Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und hatte 2019 etwa 1,5 Millionen Einwohner:innen. Die Stadt wurde 1630 oder 1653 im „Wilden Feld“ gegründet, wie die Steppenlandschaft in der heutigen Süd- und Ostukraine damals genannt wurde. Mit der Verschiebung der russischen Grenze nach Süden verlor es seine Bedeutung als Festung, wurde daraufhin aber zum Handels- und Handwerkszentrum. 1918 bis 1934 war Charkiw die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. Seit Februar 2022 erlitt Charkiw starken Beschuss im russisch-ukrainischen Krieg.
Wir stehen mit meiner Großmutter am Fenster und schauen hinaus. Wir befinden uns in der ersten Etage. In eben diesem Augenblick kamen die Deutschen vom Charkiwer Zentrum her in Richtung Gorki-Park. Ein ganzer Haufen Deutscher. Sie gehen leise, niemand rührt sie an, und sie gehen vorbei. Ein paar Leute, ein bisschen ...
Und hier stehen wir mit meiner Großmutter am Fenster, die Deutschen kommen und meine Großmutter war damals schon alt. Sie sagt: „Jungs, Jungs, so wie ihr gekommen seid, so werdet ihr auch wieder gehen.“
Gestern und heute bombardieren die Deutschen Charkiw aus der Luft. Viele Verluste unter der Bevölkerung. Ich bin froh, seit ich begonnen habe, diesen Bombardements ganz in Ruhe zu begegnen. Der Herzschlag beschleunigt sich nur noch leicht, wenn ein deutsches Flugzeug irgendwo ganz nah und tief fliegt... Ich fühle mich unheimlich ruhig, wenn meine Frau und meine Kinder in einem Luftschutzkeller sind.
17. Oktober
Es wird gemunkelt, dass man einen großen Angriff durch deutsche Flugzeuge erwarte. Mir fällt es schwer, den Sinn dieser Maßnahme zu begreifen. Charkiw wird so oder so aufgegeben werden, wenn nicht morgen, so doch gewiss in zwei Wochen oder einem Monat. Warum zerstören sie die Stadt, die ihnen gehören wird? ... Die letzten Kommunisten verlassen die Stadt. Wahrscheinlich sind die Deutschen schon sehr nahe, denn die Karren werden in östlicher Richtung durch die Stadt gezogen. Wenn sie Charkiw doch nur ohne Blutvergießen übergeben hätten. Schließlich gibt es zwischen den Städten viel Platz, und es wäre bequem, die Kämpfe dort auszutragen. Warum ist es notwendig, in der Stadt zu kämpfen? Das ist doch gänzlich sinnentleerte Grausamkeit! Es ist jetzt fünf Uhr. Es gibt kein Licht. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt und verdeckt. Ich schreibe im Schein einer flackernden Kerze. Klirrende Kälte! Aufgrund des Mangels an Elektrizität ist der elektrische Kamin nicht in Betrieb. Die Temperatur im Zimmer beträgt kaum +5 С°.“
„Die Bombardements waren schrecklich. Wie ein Dreieck wurde im Garten ein Graben ausgehoben, und alle Nachbarn rannten dorthin und versteckten sich. Es war so schrecklich, als ob in jedem Augenblick eine Bombe auf dich fallen würde. Und dann spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben, was Angst ist, und dieses Gefühl der Angst blieb bei mir für den Rest meines Lebens. Das ist wahre Angst.“
Inna Havrylchenko, eine Schriftstellerin aus Charkiw, die während der gesamten Besatzungszeit in der Stadt blieb und deren Vater 1942 verhungerte, erinnert sich im Jahr 2020: „Dort, am Bahnhof, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben und auch zum letzten Mal in meinem Leben, wie ein Mann über die Menge lief, indem er über ihre Köpfe ging. Können Sie sich das vorstellen? Er trat in diese Militärstiefel (wie konnte er sein Gleichgewicht halten?), stolperte (die Köpfe sind rund), stolperte über die Schultern, aber er ging über ihre Köpfe! Am Ende fiel er, fiel vorwärts. Wie er fiel, ob er aufstand – das sah ich nicht. Aber ich träume immer noch: Militärstiefel, die über Köpfe gehen... Du bewegtest dich nicht selbst. Die Menge trug dich. Ich erinnere mich an so ein wildes Bild: Da war ein alter Wagon, bei dem ein paar Fenster hochgezogen waren, andere waren heruntergelassen. Eine Frau mit Kleinkind vor uns eilte zu einem solchen Fenster und schob das Kind in den Fensterspalt hinein. Und sie sagt: ‚Nehmt wenigstens den Säugling!‘ Es war unmöglich, in die Waggons hineinzukommen. Einige klammerten sich an die Puffer, wissen Sie. Einige stiegen auf die Dächer des Zuges. Und sie, die nicht auf das Dach klettern oder auf dem Puffer mitfahren konnte, schubste das Kind: ‚Nehmt wenigstens ihn mit!‘ Ohne zu wissen, wohin! Nehmt einfach das Kind mit. Denn Charkiw war schon stark zerbombt.“
„22. Oktober. Meine gestrige Vorhersage ist nicht eingetreten: Die Deutschen sind noch nicht in die Stadt eingedrungen. Artilleriebeschuss ist zu hören: irgendwo ganz in der Nähe, aber noch außerhalb des Stadtrings. In der ganzen Stadt gibt es keine Polizei mehr. An einigen Stellen wird die Front von Militärs bewacht. Aber im Großen und Ganzen regiert hier der Mob. Viele Betrunkene. Ich habe Randalierer gesehen, die obszöne Lieder grölten und Zylinderhüte trugen. Die müssen sie irgendwo gestohlen haben (ist das nicht im Theater?).“
Am Tag vor der Eroberung Charkiws erließ der Kommandeur des 55. Armeekorps der Wehrmacht, General Erwin Vierow, einen Befehl über den Umgang mit der Zivilbevölkerung. Darin hieß es: „alle Mittel der Sieger sind richtig, wenn sie zur Herstellung von Frieden und Ordnung in Charkiw beitragen“. Und weiter: „Extreme Grausamkeit in der Behandlung der lokalen Bevölkerung ist notwendig und zwingend.“
Der erste Mann wurde einen Tag nach der Einnahme von Charkiw gehängt, am 25. Oktober 1941. Für solche Einschüchterungsaktionen nutzten die Deutschen mit Vorliebe belebte Orte in der Innenstadt – Plätze, Hauptverkehrsstraßen, Märkte – und ließen die Leichen mehrere Tage lang hängen. Während des ersten Monats der Besatzung hängten die deutschen Besatzer 116 Menschen im Stadtgebiet. Vom ersten Tage an waren diese Exekutionen öffentlich: Die Militärkommandantur versammelte die Einwohner:innen auf dem zentralen Platz und zwang sie regelrecht, den Hinrichtungen beizuwohnen. Als Ort war der Balkon des regionalen Parteikomitees gewählt worden. Diese Aktion hatte eine symbolische Bedeutung: die Nazis verkündeten die „neue Ordnung“ und zeigten Stärke.