Inwiefern beeinflussen antiosteuropäische Diskurse das Selbstbild junger Menschen aus Russland? 16 Personen wurden zu diesem Thema befragt. Die Untersuchung zeigte ein negatives Selbstbild und die Verinnerlichung eines idealisierten Bildes von ‚(West-)Europa‘ bei den Interviewten.
Einleitung
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Russinnen und Russen
Russinnen und Russen
In der russischen Sprache wird zwischen русский (russkij, dt. Russe) und россиянин (rossijanin, dt. Russländer) unterschieden. Als Russinnen und Russen werden Menschen, die ethnisch russisch sind, bezeichnet. Russländerinnen und Russländer werden Menschen, die die Staatsbürgerschaft Russlands haben, genannt. Da nicht alle Befragten Russinnen und Russen sind, werden die Begriffe Russländerinnen und Russländer verwendet, es sei denn, es handelt sich explizit um Menschen, die ethnisch russisch sind.
definieren sich selbst „als Gegengewicht zu Europa […], als Träger einer grundsätzlich anderen Identität“1, – schrieb der russländische Philosoph Michail Ryklin. Dem
Prozess der Identifikation
Prozess der Identifikation
Der Begriff Identität oder Identifikation ist einer der unschärfsten Begriffe. Es gibt eine Vielzahl von Definitionen. So definiert der Soziologe Richard Jenkins in seinem Buch ‚Social Identity‘ (2014, S. 6-13) Identifikation als die menschliche Fähigkeit zu wissen, wer wer ist. Er betont auch, dass unsere Selbstidentifikation davon abhängt, wie wir andere kategorisieren.
liegt zugrunde, dass sich die Angehörigen einer Gruppe über die Nicht-Zugehörigkeit zu einer anderen definieren.2 Es ist jedoch bemerkenswert, welche Rolle Europa bei der Aushandlung des Selbstbildes von Russländerinnen und Russländern hat. Während eine Gruppe ihre Selbstidentifikation aushandelt, kann es dazu kommen, dass sie eine Fremdzuschreibung übernimmt, etwa weil diese Fremdzuschreibung durch Personen oder Gruppen erfolgt, denen Autorität zugeschrieben wird.3
Stuart Hall beschreibt ‚den Westen‘4 als einen Gesellschaftstyp, der mit einem „Ensemble von Bildern“ und mit folgenden Adjektiven in Verbindung gebracht wird: „entwickelt, industrialisiert, städtisch, kapitalistisch, säkularisiert und modern“5. Im Endeffekt „wird der Rest als etwas definiert, das der Westen nicht ist“6. Welchen Platz nimmt in diesem Diskurs ein? Madina Tlostanova siedelt Russland in der Semiperipherie an: als ein Land, das gleichzeitig vom ‚Westen‘, der als ‚Zentrum‘ bezeichnet werden kann, kulturell, technologisch und intellektuell dominiert wird, und das andere Länder, die als ‚Peripherie‘ bezeichnet werden können, selbst kolonisiert.7
Stuart Hall beschreibt ‚den Westen‘4 als einen Gesellschaftstyp, der mit einem „Ensemble von Bildern“ und mit folgenden Adjektiven in Verbindung gebracht wird: „entwickelt, industrialisiert, städtisch, kapitalistisch, säkularisiert und modern“5. Im Endeffekt „wird der Rest als etwas definiert, das der Westen nicht ist“6. Welchen Platz nimmt
Russland
eng. Russia, rus. Rossija, rus. Россия
Die Russische Föderation ist der größte Flächenstaat der Welt und wird von rund 145 Millionen Menschen bewohnt. Hauptstadt und größte Stadt ist Moskau mit ungefähr 11,5 Millionen Einwohner:innen, gefolgt von Sankt Petersburg mit mehr als 5,3 Millionen Einwohner:innen. Der deutlich überwiegende Teil der Bevölkerung lebt im europäischen Teil Russlands, der dichter besiedelt ist, als der asiatische.
