In fast allen Religionen spielen Ernährungsregeln und Speisetabus eine wichtige Rolle. Das Beispiel der russischen Altgläubigen zeigt, welche Bedeutung Nahrungspraktiken und Körperbildern in der Abgrenzung von Andersgläubigen zukommen kann.
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Wer in die einschlägigen Foren bei Facebook oder Instagram schaut, kann sehen, dass die bewusste Auswahl von Essen, die Meidung von Speisen und das Fasten Mittel sein können, um sich selbst besser darzustellen und Andersessende abzuwerten. Die mitunter in harschen Worten verfassten Beiträge machen deutlich: Ernährung ist mehr als Nahrungsaufnahme, dahinter stecken ganze Weltentwürfe. Gerade weil der Mensch ein Allesfresser ist, kann er zwischen ganz verschiedenen Speisen wählen – oder aber sich entscheiden, auf gewisse Nahrungsmittel zu verzichten. Dadurch ordnet er sich bestimmten Gruppen zu, und grenzt sich von anderen ab. Wie folgenschwer dies in der Geschichte sein konnte, zeigt die Reformation in Westeuropa – denn in der Schweiz wird ihr Beginn durch einen Fall unbotmäßigen Wurstverzehrs markiert: 1522 veröffentlichte Ulrich Zwingli (1484–1531) hier seine erste reformatorische Schrift Von der Freyheit der Spysen, in der er den Buchdrucker Christoph Froschauer (um 1490–1564) verteidigte, der seinen Arbeitern in der Fastenzeit Würste gereicht hatte. Zwingli argumentierte, Gott sei es gleichgültig, ob der Mensch Fleisch oder Pflanzen esse.
Auch in Russland wurden in der Frühen Neuzeit Ernährungsfragen zu Glaubensfragen. Dies zeigte sich besonders deutlich nach den Reformen des Patriarchen Nikon (1605–1681) in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Das Kirchenoberhaupt wollte die Liturgie und Riten der orthodoxen Kirche im Moskauer Reich wieder den byzantinischen Formen angleichen. Diese Entwicklung weist in einigen Aspekten Ähnlichkeiten mit der Reformation auf. So sollten die ganz unterschiedlichen religiösen Praktiken der Gläubigen vereinheitlicht werden, was wiederum die Herrschaft der Kirchenoberen festigen sollte. Weil viele Christen im Moskauer Reich fürchteten, in ihren vertrauten Glaubenspraktiken eingeschränkt zu werden, sahen sie in den Bestrebungen des Patriarchen keine „Bereinigung“, sondern vielmehr einen Angriff auf ihren Glauben, mitunter sogar das Wirken des Antichristen. Getrieben von der Vorstellung, dass die Kirche keine echte Kirche mehr sei, reagierten sie auf die Veränderungen mit einer demonstrativen Askese, also mit dem Rückzug aus dem weltlichen Leben, verstärktem Gebet und intensivem Fasten. Seitdem nannte sich diese Gruppe orthodoxer Christen „Altgläubige“.
Obgleich Verzichts- und Fastenpraktiken kein Gegenstand der Nikonischen Reformen waren, wurden sie zu einem Mittel, um religiöse Differenzen zwischen Anhängern der offiziellen orthodoxen Kirche und den Altgläubigen sicht- und erfahrbar zu machen. Weil sich die Ernährung der beiden religiösen Gruppen jedoch sehr ähnelte, war die gegenseitige Abgrenzung in dieser Hinsicht schwierig. Das führte dazu, dass sich die Regeln immer weiter verfeinerten. Wie streng gefastet wurde, aber auch welche neuen Speisetabus und Tischregeln eingeführt wurden, markierte die Grenze zwischen den Altgläubigen und den reformierten Orthodoxen, später dann auch innerhalb der verschiedenen altgläubigen Gruppen. Der Blick auf die Ess- und Verzichtspraktiken zeigt damit auch, wie vielfältig die Glaubenswelten innerhalb der Orthodoxie waren.
