englisch als Wissenschaftssprache der CEU war für viele damals gänzlich fremd und noch kaum zu verstehen. Einer der Kursleiter fragte sich im Nachhinein, ob es nicht hilfreicher gewesen wäre, wenn er einer slawischen Sprache mächtig gewesen oder zumindest anderweitige Regionalkompetenzen gehabt hätte, um wirklich in einen produktiven Dialog treten zu können. Im Abschlussbericht merkten auch die Studierenden kritisch an, dass der Kurs – anders als im Titel angekündigt – sich kaum mit den Problemen in Osteuropa auseinandersetzte, weil nicht nur den Lehrenden das entsprechende Wissen fehlte, sondern auch‚ westliche‘ Globalisierungstheorien, die in diesem Kontext vermittelt wurden, für viele sehr weit weg von der eigenen Lebensrealität waren. In ihren jeweiligen Herkunftsländern war es gerade der Nationalstaat, der sich nach Jahrzehnten sozialistischer Herrschaft erneut oder erstmals Bahn brach.1 
Um dem Gespenst des Nationalismus mit einem aufgeklärten demokratischen Gegenüber zu begegnen, war Bildung von zentraler Bedeutung. So zumindest lautete die Prämisse der Gründungsdirektoren der CEU und allen voran von George Soros, auf dessen Initiative die Idee einer neuen Universität als Antwort auf die Veränderungsprozesse im östlichen Europa zurückging. Wenngleich Soros anfangs noch stark mit der Idee einer Entrepreneur University, also einer auf praktische unternehmerische Fähigkeiten fokussierten Wissenschaftseinrichtung, liebäugelte, überzeugten ihn seine Mitstreiter:innen, viele von ihnen Intellektuelle und Dissidenten des Kalten Krieges, von der Notwendigkeit einer breiten humanistischen Bildung. Ein „Bologna des Ostens“ sollte die CEU werden und Gemeinschaft und Demokratie stiften über geteilte Inhalte und eine gemeinsame Sprache.2 Inspiriert von seinem Londoner akademischen Lehrer Karl Popper, postulierte Soros das Konzept der „offenen Gesellschaft“ gegenüber den „geschlossenen Gesellschaften“ des Sozialismus. Die CEU wurde – gemeinsam mit den zahlreichen anderen Initiativen der Open Society Foundation – zum ‚brain center‘ der osteuropäischen Transformationsgesellschaften. Ihr erklärtes Ziel war es, den jungen Menschen im Osten durch ein alternatives sozialwissenschaftliches Set an Methoden Werkzeuge kritischen Denkens zu vermitteln und damit die neuen Demokratien im postsozialistischen Raum aufzubauen und zu konsolidieren.
Dieses Unterfangen stand jedoch, wie das Beispiel der Sommerschule von 1991 zeigt, nicht nur in einem starken Kontrast zu einer Theoriemüdigkeit oder sogar -skepsis vieler osteuropäischer Wissenschaftler:innen nach Jahren der Indoktrination.3 Es warf eben auch Fragen auf „about the usefulness of studying the West European model“4 auf für den (post)sozialistischen Kontext. Der von den Studierenden damals geäußerte Wunsch nach einer konkreten Anwendbarkeit von Theorien, verdeutlicht das starke Bedürfnis insbesondere der ersten akademischen Generation der Umbruchszeit nach ‚praktischen‘ Fähigkeiten. Sie strebten danach, sich Kompetenzen anzueignen, um in dieser neuen Welt navigieren zu können.
Wieviel Osteuropakompetenz braucht Osteuropa?
