Der Beitrag zeigt, welches Potenzial das von Kanzler Scholz in der Regierungsrede vom 27. Februar entwickelte Narrativ der Zeitenwende entfalten kann, wenn es in semantischem Gehalt und seinen historischen Wurzeln ernstgenommen und aktualisiert wird.
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Bundeskanzler Scholz hat in seiner drei Tage nach Russlands Invasion in die Ukraine gehaltenen Regierungserklärung das schockierende Ereignis mit dem Begriff der Zeitenwende einzufangen gesucht. Der Ausdruck Zeitenwende diente vorab schon mehrfach dazu, Krisen- und Umbruchsszenarien treffsicher zu beschreiben. Aufschlussreich sind die zwei relevanten Bedeutungsvarianten, die das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) verzeichnet: einmal der prozessuale Vollzug einer Wende, zum anderen das vollzogene Geschehen.1  Mitgedacht ist bei der Verwendung des Begriffs Zeitenwende erstens immer die Gesamtheit aller sich abrupt verändernden Lebensbereiche, zweitens die plötzliche Überraschung durch ein sichtbares Ereignis und drittens die dadurch bedingte allseitige neue Wahrnehmungs- und Bewertungsweise. In unserem Fall heißt das beispielsweise, dass alle Lebensbereiche vom Alltag bis zur Weltpolitik einer Neubewertung unterworfen werden, etwa die Frage der Vorsorge im Energiebereich wie die Neugewichtung der Außenpolitik Deutschlands gegenüber Osteuropa, Afrika und Asien. Das augenfälligste Beispiel einer sich verändernden Aufmerksamkeitsökonomie durch ein externes Ereignis ist aktuell die neue Wahrnehmung des militärischen Faktors, z.B. die Aufwertung der Bundeswehr und die neue bis weit in die Bevölkerung hineinreichende militärische Expertise.
Im ersten Satz seiner Rede schafft Scholz das sinnstiftende Narrativ der Zeitenwende und reagiert so auf die sich in der Ukraine als Krieg realisierende Krisen- und Katastrophensituation mit einer machtvollen, in die Zukunft gerichteten Erzählung, die eine Legitimationsstrategie für eine Änderung politischen Handelns darstellt. Analysiert man das Zeitenwende-Narrativ aus narratologischer Perspektive, so lässt sich seine Struktur durch vier wesentliche Elemente bestimmen:
(1) durch die Einbettung in den Erzählprozess und narrativen Rahmen, der zur Abmilderung des Schockmoments gleich nach Kriegsausbruch beitragen sollte,
 
(2) durch den im Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestehenden dynamischen Kern. Das Narrativ verweist aus der Perspektive der Gegenwart von der Vergangenheit in die Zukunft und formuliert einen klaren Handlungsauftrag mit Appellcharakter.
 
(3) durch die unerhörte, unbegreifliche, im Goetheschen Sinn „novellistische“ Begebenheit „novellistische“ Begebenheit Nach Goethe zeichnet sich eine Novelle dadurch aus, dass sie eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“ erzählt, die im Zentrum der Handlung dieser eher kurzen literarischen Form steht und oft einen wichtigen Wendepunkt oder einen zentralen Bezugspunkt der Erzählung darstellt. Dabei steht bei Goethe noch ein ungewöhnliches, auch neuartiges Ereignis im Vordergrund. In den Werken späterer Autorinnen und Autoren kann es sich bei der novellistischen Begebenheit beispielsweise auch um eine Konflikt- oder psychologische Ausnahmesituation der Protagonisten handeln. :  den Angriffskrieg, mit dem fast niemand gerechnet hatte.
 
(4) das narrative Volumen, d.h. die Mitentfaltung von im Folgenden zu analysierenden Dimensionen von ‚Zeitenwende‘: Zeit, Wende, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, ihre Akteure und jeweiligen Implikationen.