Strenge des Fastens als Mittel zur Abgrenzung
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Die Fastenzeiten der Altgläubigen entsprechen dem orthodoxen Kalender. Auch sie fasten ungefähr zwei Drittel des Jahres. Angesichts der großen Gemeinsamkeiten erstaunt es auf den ersten Blick, dass ausgerechnet die Fastenpraktiken nach den Nikonischen Reformen zum Kampfmittel wurden. Anhand ihrer Schriften und Polemiken lässt sich aber erkennen, wie die Altgläubigen das Fasten mit neuen Zielsetzungen verbanden und den Körper zum Merkmal religiöser Differenz stilisierten. Die Altgläubigen und die Nikonianer konkurrierten darum, wie streng gefastet und wie genau die religiösen Riten befolgt wurden. Beide Gruppen wollten sich damit als die eigentlichen Rechtgläubigen inszenieren.
Den Gegensatz zwischen Gut und Böse, zwischen Fasten und Völlerei beschwört schon die Autobiographie Awwakums (1620–1682). Während der Wortführer der Altgläubigen seine Mutter als Fastende (postnica) zeichnet, ist sein Vater ein Säufer, der seine Familie durch seine Maßlosigkeit ins Unglück stürzt. Diesem Narrativ bleibt Awwakum treu: Sich selbst und seine Anhänger stellt er als rechtgläubige Christen dar, die das Fasten streng befolgen, selbst in Gefangenschaft. Seine Gegner hingegen seien schwach und würden sich der Völlerei hingeben. In der Selbstbeschreibung wird Schwäche zur Stärke umgedeutet: Er schildert, wie er durch das Fasten körperlich immer schwächer wurde, aber gerade dadurch seine Glaubensstärke zeigte. In seinen Bittschriften an Zar Alexei Michailowitsch (1629–1676) argumentiert Awwakum ähnlich: Dass die Altgläubigen in der Gefangenschaft gezwungen würden, unreine Speisen wie Kadaver und Pferd zu essen, zeige auch, dass ihre Gegner keine wahren Christen seien. In seinen Schriften erscheint dies als perfide Strategie, um die rituelle Reinheit der Altgläubigen zu zerstören. Awwakum wird nicht müde, seinen Anhängern das Fasten zu empfehlen und ihnen mitzuteilen, wann zu essen und zu fasten sei. Immerhin: Auch Askese müsse Grenzen haben. Am Samstag und Sonntag sei nicht zu fasten.
Awwakum versuchte sich auch als Kunstkritiker. An der zeitgenössischen Ikonenmalerei kritisierte er die in Bildnissen seiner theologischen Gegner dargestellte Fettleibigkeit als sündhaft und untrüglichen Beweis für deren Verstöße gegen das Fastengebot. In seinen Schriften markiert der füllige Körper die Zugehörigkeit zu der vom wahren Glauben abgefallenen Kirche. Der ausgezehrte Körper wird hingegen als gottgefälliger Körper dargestellt. Magerkeit stehe für die Gemeinschaft mit den Altgläubigen, die auch mit ihren Körpern den wahren Glauben verteidigten. In seinen Schriften wird der Körper zu einem symbolischen Ort, mit dem der Einzelne sich einer Gruppe anschließen und von anderen Gemeinschaften abgrenzen kann:
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Schaue auf zu den heiligen Ikonen und sieh, wie sie Gott gefallen, wie die guten Ikonenmaler ihre Ähnlichkeit umschreiben: Gesicht, Hände und Nase und alle Sinne sind fein und ausgezehrt durch das Fasten und ihr Leid. Doch ihr habt nun ihre Ähnlichkeit verändert und malt sie so, wie ihr selbst seid: mit dicken Wänsten, runden Gesichtern, Hände und Füße wie Stuhlbeine (stulcy).1

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In einer Zeit, in der Einflüsse aus dem Ausland als Gefahr für den orthodoxen Glauben kritisch beäugt wurden, bezeichnete Awwakum diese neue Malweise als „deutsch“ (pisannye po nemeckomu) und damit als Inbegriff des Fremden. Selbst die künstlerische Ausdrucksform und Motivik werden so zu Kennzeichen eines falschen Glaubens, von dem es sich abzugrenzen galt.