Die Russische Föderation ist seit 1992 Nachfolgestaat der russischen Sowjetrepublik (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, RSFSR), dem mit Abstand größten Teilstaat der ehemaligen Sowjetunion. Sie ist zugleich Rechtsnachfolger der Sowjetunion im Sinne des Völkerrechts.
Hintergrund der Untersuchung
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Die Untersuchung geht der Frage nach, inwiefern antiosteuropäische Diskurse das Selbstbild junger Russländerinnen und Russländer beeinflussen, die noch in ihrem Heimatland leben oder nach Deutschland ausgewandert sind. Unter antiosteuropäischen Diskursen werden negative Denkweisen über Menschen, denen eine ‚osteuropäische‘ Herkunft zugeschrieben wird, verstanden. Russland spielt dabei die Rolle des Prototyps dieser Diskurse.8 Wolfgang Wippermann, der die Entwicklung und die Merkmale antiosteuropäischer Diskurse in Deutschland beschrieb, nannte die Langlebigkeit der fixierten Vorstellungen über ‚den Osten‘ „das geostereotypische Gefängnis ‚Osten‘“ und stellte vor sechszehn Jahren fest, dass ‚die Deutschen‘ immer noch darin gefangen sind.9 Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen ordnen abwertende Zuschreibungen, die stereotype Eigenschaften betonen, als antiosteuropäischen und antislawischen Rassismus ein. Damit sind diejenigen Rassismen gemeint, die gegen Bewohnerinnen und Bewohner des geografischen Raums Osteuropa oder gegen Menschen, die als ‚Slawen‘ wahrgenommen werden, gerichtet sind.10
Um zu beantworten, wie antiosteuropäische Diskurse das Selbstbild junger Menschen beeinflussen, wurden 16 Russländerinnen und Russländer im Alter von 19 bis 30 Jahren zu ihrem Selbstbild und vermeintlichem Fremdbild interviewt.11 Sechs der Interviewten bezeichnen sich als Russinnen oder Russen, neun Befragte ordnen sich einer anderen ethnischen Gruppe zu, die aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht genannt wird und eine Person versteht sich als Russländerin, d.h. sie definiert sich über ihre Staatsangehörigkeit und nicht über ihre Zugehörigkeit zu einer der beiden ethnischen Gruppen. Der Vergleich zwischen der Erfahrung der nichtrussischen und der russischen Interviewten ist notwendig, weil die nichtrussische ethnische Gruppe einen großen Anteil an der Bevölkerung in der Heimat der Interviewten hat. Außerdem ist ihr Nichtrussischsein für Außenstehende oft unsichtbar, und sie werden als Russinnen und Russen wahrgenommen. Genau aus diesem Grund wird im Folgenden von Stereotypen über Russländerinnen und Russländer gesprochen: Eigentlich beziehen sich die Stereotype auf ‚Russinnen und Russen‘, aber da das Nichtrussischsein vieler Russländerinnen und Russländer für Außenstehende unsichtbar ist, werden auch sie mit denselben Stereotypen konfrontiert. Um die Reichweite des möglichen Einflusses antiosteuropäischer Diskurse zu untersuchen, wurden nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland lebende Russländerinnen und Russländer befragt. Alle Befragten sind in derselben Teilrepublik Russlands geboren und aufgewachsen. Für die Datenerhebung wurde eine spezielle Art von Interviews verwendet, bei denen die Befragten über ihre Erfahrung frei sprechen konnten, wobei das Interview durch vorab vorbereitete Fragen gelenkt wurde. Anschließend wurden die Interviews systematisch analysiert, um Muster zu entdecken und ihre Bedeutungen zu interpretieren. Die Interviews wurden im April 2022 online durchgeführt. Der Angriffskrieg Russlands auf die gesamte Ukraine seit Februar 2022 wird im vorliegenden Beitrag nur partiell beleuchtet. Manche Befragte, die sich in Russland aufhalten, machten zur Bedingung ihrer Teilnahme, dass ihnen dazu keine Fragen gestellt werden.