I. Die Implikationen des Zeitenwende-Narrativs
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Der Ausdruck „Zeitenwende“ hat seine kulturhistorischen Wurzeln in der Zeitgeschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts und entstammt dem journalistischen Diskurs. Insbesondere die Autoren des Jungen Deutschland Jungen Deutschland Als „Junges Deutschland“ wird eine literarische Bewegung in der Zeit des Vormärz (1825–1848) bezeichnet, zu der Autoren wie Karl Gutzkow, Heinrich Heine, Ludwig Börne, Ludolf Wienbarg, Heinrich Laube und Theodor Mundt gezählt werden. Die jungen Autoren wandten sich gegen die restaurative Politik ihrer Zeit und vertraten ein liberales Weltbild; im Dezember 1835 wurden ihre Schriften verboten. sehen sich als politische Historiker-Journalisten, als „Zeitschriftsteller“,2   die politische Entscheidungsträger beeinflussen können. Zeit galt bis dahin als eine Kategorie, in der etwas stattfindet. Wenn Zeitschriftsteller von Zeit sprechen, meinen sie die Gegenwart. Zu diesem Wortfeld gehören jungdeutsche Schlagworte wie Leben, Handeln, Zukunft; es entstehen Komposita wie Zeitaufregung, Zeitgeist, Zeitentwicklung. Erstmals wird Zeit bei den Jungdeutschen perspektivisch zur Analyse der eigenen Gegenwart und aktiven Einflussnahme auf die Zukunft betrachtet. „Die Zeit ist die Form des Änderns“,3  heißt es z.B. bei Gutzkow. Unter Voraussetzung dieses aktiven Zeit-Begriffs impliziert ‚Zeitenwende‘, dass etwas Neues eintritt und aus aktiver Teilhabe entsteht.
Das Narrativ erhält seinen Appellcharakter durch fünf Handlungsaufträge,4  aber obwohl der Regierung hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzung zumindest ein verhältnismäßiger Erfolg zu bescheinigen ist, lautet die anhaltende Kritik: Langsamkeit, Konzeptionslosigkeit, Zaudern. Diese beanstandete Zurückhaltung ist in der Kanzlerrede selbst angelegt: „Wir erleben eine Zeitenwende“, heißt es einführend, „und das bedeutet, die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“.5  Abgesehen vom Ausdruck „Zeitenwende“ deutet nichts auf einen Gestaltungswillen hin. Das Wort ‚erleben‘ hat die Bedeutung „durch etwas von außen Einwirkendes betroffen und in seiner Empfindung beeindruckt werden“ und weiterführend: „bei etwas unter großer Anteilnahme dabei sein“.6  „Empfindung“ und „Anteilnahme“ konkretisieren sich in Deutschland als Mitgefühl, Mitleid, Traurigkeit, Wut, in Hoffnungen, Wünschen und als Angst vor einer nuklearen Eskalation. Es stellt sich also die Frage, ob Scholz im Kompositum ‚Zeitenwende‘ einen passiven Zeitbegriff (etwas passiert) mit dem Dynamik implizierenden Wendebegriff zusammenführt oder ob er dem aktiven Zeitbegriff nicht gerecht wird.
„Zeitenwende“ bedeutet in der Struktur des Scholz-Satzes zunächst Gegenwart, die zwischen der „Welt davor“ und der „Welt danach“ steht. Hinzu kommt, dass Scholz das Narrativ als sinnstiftende Erzählung in der Krisen- und Katastrophensituation des Angriffskriegs entwickelt, und: wer „von Krise spricht, diagnostiziert Notstand, Zeitknappheit, Handlungsbedarf“.7  Entscheidend ist also, dass wir die Gegenwart, die mit dem Krisen- und Zukunftsnarrativ der Zeitenwende beschrieben wird, nicht nur „erleben“, sondern mitgestalten und eine klare Vision für „die Welt danach“ entwerfen.
II. Merkmale des Zeitenwende-Narrativs
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Mit dem Zeitenwende-Narrativ gehen folgende charakteristische Merkmale im politischen und öffentlichen Diskurs einher:
(1) die Desillusionierung der bisherigen Grundannahmen in Bezug auf ein friedliches Zusammenleben der europäischen Staaten,
(2) ein neuer ethischer Wertediskurs und
(3) ein binärer Reduktionismus.