Die Ablehnung des Fremden und die Furcht vor Kontakt mit Andersgläubigen zeigen sich auch in den Regeln, die sich die 1694 gegründete Gemeinschaft der Altgläubigen am Fluss Vyg gab. In dem vom Andrei Denisow (1674–1730), dem Gründer der Gemeinschaft, verfassten Regelwerk (Vygovskij ustav) wurde den Glaubensbrüdern nicht nur das strenge Fasten geboten, sondern auch verboten, allein zu essen und eigene Lebensmittel in ihrer Mönchszelle aufzubewahren. Nur Kranke, die ihre Zelle nicht verlassen konnten, sollten ihre Mahlzeiten allein einnehmen dürfen. Jegliches Essen, das der Sichtbarkeit der Glaubensbrüder entzogen war, war verboten. Und auch der Besuch von fremden, nicht von Glaubensbrüdern bewohnten Häusern war untersagt. Auch hier schufen die Ess- und Verzichtspraktiken Zusammenhalt nach innen und Abgrenzung nach außen. Wie stark der Verzicht die Altgläubigen in ihrem Selbstbild prägte, zeigt sich auch daran, dass sich die Gläubigen untereinander als Fastender (postnik) und Fastende (postnica) bezeichneten.
Speisetabus und Verunreinigung
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Auch andere altgläubige Gemeinschaften bewegte die Frage, wie man sich in einer feindlichen, aus ihrer Sicht vom Antichristen beherrschten Welt einrichten solle. Wieviel Kontakt mit Andersgläubigen und der orthodoxen Kirche war erlaubt? Was führte zu Verunreinigung? Die Antwort waren häufig Speisetabus. Auch sie trugen dazu bei, im Alltag die Abgrenzung von den Nikonianern zu vollziehen. Die Altgläubigen übertrugen die im uloženie, im russischen Gesetzbuch von 1648/49, erlassenen Kontaktverbote gegenüber nichtorthodoxen Ausländern auf die ihrer Ansicht nach vom wahren Glauben abgefallenen Glaubensbrüder. Doch die Unsicherheit, wieviel Verbindung mit Andersgläubigen denn nun gefährlich sei, führte auch innerhalb dieser Glaubensgruppe zu verschiedenen Antworten. Der Streit um die Frage des rechten Glaubens zwischen Nikonianern und Altgläubigen löste sich nicht auf, sondern führte auch innerhalb der Altgläubigen zur Aufspaltung in verschiedene Richtungen. Und auch zwischen den altgläubigen Gruppierungen wurden Speiseregeln, die zunehmend über die üblichen Fastenzeiten hinausgingen, zum Kennzeichen verschiedener konfessioneller Kulturen. An der Differenzierung der Verzichts- und Esspraktiken der Altgläubigen zeigt sich so, dass gerade Speiseregeln besonders wirksam sind, um Grenzen zu ziehen: Wer nicht zusammen essen kann, kann nur schwer miteinander handeln, Geschäfte abschließen, geschweige denn heiraten und gemeinsam leben.
Zunehmend erweiterten die Altgläubigen die wenigen im orthodoxen Glauben wirksamen alttestamentarischen Speisetabus. Nicht mehr allein die im Alten Testament genannten Tiere wie Hase, Pferd und Kriechtiere galten nun als unrein. Auch in den nach dem Schisma Schisma Der Ausdruck Schisma bezeichnet die Spaltung innerhalb einer etablierten religiösen Glaubensgemeinschaft. Auf einer Synode 1666/67 beschloss die Russisch-Orthodoxe Kirche den Ausschluss der Altgläubigen und belegte sie mit dem Kirchenbann. 1667 eingeführten ausländischen Produkten wie Kaffee, Tee, Kartoffeln und Zucker sahen die Altgläubigen eine Gefahr für die eigene Reinheit. Bei den orthodoxen Christen hingegen standen diese Lebensmittel hoch im Kurs. Schwarzer Tee wurde sogar zum Nationalgetränk. Anders als für die Altgläubigen war die unterirdisch wachsende Kartoffel für die orthodoxen Christen kein Teufelsgewächs. Ebenso setzte sich das Gerücht, dass Zucker mit Ochsenblut oder Eiweiß gereinigt werde und deshalb unrein sei, eher bei den Altgläubigen als bei orthodoxen Christen fest. Bestimmte Gruppen von Altgläubigen schlossen auch Schweinefleisch aus ihrem Speiseplan aus, was sich als Folge der engen Nachbarschaft mit jüdischen Gemeinden interpretieren lässt.