Aushandlung der Selbstbilder
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Das Zitat aus dem Interview mit Damir12, das in den Beitragstitel eingeflossen ist, spricht bereits eines der zentralen Forschungsergebnisse an. Die Interviewten verglichen Mitglieder ihrer ethnischen Gruppen mit Außenstehenden und zeigten Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf. Beispielsweise erzählte Kolja: „Was die Menschen, die nach den 1990er Jahren [geboren wurden – A.M.] anbelangt, so leben wir heute mehr im Einklang mit den europäischen Regeln […]“.Nach der Bitte, darauf näher einzugehen, antwortete er: „Ich war nie in Europa, aber ich denke, dort funktioniert alles gut.“ Neben den ‚europäischen‘ und US-amerikanischen Bevölkerungen verglichen sich Vertreterinnen und Vertreter der ethnisch nicht-russischen Gruppe auch mit der russischen Bevölkerung, wobei diese negativer dargestellt wurde. Beispielsweise findet Ajdar, dass Russinnen und Russen generell passiv sind, während sich Angehörige seiner ethnischen Gruppe ständig verbessern wollen.
Vermeintliche Fremdbilder
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Die Interviewten wurden unter anderem gebeten, ihre Vorstellungen über Fremdbilder von Russländerinnen und Russländern zu beschreiben. Hieraus lässt sich ablesen, inwieweit antiosteuropäische Diskurse aktiv wahrgenommen werden. Die Interviewten waren der Meinung, dass sich Ausländerinnen und Ausländer ihre Landsleute als wilde, unfreundliche, mürrische, ungebildete Menschen mit Alkoholproblem, die einen starken Akzent und eine aggressive Satzmelodie in jeder Fremdsprache haben, vorstellen. So erzählte Ajgul: „[…] sie denken von Russen, dass wir nicht freundlich sind, dass wir kühl sind, dass wir so wild sind […]“ Nur einmal wurde ein positiv konnotiertes Merkmal des Fremdbildes erwähnt – die Bewunderung der russländischen Kultur. Außerdem nahmen die Befragten geschlechterspezifische Stereotype wahr, die auch für orientalistische Diskurse typisch sind. Mit Russländern werden angeblich hoher Alkoholkonsum, Aggressivität und Brutalität in Verbindung gebracht: „Nur Männer mit Bart, die niemals lächeln, niemals in ihrem Leben, einfach immer betrunken sind. Nein, im Ernst, es gibt Leute, die das ernsthaft gedacht haben“. Bei den stereotypisierten Vorstellungen von Russländerinnen gehe es unter anderem um den Wunsch zu heiraten, die vorbildliche Haushaltsführung und das Aussehen: „Und was junge Russländerinnen betrifft, so gibt es meiner Meinung nach ein Klischee im Ausland, dass sie käuflich sind [...].“
Die Interviewten, die noch in Russland leben, wurden mit der negativen Darstellung ihrer Landsleute durch die Medien, die Massenkultur und das Internet konfrontiert. Hier ist wichtig anzumerken, dass nicht nur Menschen aus anderen Ländern negative Bilder über Russländerinnen und Russländer verbreiten, sondern auch oft Russländerinnen und Russländer selbst. Die Interviewten, die in Deutschland leben, sagten, dass ihnen beim Kennenlernen sehr oft Stereotype über Russländerinnen und Russländer erzählt werden, was viele als kommunikative Hürde bezeichneten. Nur eine Interviewpartnerin erlebte aggressives Verhalten aufgrund ihrer Nationalität. Die Meinungen über Fremdbilder sowie der Umgang mit ihnen sind unterschiedlich. Beispielsweise findet Indira Stereotype unberechtigt, wenngleich sie ihnen in Gesprächen nicht widerspricht. Guzel ist dagegen der Meinung, dass Stereotypen existierende Probleme zugrunde liegen, und fasst sie als Verbesserungsvorschläge auf: „[…] es wurde erkannt, dass es [ein Problem – A.M.] existiert. Das ist schon mal die erste Stufe, um daran zu arbeiten und vielleicht auf ein neues Niveau zu kommen.“
Während einige negativen Stereotypen in Gesprächen normalerweise keine besondere Aufmerksamkeit widmen, nicht widersprechen oder sie sogar als Verbesserungsvorschlag wahrnehmen, empfinden andere sie als Beleidigung und befürchten, auf diese Stereotype reduziert zu werden: „Einerseits ist es ein Bild einer schönen, fast elitären Prostituierten, andererseits ist es ein Bild einer leicht zugänglichen geldgierigen Frau. Und das alles wird auf dich projiziert.“ Eine Interviewpartnerin fühlt sich aufgrund negativer Stereotype im Umfeld von Menschen wohler, die ebenfalls Migrationshintergrund haben.