Zu 1) Eines der wesentlichen Elemente des Zeitenwende-Narrativs von Scholz ist „die Welt davor“ samt ihrer desillusionierten oder ausgehöhlten Grundannahmen, Narrative und Schlagwörter wie „Demokratisiererung“, „Wandel durch Handel“ „Wandel durch Handel“ „Wandel durch Handel“ oder „Wandel durch Annäherung“ bezeichnet eine erstmals von Egon Bahr 1963 formulierte politische Auffassung, die zum Kern der neuen Ostpolitik der Regierung Willy Brandts (1969–1974) avancierte. Eine Politik des „Wandels durch Annäherung“ setzt sich zum Ziel, durch eine Intensivierung der Kommunikation und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit trotz unterschiedlicher politischer Systeme und Auffassungen eine Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu erreichen. , „Ende der Geschichte“ „Ende der Geschichte“ Das „Ende der Geschichte“ wurde 1989 durch den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama angesichts der Überwindung des Kalten Krieges und dem vermeintlichen Ende des Widerstreits gegensätzlicher Ideologien postuliert. Annahme war, dass sich im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion 1989 das westliche demokratische, marktwirtschaftliche politische System auch langfristig durchsetzen werde. und „dauerhafter Frieden“ in Europa.8  An die Stelle des Vertrauens in eine dauerhafte europäische Friedensordnung trete ein verstärktes Sicherheitsinteresse als erste Priorität.
Zu 2) Im 3sat-Film „Zeitenwende“9  sieht der Philosoph M. May einen Zusammenhang zwischen der Coronapandemie und dem Ukraine-Krieg dahingehend, dass die Pandemie zu einem Bewusstseinswandel im gesellschaftlichen und sozialen Miteinander geführt habe. Moralische Gründe spielten hierbei erstmals eine Rolle. Dieser neue ethische Denkstil habe dazu geführt, dass man Russlands Invasion in der Ukraine stark aus einem moralischen Blickwinkel beurteilte, weshalb schnell Einigkeit über die Rollenzuschreibung von Aggressor und Opfer herrschte. Seit dem 24. Februar 2022 ist auch das Narrativ des Bösen wiederbelebt. Dadurch wird auf diskursiver Ebene ein Bezug zwischen dem russischen Angriffskrieg und dem nationalsozialistischen Terrorregime 1933-1945 hergestellt.10
Zu 3) Der Diskursanalytiker Jürgen Link kritisiert in der im Mai 2022 erschienenen Folge seiner Zeitschrift „kulturRevolution“ diesen normativ geführten Wertediskurs als Einschränkung „öffentlicher Sagbarkeit“ und Begrenzung des „flexibel-normalistischen Diskurses“ der Postmoderne, der auf Diversität und Meinungsvielfalt beruht. Dieses Verfahren der (angeblichen) Restriktion des öffentlich Sagbaren bezeichnet Link als „binären Reduktionismus“. Dieser ermögliche die zwei eindeutigen Positionen von Dafür und Dagegen. Es gebe die „Protonormalisten“, die sich klar zur Unterstützung des angegriffenen Landes bekennen, und die „flexiblen Normalisten“, die eine relativierende Position zum Krieg vertreten.11
Links Argumentation basiert auf dem Narrativ, dass es sich beim Krieg in der Ukraine um einen eskalierten Konflikt handelt, den Außenstehende befrieden können. Sie trifft auf die reale Kriegssituation in der Ukraine nicht zu. Das Scheitern aller vor Beginn der Invasion begonnenen, bis heute andauernden Gespräche ist im Wesen dieses Krieges begründet, der angefangen wurde mit der Absicht, die ukrainische Identität auszulöschen und das ukrainische Territorium Russland einzuverleiben. Die Ukraine will eben das nicht und Russland will von diesem Ziel nicht ablassen. Ein Diskurs kann nur so differenziert sein wie die diesem zugrunde liegenden Realitäten.
III. Die Akteure der Zeitenwende
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Die Akteure der Zeitenwende sind unmittelbar die kriegsführenden Parteien Russland und Ukraine und mittelbar die jeweiligen Unterstützerstaaten. Die von Russland artikulierten Kriegsmotive, -ziele und -narrative sind ausschließlich rückwärtsgewandt. Solche von Putin angeführten Vergangenheitsnarrative sind z.B. eine gemeinsame Ursprungsgeschichte in der 
Kiewer Rus’
rus. Киевская Русь, ukr. Київська Русь, eng. Kievan Rus', deu. Altrussland (veraltet), deu. Kyjiver Rus, eng. Kyivan Rus, bel. Кіеўская Русь, deu. Kiewer Reich

Die Kiewer Rus' entstand, als im 9. Jahrhundert skandinavische Fernhandelskaufleute und Krieger, die Waräger, Stützpunkte entlang der Flusssysteme Osteuropas anlegten und sich in Folge mit den Eliten der ansässigen ostslavischen Bevölkerung vermischten. Sie war ein Zusammenschluss von (Teil-)Fürstentümern mit Kiew an der Spitze. Die Kiewer Rus umfasste im 11. und 12. Jahrhundert ein Gebiet zwischen Galizien und Wolhynien (Halyč und Volyn’) im Südwesten, Polock im Westen, Novgorod im Nordwesten, Vladimir-Suzdal' im Nordosten und Kiew im Süden.