Nicht nur die Speisetabus verfeinerten sich, sondern auch die Tischregeln. Zunehmend kamen Vorschriften in Bezug auf das Geschirr hinzu. Um jede Verunreinigung zu vermeiden, entzogen sich die Altgläubigen einer zu engen Gemeinschaft beim Essen: Jeder aß aus einer eigenen Schüssel, mit seinem Löffel. Für Fremde hielten sie ein „verweltlichtes, unreines“ Gefäß bereit. Altgläubige, die der Gemeinschaft der Andachtsräumler (časovennoe soglasie) beitreten wollten, hatten ihr Essgeschirr vor der Aufnahme in die Gemeinschaft sogar nach bestimmten Vorgaben zu reinigen. Doch auch hier wurden Brücken für den Austausch gebaut: Spezielle Tassen und Teller für Fremde erlaubten es, an der Tafel in Kontakt miteinander zu treten, ohne sich der Gefahr der Verunreinigung auszusetzen.
Die alltäglichen Verbote übernahmen zunehmend die Rolle von Sakramenten.2 Insbesondere bei den Gruppierungen unter den Altgläubigen, die keine Priester anerkannten, übernahmen die Speiseregeln die Funktion der fehlenden Kirchenorganisation, die Einheit nach innen und Abgrenzung nach außen schufen. Die priesterlosen Altgläubigen befolgten daher sogar noch mehr Speisegebote im Alltag. Dass Andersessende als Andersgläubige wahrgenommen werden, zeigte sich nicht nur bei den priesterlosen Altgläubigen am Vyg, die sich als Gemeinschaft von Fastenden verstand. Mitunter wurden die Altgläubigen (starovery) sogar als „Tischgläubige“ (stolovery) bezeichnet.
Gerade an den erst nach den Nikonischen Reformen eingeführten Speisetabus zeigt sich, dass das strenge Fasten als Praktik der Unterscheidung zwischen den Nikonianern und den Altgläubigen nicht ausreichend war. Gleichzeitig lässt sich erkennen, dass theologische Differenzen in Alltagspraktiken übersetzt wurden, wenn die rituellen Unterschiede allein nicht sehr groß waren. Erst auf diese Weise wurde die ansonsten schwer erkennbare Abgrenzung sichtbar gemacht. Die Essverbote machten die Unterschiede verständlich und greifbar, um Berührungspunkte und Vermischung mit den Nikonianern, später mit anderen altgläubigen Gruppierungen zu vermeiden. Dabei ermöglicht gerade das tagtäglich erfolgende Essen und Trinken eine lange Aufmerksamkeitsbindung: Die Speiseregeln und Speisetabus lassen sich als permanenter Appell interpretieren, die Grenzen zwischen innen und außen, Gut und Böse sorgsam zu ziehen.
Dieser Appell war besonders wirksam, weil einerseits jede Mahlzeit die Gelegenheit und Notwendigkeit bot, die eigene Prinzipientreue unter Beweis zu stellen, andererseits sich die Wachsamkeitspflichten direkt am eigenen Körper bemerkbar machten. Dabei zeigt die wachsende Zahl und Aufgliederung der Verzichtsregeln, dass Alltagsritualen bei der Unterscheidung zwischen Altgläubigen und den Anhängern der orthodoxen Kirche eine größere Rolle zukam, als diskursiven Praktiken. Die Ausdifferenzierung der Speisetabus in Russland seit dem 17. Jahrhundert macht deutlich, dass Ess- und Verzichtspraktiken wirksame identitätsstiftende Zeichen sind, mit denen sich Zugehörigkeit und Abgrenzungen sichtbar machen lässt.