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Wieviel spezifisches Wissen über ‚Osteuropa‘ und damit sogenannte Regionalkompetenzen in der neuen Universität stecken sollten, war anfangs keineswegs Konsens. Das „Central Europe“ im Namen ist dabei eng verbunden mit der Frage wie wichtig regionalwissenschaftliche Kompetenzen zukünftig für das Curriculum sein werden. Auf dem Gründungstreffen der CEU im Rahmen einer Sommerschule am Inter-University Centre im Frühjahr 1989 in Dubrovnik wurde dieses Thema kontrovers diskutiert: Einige sprachen sich für eine Universität mit einem ‚universellen‘ Bildungsangebot aus. Sie argumentierten, dass das Zeitalter regionalwissenschaftlicher Studien vorbei sei. Im Kontext der neuen unipolaren Weltordnung dürfe man nicht in die Gefahr geraten, durch einen Osteuropa-Fokus als ‚provinziell‘ wahrgenommen zu werden. Andere machten sich gerade für ein Osteuropa-Profil stark, weil sie sich selbst als Expert:innen für ihre Herkunftsgesellschaften verstanden und vom ‚Westen‘ eben auch in erster Linie als ‚Osteuropawissenschaftler:innen‘ und weniger als Soziolog:innen, Historiker:innen oder Geograph:innen wahrgenommen wurden. Am Ende fand man zu einem Kompromiss von „universal studies [...] combined with a regional accent in subjects“5. Was den Namen der neuen Universität anging, hatte Soros zwar noch im April 1990, also ein Jahr nach dem Treffen in Dubrovnik, einen Antrag für eine „Soros University“ verfasst, aber letztlich setzte sich der Name Central European University trotz aller Vorbehalte durch. Wie der ungarische Historiker Laszlo Kontler sich später erinnert: „Once there is the brand, it is hard to change.“6 
Gab es Osteuropaforschung im Osten und was ist aus ihr geworden?
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Neugründungsprojekte wie die CEU stellten Leuchtturmprojekte in einer postsozialistischen Hochschullandschaft dar, die sonst eher durch Kontinuitäten als durch Brüche gekennzeichnet war. Eine Ausnahme stellte das Wissenschaftssystem der ehemaligen DDR dar, dass mit der Wiedervereinigung praktisch aufhörte zu existieren. Im Frühjahr 1991 befand sich die Abwicklung des DDR-Hochschulwesens in vollem Gange. Nach einem Beschluss des Wissenschaftsrates vom Sommer 1990 sollten alle akademischen Institutionen sowie ihr Personal bis Ende des Jahres evaluiert und in das BRD-Wissenschaftssystem integriert werden. Ein Großteil der DDR-Wissenschaftler:innen verlor dabei ihre Stelle, besonders stark betroffen waren die Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Akademien der Wissenschaften wurden – im Gegensatz zu allen anderen ehemals sozialistischen Ländern – allesamt ‚abgewickelt‘, ein Teil der Forschungsexpertise sollte dann in neu gegründete Institute unter westdeutscher Leitung und mit einer (mehr schlechten als rechten) personellen ost- und westdeutschen ‚Durchmischung‘ überführt werden.7 
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Eines dieser sieben neuen geisteswissenschaftlichen Zentren war das am 30. Oktober 1995 gegründete heutige Leibniz-Institut für die Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO, damals Geisteswissenschaftliches Zentrum für die Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas) in Leipzig. Auf Anregung des Osteuropahistorikers Klaus Zernack und unter der Ägide der Max-Planck-Gesellschaft wurde damals der „Forschungsschwerpunkt Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas“ eingerichtet, zu dessen Grundfinanzierung sich der Freistaat Sachsen bereit erklärte, unterstützt durch die Aufnahme ins Förderprogramm der DFG. Der damalige Gründungsdirektor, der Historiker Winfried Eberhard, erinnerte sich im Gespräch, wie er im März 1992 das erste Mal die zwölf positiv evaluierten zukünftigen Mitarbeiter:innen des Zentrums kennenlernte und erleichtert darüber war, dass er nicht „als Kolonisator aus dem Westen“ wahrgenommen wurde. Vielmehr fand er, nach eigener Aussage, eine als „konstruktiv“ empfundene Arbeitsatmosphäre vor.8 Das sagt viel über die schwierige Situation aus, in der sich DDR-Wissenschaftler:innen damals befanden. So berichtete Dieter Segert, zu Ostzeiten Hochschullehrer der Sektion Philosophie an der Humboldt-Universität und später Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa an der Universität Wien: „Und dann wurden alle Sektionen abgewickelt und neu gegründet. Das ist ja eigentlich eine Konstruktion, die es rechtlich gar nicht geben kann, denn entweder etwas ist überflüssig oder es ist nicht überflüssig, aber das wurde trotzdem gemacht. Und wir waren dann alle irgendwie in der Luft.“9 Die Zeit nach dem November 1989 war für Segert und viele andere gleichermaßen von revolutionärem Aufbruch wie von großer Existenzangst begleitet. Nach einer Phase der Selbsterneuerung vieler Institute wurde schnell klar, dass der Reformprozess eben nicht wie gehofft nach eigenen Maßgaben (die es zu jener Zeit und mit großen Divergenzen zwischen dem ehemaligen DDR-Personal auch erst auszuhandeln galt), sondern größtenteils nach westdeutschen Prämissen vollzogen werden würde.