Selbstbilder
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Wenn es in Interviews explizit um Merkmale des Selbstbildes ging, wurden weder ausschließlich positive noch negative Merkmale genannt. Auffallend ist, dass die negativen Eigenschaften oft von den Interviewten gerechtfertigt wurden. So seien Russländerinnen und Russländer beispielsweise passiv, weil sie vom Staat stark eingeschränkt seien, mürrisch, weil es sehr viele Probleme gebe, und faul, weil es keine Perspektiven im Land gebe. Auslandserfahrung verändert hierbei die Wahrnehmung: So teilte eine Interviewpartnerin mit, dass sie das Make-up der Russländerinnen in ihrer Heimatstadt nach ihrem Aufenthalt in Deutschland als übertrieben empfinde. Ein Interviewpartner hob hervor, dass er bei Besuchen in seiner Heimat mit einer ihm unangenehmen Mentalität konfrontiert werde. Er unterstrich, dass es unmöglich sei, die russländische Mentalität ohne Auslandserfahrung zu ändern.
Im Gegensatz zu einem neutralen Selbstbild, das explizit beschrieben wurde, wurde ein negatives Selbstbild erst in Reaktion auf einen Videoausschnitt geäußert, der als Intervieweinstieg diente. In dem Ausschnitt13 aus einer russländischen Satire-Serie wurden mehrere Stereotype gezeigt: ein ständig fernsehender Mann, der seine Schwiegereltern meidet, eine Frau, die immer bereit ist, ihren Ehemann mit einer Pfanne zu schlagen, die Verwendung des Wortes ‚sexuelle Minderheit‘ als eine Beleidigung und die schlecht spielende Fußballnationalmannschaft Russlands. Fast alle Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sagten, dass sie sich die Mehrheit der russländischen Bevölkerung so vorstellen. Es ist bemerkenswert, dass nur ein Interviewpartner zugab, mit Menschen, auf die diese angeblichen Charaktereigenschaften zutreffen, Kontakt zu haben. Den im Videoclip gezeigten Menschen wurden von allen Interviewten folgende Merkmale zugeschrieben: niedriger Bildungsstand, niedriges Einkommen, ansässig in einem kleinen Ort und die Zugehörigkeit zu einer älteren Generation. Zudem betonten die Interviewten, dass sich die jüngere Generation von der Darstellung im Videoausschnitt entferne und sich ‚Europa‘ annähere, wobei dies gerade diejenigen feststellten, die nie in Europa waren.
Fazit
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Interviewten mit negativen Vorstellungen von Russländerinnen und Russländern konfrontiert sehen. Darüber hinaus lässt sich die Verinnerlichung eines idealisierten Bildes von (West-)Europa bestätigen. Vor allem diejenigen Befragten, die noch nie im Ausland waren, sprachen von der Europäisierung der jungen Russländerinnen und Russländer und den damit verbundenen besseren Eigenschaften. Im Gegensatz zu einem eher neutralen Selbstbild, das explizit beschrieben wurde, äußerte sich ein negatives Selbstbild indirekt.
Der Beitrag beleuchtet nur einen Aspekt der Identitätsbildung junger Russländerinnen und Russländer. Die Untersuchung anderer Aspekte, wie etwa negative, russländische Diskurse über ethnische Minderheiten in Russland oder über die Bevölkerung anderer postsowjetischer Staaten, wären angesichts der Position Russlands in der Semiperipherie sehr wünschenswert.