Am 12. November 2021 fand anlässlich des Launches des Online-Portals „Copernico“ die virtuelle Tagung „Digitaler Wandel in der Wissenschaftskommunikation. Herausforderungen für die Erforschung und Präsentation der Geschichte des östlichen Europa“ statt. Vortragende aus den Digital Humanities und der Geschichtswissenschaft, Museen und Institutionen waren geladen, um sich über die Chancen und Herausforderungen digitaler Wissenschaftskommunikation auszutauschen. Rahmung und Pausen wurden stimmungsvoll untermalt mit den „(Nach-)Klängen der Bukowina“, einem im Copernico-Portal veröffentlichten Musikprojekt.
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Peter Haslinger begrüßte die Teilnehmenden und betonte den Mehrwert durch geballte Kompetenz der vielen Institutionen im Verbund und die Projektförderung durch die BKM. Als Vertreterin der BKM sprach Maria Bering. Sie betonte die Wichtigkeit des verbindenden Elementes in der Geschichte des östlichen Europas und Deutschlands, das sowohl durch Nachwirkungen des Eisernen Vorhangs als auch durch das Erstarken populistischer Kräfte in den Hintergrund gedrängt zu werden droht. In Anlehnung an Goethes vier Epochen der Wissenschaften machte sie aus, dass wir uns in einer fünften, digitalen Epoche befinden.
Keynotes
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Die erste von drei Keynotes, „Quellenlose Zeiten? Die transformative Kraft digitaler Forschungsinfrastrukturen“ hielt Stefan Schmunk. Am Beispiel der Voyager-Sonde, deren Daten nur noch von pensionierten Wissenschaftler:innen gelesen werden können, verdeutlichte er der Runde die Wichtigkeit der nachhaltigen Maschinenlesbarkeit. In Anbetracht der Flüchtigkeit digitaler Daten stellte er heraus, dass das 21. Jahrhundert sich zu einem „Dark Age“ entwickele, dessen Quellen für Historiker der Zukunft nicht überliefert oder zumindest nicht lesbar sein werden. Wir befinden uns in einer Sattelzeit.  Im Zeitalter von „born digital“ Quellen werde auch das Provenienzprinzip nicht mehr tragen; Daten müssen durch Metadaten für die Überlieferung strukturiert und beschrieben werden. Die Daten selbst seien dabei nur eine Inkarnationsebene von vielen; zugleich müsse man Programmierungen, Schnittstellen und Oberflächen erforschen.
 
Die zweite Keynote unter dem Titel „Geschichte digital? Chancen, Möglichkeiten und Grenzen digitaler Methoden für die Geschichtswissenschaft“ hielt Katja Wezel. Sie wies auf Unterschied zwischen digitization und digitalization hin. Während ersteres die Digitalisierung einer Quelle z.B. durch Einscannen bedeute, umfasse letzteres den gesellschaftlichen Prozess der Digitalisierung mit allen seinen Implikationen. Ferner stelle sie J. Druckers Konzepten von Data und Capta vor; der konzeptionelle Zugriff auf Daten mache sie zu Capta. In der digitalen Quellenkritik sei auch die hergebrachte Unterscheidung zwischen Tradition und Überrest nicht mehr anwendbar.
 
Die dritte Keynote, „Wie verändert der Digitale Wandel Wissenschaftskommunikation“, hielt Martina Franzen. Sie wies darauf hin, dass sich mit zunehmender digitaler Vernetzung auch die Richtung der Kommunikation über Wissenschaft von einem linearen Modell hin zu wechselseitiger Kommunikation mit der Öffentlichkeit wandele.
Vorträge
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Peter Haslinger referierte über „Quellenkritik und Kulturerbedokumentation als Herausforderung für eine digitale Wissenschaft.“ Digitalität bezeichnete er als „Game Changer“. So gebe es etwa viele neue ethische Herausforderungen wie die Gefahr einer Algorithmisierung von Geschichte ohne reflektierende Begleitung. Auch die intrinsische Verwobenheit von Hard- und Software, angelehnt an Akteur-Netzwerk-Theorie, sprach er an.  Die Frage nach dem Original sei in digitalen Zeiten nicht mehr sinnvoll zu stellen, wohl aber die nach Authentizität und Integrität der Quelle. Eine weitere Herausforderung sei, dass wir im Internet nicht als Bürger:innen, sondern als Verbraucher agieren. Zuletzt stellen Fake News und Deep Fakes Fallstricke für Geschichtsinteressierte im Internet dar. Auch unkritische Bewertungen, zum Beispiel national glorifizierender Museen, seien im Netz zuhauf zu finden. Die Aufgabe, die sich stelle, sei Qualitatives mit Quantitativem zu kombinieren und online für Inhalte zu interessieren die man forschungstechnisch für vertretbar hält. Es brauche eine digitale Erinnerungskultur, Vergangenheitspolitik und Mnemotechnik.