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Das galt insbesondere für die Osteuropaforschung, die es ja in dieser Form gar nicht in ‚„Osteuropa‘“ gab. Wenn Osteuropa aus ‚westlicher‘ Perspektive lange Zeit geographisch eins war mit den Grenzen des ‚„Ostblocks‘“, so galt das natürlich nicht für das Selbstverständnis der damit bezeichneten Länder. Insofern fanden die Gutachter:innen der Strukturkommissionen dann eben auch keine Osteuropaforschungsinstitute vor, sondern solche, die sich mit der „Kultur und Geschichte der Sozialistischen Gemeinschaft“, der „Geschichte des Sozialistischen Weltsystems“ oder der „Geschichte der UdSSR und der Volksdemokratien“ auseinandersetzten.10 Mit der Wende wurden derart ideologisch geprägte Bereiche als erstes abgeschafft (anders als die verkleinerten, aber zumeist erhaltenen Slavistiken). Erschaffen wurden stattdessen Lehrstühle für Osteuropäische und Südosteuropäische Geschichte in Jena, Berlin, Halle oder Leipzig sowie das Leipziger Institut für Osteuropaforschung – nach westdeutschem Vorbild und zumeist besetzt mit überwiegend männlichen westdeutschen Professoren.
Warum noch Osteuropaforschung nach 1989?
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Die Frage, warum es Osteuropaforschung unter den Vorzeichen eines vereinigten Europas weiter geben sollte, ist vielleicht so einfach wie unbefriedigend zu beantworten: Es gab (oder besser: die wissenschaftlichen Akteur:innen jener Zeit nahmen sich) unter dem Druck der politischen Veränderungsprozesse überwiegend keine Zeit für eine kritische Selbstbetrachtung und Erneuerung des eigenen Fachs. Die Frage stellte sich schlichtweg für viele gar nicht, weil Osteuropaforschung ein ‚bewährtes‘ Instrument westdeutscher, westeuropäischer und nordamerikanischer Forschung darstellte – wenngleich die Osteuropaforschung Anfang der 1990er Jahre selbst einen großen Schritt davon entfernt war die eigene problematische Wissenschaftsgeschichte kritisch aufgearbeitet zu haben. Die beiden Beispiele zeigen, dass es zwar mit Blick auf die CEU durchaus kritische Stimmen gegenüber einem generalisierenden Osteuropa-Begriff und einer genuinen Osteuropaforschung gab und sich diese auf curricularer Ebene auch Gehör verschaffen konnten (was besonders in der Entscheidung gegen Area Studies an der CEU sichtbar wurde). Aber an vielen anderen Orten, wie es das Beispiel der DDR-Forschungsinstitute zeigt, führte die ‚Integrierbarkeit‘ in das hegemoniale westliche Wissenschaftssystem letztlich dazu, dass das ‚bewährte‘ Modell der Osteuropaforschungsinstitute, größtenteils übernommen wurde. Neugründungsprojekte wie die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder 1991 mit einem dezidiert integrativen Verständnis, das Osteuropa genauso mitdachte wie Westeuropa, blieben daher eher die Ausnahme als die Regel.

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