Welche Rolle spielen die digitalen Geisteswissenschaften in Kriegszeiten? Seit dem 24. Februar 2022 ist die Ukraine den Angriffen der russischen Truppen ausgesetzt. Eine breite Öffentlichkeit steht der Ukraine mit verschiedenen Initiativen zur Seite – humanitär wie auch kulturell. Wir sprachen mit Quinn Dombrowski von der Stanford University über eine Initiative, die sich die Rettung des digitalen Kulturerbes der Ukraine auf die Fahnen geschrieben hat.
Text
Copernico:
Sie gehören zu den Koordinator:innen von SUCHO - Saving Ukrainian Cultural Heritage Online. Wann, wo und durch wen wurde die Initiative SUCHO angestoßen? Wie schnell konnte nach Kriegsbeginn gehandelt werden?
Quinn Dombrowski:
In den ersten Tagen des Krieges habe ich - wie so viele andere - nur die Nachrichten verfolgt und mich miserabel gefühlt. Es war Anna Kijas, eine Musikbibliothekarin an der Tufts University, die als Erste aktiv wurde. Am ersten Wochenende (27. 2. 2022) hat sie über eine Datenrettungsveranstaltung getwittert, die sie für das folgende Wochenende geplant hatte. Mir gefiel der Gedanke, tatsächlich etwas zu tun, um zu helfen, sogar vom anderen Ende der Welt aus, aber ich war besorgt, dass eine Woche Wartezeit zu lang sein könnte. Sebastian Majstorovic vom Austrian Center for Digital Humanities and Cultural Heritage hat ebenfalls Annas Tweet gesehen, und wir vernetzten uns am Montag mit einigen anderen Kollegen, um darüber zu sprechen, wie wir schneller mehr tun könnten. Am nächsten Tag, dem 1. März, ging SUCHO an den Start: Wir erstellten die Website, schrieben die Tutorials für die Web-Archivierung, richteten Slack ein und erstellten Formulare für die Anmeldung von Freiwilligen. Am nächsten Tag hatten wir schon 400 Freiwillige.
 
Copernico:
Auf Ihrer Website steht, dass 1.300 Fachleute aus dem Bereich Kulturerbe für SUCHO arbeiten. Woher kommen sie, welche Institutionen wirken mit?
Quinn Dombrowski:
Viele unserer Freiwilligen kommen aus dem Bereich des kulturellen Erbes, aber wir haben auch Leute in unserer Gruppe, die einfach nur helfen wollen - ihr Alter reicht von Rentnern, die ihre Freizeit sinnvoll nutzen wollen, bis hin zu Grundschulkindern, die gerade erst etwas über Web-Archivierung und den Krieg lernen. SUCHO wird von Freiwilligen getragen und ist nicht formell mit einer Organisation verbunden, und das war wichtig: Kulturerbe-Organisationen haben Prozesse und Verfahren, die sie viel langsamer arbeiten lassen, als es in dieser Situation nötig gewesen wäre. Die Organisationen, für die ich arbeite, die Stanford Libraries und die Stanford Division of Literatures, Cultures, and Languages, waren äußerst hilfsbereit und haben es zugelassen, dass diese Arbeit den größten Teil meiner Arbeitszeit einnimmt, und haben viele meiner Kollegen ermutigt, sich ebenfalls zu engagieren. Aber die meisten unserer Freiwilligen müssen irgendwie versuchen, ihre "normalen Jobs" und ihre SUCHO-Arbeit unter einen Hut zu bringen. Unsere Freiwilligen kommen hauptsächlich aus Nordamerika und Westeuropa, und die Zeitverschiebung sorgt dafür, dass die Arbeit kontinuierlich weitergeht: Wenn ich in Kalifornien ins Bett gehe, beginnt der Tag in Westeuropa.
 