und der im kollektiven Gedächtnis Russlands verankerte Vaterländische Krieg. Putin nennt den Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts und deutet (mit Bezug auf den Kalten Krieg) seinen Angriffskrieg auf sein Nachbarland um in einen Kampf gegen ein angebliches Nazi-Regime in der Ukraine, einen Stellvertreterkrieg gegen den kollektiven Westen kollektiven Westen Von russischen Politikern und Intellektuellen geprägtes und in der russischen politischen Kommunikation verwendetes Schlagwort, das im Kontext der sich seit 2014 verschärfenden Konfliktkonstellation zwischen Russland und seinen Alliierten auf der einen und westlichen Staaten um EU und USA auf der anderen Seite steht. Im Zuge des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine gehört das Feindbild des „kollektiven Westens“ zum festen Repertoire, mit dem Russland die Politik westlicher Staaten zu denunzieren sucht. , oder einen Präventivkrieg, um der Bedrohung der Nato zuvorzukommen. Putin fantasiert sich die Zukunft des Landes als Wiederkehr eines glorreichen Russlands, das sich seine Nachbarstaaten im Namen von Brüderlichkeit aneignet.
Der in der Schweiz lebende russische Bestsellerautor Schischkin führt im in der FAZ erschienenen Artikel „Russische Deutschstunde“ mit Hilfe eines literarischen Rückgriffs virtuos vor, mit welchen Methoden und unter welchen Voraussetzungen der Putinismus funktioniert. Schischkin kombiniert Ausschnitte aus Radiosendungen und Briefen Thomas Manns, die dieser im 2. Weltkrieg an Hitler-Deutschland gerichtet hatte. Dabei ersetzt er das Wort ‚deutsch‘ durch ‚russisch‘. Das klingt z.B. so: „Das russische Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt […] wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinären Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen.“12  Schischkins Sprachexperiment weist Putin-Russland als eine Imitation Hitler-Deutschlands aus. Die auf schon Dagewesenes rekurrierende Nachahmung kann als Narrativ für das gegenwärtige Russland gelten, das die drei Staaten Russland, Deutschland und die Ukraine betrifft und sich gegenläufig zum zukunftsgerichteten Zeitenwende-Narrativ verhält.
Die Kriegsnarrative der Ukraine sind Zukunftsnarrative. Das Land verteidigt seine Souveränität und Freiheit sowie die angestrebte Zukunft als EU-Mitglied. Der Angriffskrieg ist ein (von Russland aufgezwungener) Katalysator für die von der Ukraine intendierte Zukunftsgestaltung innerhalb von und gemeinsam mit Europa. Damit erscheint die Ukraine als die treibende Kraft bei der Neuaufstellung Europas im Kampf zwischen demokratischen und autokratischen Systemen und so die eigentliche Akteurin der Zeitenwende. Gelingt diese, wird die Ukraine ein konstituierender Teil der „Welt danach“ sein. In dieser Neukonstellation ist ein weitreichendes politisches Konzept notwendig, damit das Krisennarrativ „Zeitenwende“ zu einem Zukunftsnarrativ wird und in seiner sinnstiftenden Funktion Zukunftspotential und Zukunftsanlage sein kann.
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Dieser Beitrag ist Teil einer Beitragsserie, die auf der Tagung Deutsche Narrative zu Russlands Krieg in der Ukraine basiert. Die Tagung fand im Rahmen der Themenwoche Krieg in der Ukraine der Volkswagenstiftung vom 22. bis 24. Februar 2023 im Schloss Herrenhausen in Hannover statt. Die Veranstalterinnen: Dr. Cornelia Ilbrig (Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen), Dr. Jana-Katharina Mende (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und Prof. Dr. Monika Wolting (Universität Wrocław). Sowohl die Tagung als auch die Übersetzung dieses Beitrags wurden durch die Volkswagen Stiftung ermöglicht.
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