 
Frédéric Döhl stellte das Perspektivpapier „Kulturen im digitalen Wandel“ der Bundesregierung vor, welches das Anliegen hat, mit seinen Arbeitsfeldern Verständigung, Verlässlichkeit, Verfügbarkeit, Vermögen, Vermittlung und Vernetzung den öffentlichen Kulturbereich digital zu stärken. Für das Copernico-Portal, an das er die Ansprüche des Papiers anlegte, fand er lobende Worte: An die Nutzer:innen werde Wissen niedrigschwellig vermittelt, hochwertige Recherchewerkzeuge stehen zur Verfügung und Kulturgut sei direkt nutzbar, für die Macher:innen und das Partnernetzwerk werden Datenstandards gebildet sowie Zusammenarbeit und nachhaltige technische Interoperabilität gefördert.
 
Herzstück der Tagung war die Projektvorstellung von <www.copernico.eu>{#3343} durch Antje Johanning-Radžienė, Barbara Fichtl, Felix Köther und Heidi Hein-Kircher.
Projektpräsentationen
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In der folgenden Stunde wurden fünf Kurzpräsentationen gehalten. Den Aufschlag machte Markus Winkler mit der Vorstellung von „Vermessung der Ghettos“, einem digitalen Projekt zum Thema Holocaust in Belarus, der Ukraine und der Republik Moldau. Unter der Begleitung von Projektteams eigenständig erarbeitete Mikroprojekte unterschiedlichen Formats von hauptsächlich studentischen Teilnehmer:innen flossen in eine sechssprachige Website, die unter https://ghettos.digital/ abrufbar ist. Juhan Kreem präsentierte „Digital Livonia“, ein im Entstehen begriffenes Portal mit dem Ziel, eine Fülle von vorhandenem Material über das mittelalterliche Livland in Form von Digitalisaen und digitalen Editionen zusammenzubringen und in Datenbanken durchsuchbar zu machen. Das Projekt, das als Initiative von Forschern begann, soll in Zukunft auch eine breitere Öffentlichkeit ansprechen. Frauke Hagemann referierte über das deutsch-polnische Lehrwerk „Europa – unsere Geschichte“ und die Potenziale digitaler Lernmedien für die historische Bildung. Dabei käme es nicht um die Umsetzung eines Druckwerks in ein E-Book an, sondern auf innovative Didaktik und flexible multimediale Themenmodule, die die Trennung von Printschulbuch und digitaler Welt aufheben. Joachim Mähnert stellte unter dem Schlagwort „Wunsch und Wirklichkeit“ den Einsatz von Social-Media-Kanälen am Ostpreußischen Landesmuseum mit Deutschbaltischer Abteilung vor. Er kontrastierte die Formate und Zielpublika auf Facebook, Instagram und YouTube. Besonders letzteres wurde seit der Corona-Pandemie verstärkt genutzt und erreiche über die Vorschlagsfunktion auch Menschen außerhalb der eigenen Abonnenten. Gudrun Wirtz sprach über das digitale Publizieren von Egodokumenten, z.B unter https://www.osmikon.de/materialien/ego-dokumente. Selbstzeugnisse und unveröffentlichte Informationen aus behördlichen Vorgängen seien potentielle Forschungsdaten. Als Beispiel für eine Veröffentlichung stellte sie die Seite <www.elsa-winokurow-esg.de>{#3347} vor, ein studentisches Projekt des Elitestudiengangs Osteuropastudien der LMU München und der Universität Regensburg.