Copernico:
Wie läuft die Rettung ukrainischen Kulturerbes in Ihrer Initiative konkret ab? Welche Methoden wenden Sie an und welche Probleme traten auf?
Quinn Dombrowski:
Wir verwenden zwei Hauptansätze für die Archivierung von Websites mit kulturellem Erbe: das Senden von Links an die Wayback Machine, die vom Internet Archive betrieben wird, und die verteilte Erstellung von Webarchiven mit der kostenlosen Open-Source-Software Webrecorder auf unseren eigenen Laptops und Servern. Es ist wichtig, beides zu haben: nicht nur aus Gründen der Redundanz (man sagt unter Bibliothekar:innen: LOCKSS - Lots of Copies Keeps Stuff Safe; „Viele Kopien geben Sicherheit“), sondern auch, weil es bedeutet, dass wir nicht von einem einzigen System oder einer einzigen Plattform abhängig sind. Zu Beginn des Projekts gab es einen Stromausfall im Internet Archive, wodurch die Wayback Machine einen Vormittag lang offline war. Normalerweise ist das kein Problem, aber in einem Krieg, in dem jede Stunde zählt, wollten wir nicht riskieren, dass ein einziges Ereignis wie dieses unsere gesamte Arbeit zum Stillstand bringt.   Wir werden auch oft nach Cyberangriffen gefragt und ob diese ein Problem darstellen. Damit haben wir weniger zu tun als man meint, aber unsere Web-Archivierungsarbeit - bei der mehrere Seiten einer Website gleichzeitig geladen werden - kann für die automatisierten Prozesse eines Servers manchmal wie ein Cyberangriff aussehen, und wir können unsere guten Absichten nicht vermitteln. Daher müssen wir manchmal langsamer arbeiten oder Websites manuell in den Browser laden und sie mit dem Webrecorder-Browser-Plugin aufzeichnen.
 
Copernico:
Auf welche bestehenden Infrastrukturen und Netzwerke konnte Ihre Initiative zurückgreifen, was musste neu geschaffen werden?
Quinn Dombrowski:
Das Internet Archive ist eine der wichtigsten, sowohl im Hinblick auf die technische Infrastruktur, die sie für die Wayback Machine eingerichtet haben, als auch auf den rechtlichen Präzedenzfall, den sie für die Legitimität der Web-Archivierung geschaffen haben, zumindest in den USA. (Das US-Berufungsgericht hat erneut entschieden, dass die Web-Archivierung und das Scraping öffentlicher Websites legal sind, nachdem wir bereits mit unserer Arbeit begonnen hatten). Wikidata war auch eine wertvolle Ressource für die Suche nach ukrainischen Museums- und Bibliothekswebsites, obwohl wir feststellen mussten, dass ein großer Teil dieser Daten veraltet war, da einige Websites nicht mehr existieren oder umgezogen sind. Im Rahmen dieses Prozesses konnten wir Wikidata aktualisierte Informationen über diese Ressourcen übermitteln.   Wir haben jedoch festgestellt, dass es zwar einen Präzedenzfall für die dringende Archivierung von Webdaten gibt (z. B. von Klimadaten auf Regierungswebsites nach der Wahl Trumps im Jahr 2016), aber anscheinend keinen Präzedenzfall für die Archivierung während eines Krieges. Es ist eine ganz andere Situation, wenn man versucht, während eines Krieges Websites zu archivieren, die immer wieder ausfallen (an einem durchschnittlichen Tag sind 14-20 % der URLs auf unserer Liste offline), als in einer kontrollierteren Situation, in der man methodischer arbeiten kann. Wir möchten einige der Prozesse, die wir entwickelt haben, und die daraus gezogenen Lehren in einem frei zugänglichen Buch veröffentlichen wenn wir fertig sind, damit Leute, die dies in Zukunft tun, nicht wieder ganz von vorne anfangen müssen.
 
Copernico:
Gibt es eine Priorisierung für die Rettung der digitalen Kulturgüter?
Quinn Dombrowski:
Wir haben Leute, die die Situation im Auge behalten - sie verfolgen stündlich die Luftangriffswarnungen und andere Warnungen, die für die Menschen in der Ukraine bestimmt sind - und wir ordnen die ausstehenden Links je nach ihrem Standort neu zu. Wir haben auch Leute, die mit Google Maps digital durch die Straßen der belagerten Städte gehen, nach dem Symbol für Kulturerbe/Museen suchen und dann überprüfen, ob diese Orte über Websites verfügen.
 
Copernico:
Gibt es einen besonderen „Schatz“, über dessen Sicherung Sie persönlich besonders froh sind oder um den Sie noch bangen?
Quinn Dombrowski:
Sebastian hat es geschafft, die Website des Staatsarchivs von Charkiw mit all ihren digitalisierten Inhalten zu archivieren, und zwar Stunden vor dem Ausfall, nachdem sie nicht mehr wieder online gegangen ist. Jeder hat einen anderen Schwerpunkt, Dinge, nach denen er sucht und für die er sich begeistert. Für mich, vielleicht weil ich drei kleine Kinder habe, sind es Kinderbibliotheken, Musikschulen und Nachmittagsprogramme für Schüler:innen. Wir denken nicht oft daran, dass es sich dabei um kulturelles Erbe handelt, aber es sind die Orte, an denen junge Menschen sich mit der Kultur ihres Landes auseinandersetzen und dessen Zukunft mitgestalten. Einer meiner Favoriten war ein Nachmittagsprogramm, das seinen Blog vor dem Krieg täglich aktualisiert hatte. Einer der letzten Beiträge war ein Kinderkunstprojekt mit dem Titel "Ich bin Ukrainer:in, und das klingt stolz!" Es gab Fotos von den Kreationen der Kinder - Bilder von Sonnenblumen und Herzen und eine Karte der Ukraine. Ich habe die Website archiviert, aber später noch einmal nachgeschaut, um festzustellen, dass die Beiträge gelöscht worden waren, wahrscheinlich um sie nicht zur Zielscheibe zu machen. Ich bin froh, dass wir eine Kopie des ursprünglichen Zustands haben, so dass wir diese Bilder den Leuten, die das Programm betreiben, zurückgeben können, wenn sie in der Lage sind, es wieder aufzubauen.
 
Copernico:
Warum ist in einem Krieg  gerade auch die Rettung des digitalen Kulturguts wichtig?
Quinn Dombrowski:
Äußerungen aus dem Kreml deuten darauf hin, dass es in diesem Krieg vor allem darum geht, wer über ein Land, eine Sprache und eine Kultur entscheiden darf, und dass die Ukrainer:innen dieses Recht angeblich nicht haben. Diese Websites repräsentieren das ukrainische Kulturerbe, wie es die Ukrainer:innen für die Welt aufbereitet haben und wie es die Menschen in der Ukraine täglich leben. Darüber hinaus können Dinge wie Fotos und Kataloge von Bibliotheks- und Museumsbeständen in Zukunft nützlich sein, zum Beispiel bei Kriegsverbrechertribunalen, wenn diese Materialien geplündert oder zerstört worden sein sollten.
 
Copernico:
Wie schätzen Sie die Lage des Ukrainischen Kulturerbes in der aktuellen Kriegssituation ein?
Quinn Dombrowski:
Die ukrainische Regierung dokumentiert die Verbrechen gegen das kulturelle Erbe hier: https://culturecrimes.mkip.gov.ua/. Der Schwerpunkt liegt auf der physischen Zerstörung, und es gibt Grund zu der Annahme, dass dies nur ein Bruchteil der Schäden ist, die angerichtet wurden, aber es ist ein Anfang.
 
Copernico:
Was hören Sie von Ihren ukrainischen Partner:innen über die Lage vor Ort? Wie viel digitale Infrastruktur im Kultursektor ist bereits verloren gegangen?
Quinn Dombrowski:
Das ist schwer zu sagen. Es ist schwierig, mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu kommen, und noch schwieriger, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Wir und unsere Partner:innen haben unbegrenzten Speicherplatz angeboten, aber die Menschen vor Ort in der Ukraine haben gleichzeitig so viele Dinge zu tun, von der Sorge um sich selbst und ihre Familien bis hin zum Schutz des materiellen Kulturerbes. An Server wird verständlicherweise oft erst im Nachhinein gedacht, obwohl wir uns an Institutionen wenden, die Interesse an der Digitalisierung ihrer Sammlungen bekundet haben, und versuchen, sie mit der notwendigen Ausrüstung zu versorgen. Aber eine gründliche Untersuchung des Zustands der digitalen Infrastruktur wird wahrscheinlich bis nach dem Krieg warten müssen.
 
Copernico:
Wie können wir - und unsere Leser:innen - Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen?
Quinn Dombrowski:
Im Moment sind wir mit unserem Web-Archivierungsprojekt an der Kapazitätsgrenze angelangt, aber wir sind dabei, einige zusätzliche Initiativen zu starten, die mehr Freiwillige aufnehmen können. Jede:r kann das Freiwilligenformular auf unserer Website ausfüllen, um sich in die Warteliste einzutragen. Wir haben auch einen Link zu unserem OpenCollective auf unserer Website, um einige Infrastrukturkosten für unsere aktuellen und zukünftigen Initiativen zu finanzieren.