Podiumsdiskussion
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Es folgte eine Podiumsdiskussion unter dem Thema „Aktuelle Tendenzen und Zukunftsperspektiven der Erforschung und Präsentation der Geschichte des östlichen Europa“ mit Iwona Dadej, Juhan Kreem, Hans-Christian Petersen und Maren Röger unter der Moderation von Christian Lotz. Maren Röger betonte, dass auch 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer in der Gesellschaft erschreckend wenig Grundlagenwissen über das östliche Europa vorhanden sei. Es brauche sowohl Fachbücher als auch niedrigschwellige Angebote im Internet. Vor allem solle man komparative und Verflechtungsgeschichte vorantreiben, um das östliche Europa selbstverständlicher als Teil der europäischen und der Globalgeschichte zu zeigen. Hans-Christian Petersen wies auf die Debatten hin, die unter den Stichworten „Post-Migrantisch“ und „Post-Ost“ online geführt werden. Als Forschende:r könne und müsse man in Dialog mit der Öffentlichkeit treten – ein Prozess, der neue Herausforderungen birgt. Juhan Kreem betonte die Wichtigkeit der Nachhaltigkeit von Daten, die Handarbeit hinter Metadaten und Transkriptionen, sowie die Bedeutung von Dramaturgie bei der Präsentation von Geschichte als einem Unterhaltungsprodukt unter vielen. Iwona Dadej wies darauf hin, dass nicht überall zur gleichen Zeit die gleichen Paradigmenwechsel stattfinden. Man solle vergleichend, multiperspektivisch und verflechtungsgeschichtlich arbeiten. Auf die Frage hin, ob die Geschichtswissenschaft nun nicht mehr als eine Wissenschaft der „alten Männer“ gelten könne sondern von jungen Menschen vor sich her getrieben würde, bereicherte Juhan Kreem die Runde um den internationalen Vergleich, dass auch in der Vergangenheit nicht jede:r akademisches Schreiben so hermetisch betrieben habe wie die Deutschen. Iwona Dadej merkte an, dass medienwissenschaftliches und historisches Know-How zusammengebracht werden müssen, um etwa Filme zu produzieren, die sowohl gestalterisch als auch inhaltlich gelungen seien. Kreem ergänzte dass dasselbe für Ausstellungen gelte. Lotz‘ nächste Frage bezog sich auf das Konzept der Sattelzeit und Daten als digitalen „Überresten“, bzw. einer Neukonzeption des Zusammenhanges zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hans-Christian Petersen,  Maren Röger und Iwona Dadej sprachen daraufhin über das Geschichtsverständnis (post-)migrantischer Communities und deren Neudefinition von Begriffen, aber auch über die Herausforderungen vor die man im Umgang mit privaten Geschichtsdeutungen gestellt wird. Im Folgenden wurden Sprache(n) und (automatische) Übersetzungen diskutiert. In welchen Sprachen man über welche Räume spreche und an welches Publikum man sich damit richte sei eine wichtige Überlegung, so Maren Röger. Iwona Dadej merkte an, dass eine schlechte Übersetzung in vielen Fällen immer noch besser sei als gar keine. Juhan Kreem fügte hinzu, dass nicht nur die Sprache sich bei den Zielpublika unterscheide – für Esten schreibe er auch anders als für Deutsche.
Zusammenfassung und Ausblick
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Zum Abschluss der Tagung fasste Peter Haslinger zusammen: Mit binären Denkstrukturen komme man nicht weiter, das Digitale sei ein ambivalenter Möglichkeitsraum. Als „Nachzügler“ müssen wir auch das System für Laufbahnen überdenken, etwa die Länge von Promotions- und Projektzeiträumen. Auch solle Transfer stärker als Forschungsfrage begriffen werden, kreative Lösungen dicht dokumentiert und im Sinne der Wirkungsforschung untersucht werden. Das digitale sei ferner auch ein Rückversicherungsraum bei gleichzeitiger Prägung sozialer Wirklichkeit. Auch Translation solle zu einem Forschungsthema gemacht werden. Die Zweigleisigkeit in der Geschichtswissenschaft zwischen den Bewahrern des Analogen und den Euphorikern des Digitalen halte er für ungesund. Er mahnte auch an zu beachten dass die jüngere Generation sich geschichtlichen Themen oft über nicht quellenkritische Medienprodukte wie Computerspiele nähere und sich dadurch aber dafür interessiere, wie man der Vergangenheit tatsächlich näher kommt. Zuletzt sei es spannend, über historische Quellen als Phänomen neu nachzudenken – was ist technisch als Quelle zu verstehen, gehen wir tatsächlich auf quellenlose Zeiten zu oder eher in Material unter? Content steht mehr zur Verfügung als man bearbeiten kann, nun kommt es darauf an kollaborative Situationen zu schaffen, Expertisen in Netzwerken zu bündeln und innovative Formate zur Vermittlung zu erarbeiten.