Wolfgang Crasemann, ein Neffe der berühmten Journalistin Renate Marsch-Potocka, hat aus Interviews und persönlichen Dokumenten - ursprünglich für die eigene Familie - ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben und ihren Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung gewürdigt. Dieser bislang nicht veröffentlichte Text erzählt von ihrer Popularität in beiden Ländern in den Jahren vor 1989.
Text
„Die Menschen hatten zu Renate Vertrauen, weil sie polnisch konnte, sich wirklich für die Polen interessierte, gut zuhörte, sie wann immer möglich half und sie die Gesprächspartner für deren Offenherzigkeit niemals in Schwierigkeiten brachte. Manchmal erfolgten die Mitteilungen auch versteckt. Als die Bevölkerung für die Solidarność Blumenkreuze niederlegte und man Renate dort bemerkte, schob man ihr schon mal unbemerkt vom Sicherheitsdienst Zettel mit versteckten Botschaften zu, die Renate sehr wohl verstand.
 
Wirklich bekannt wurde Renate durch die wöchentlichen Pressekonferenzen, zu denen der Regierungssprecher Jerzy Urban einlud. Da die Regierung Offenheit zeigen wollte, wurden Pressekonferenzen zeitversetzt im Fernsehen ausgestrahlt. Am nächsten Tag wurde ausführlich in der Regierungszeitung „Rzeczpospolita“ darüber berichtet. Dies machten sich die ausländischen Korrespondenten zu Nutze, indem sie kritische Fragen stellten. Besonders Renate fiel auf, denn sie konnte ihre Fragen auf Polnisch stellen. Sie baute in ihre kritischen Fragen auch Informationen ein, zum Beispiel über Proteste und Mangelwirtschaft, die ohne sie so nicht an die polnische Öffentlichkeit gekommen wären.
 
Schon bald wurde sie ein Medienstar, denn die Nachrichtensendung des Hauptprogramms wurde in der damaligen Zeit von der überwiegenden Mehrheit der Menschen verfolgt. Renate war quasi die Sprecherin der Öffentlichkeit gegen das verhasste Regime. Einmal beschaffte sie sich aus den Oppositionskreisen eine Liste von politischen Gefangenen, las einige Namen vor und fragte konkret, aus welchen Gründen die Gefangenen verhaftet wurden und wann sie wieder freikämen. Ungeahnt verhalf sie damit einigen Gefangenen zur Freiheit, denn vor den westlichen Journalisten hatte die Staatsmacht Respekt, man wollte unnötigen Ärger mit dem Ausland vermeiden…
 
Der hohe Bekanntheitsgrad von Renate führte dazu, dass sie oft auf der Straße von fremden Menschen angesprochen wurde. Wildfremde Menschen umarmten, küssten sie und ermutigten sie, weiter diese befreienden Fragen zu stellen. Die Menschen steckten ihr Botschaften zu, oft wollten sie sich einfach nur bedanken für den Mut, den Renate bei den Besuchen der Pressekonferenzen zeigte. Renate sprach über Polen und die Menschen immer mit großem Respekt. Die Menschen merkten, dass sie Polen und die Polen liebte und dafür liebten die Polen ihre Pani Renate. Es war durchaus eine starke emotionale Beziehung. Renate war später auch ständiger Gast in dem zweiten Programm des polnischen Staatsfernsehens, das als etwas liberaler als das linientreue erste Programm galt, und zwar bei der Sendung „Bliżej świata“ (Näher an der Welt). Dies war eine regelmäßige politische Sendung, zu der ausländische Journalisten geladen wurden und die von 1987 bis 1991 ausgestrahlt wurde.
 
Auch in Deutschland wurde Renate bekannt. In Zeitungen, Hörfunksendungen und sogar im Fernsehen berichtete Renate über Polen. Beispielsweise schaltete der Rundfunk des WDR während des Deutschlandtreffens der Schlesier am 16.6.1985 zu Renate. Sie berichtete über die Ängste der Polen, wenn auf dem Deutschlandtreffen Redner zu Worte kamen, die die Deutschlandfrage offenhalten wollten und meinten, Deutschland sei größer als die BRD. In der ARD-Sonntagssendung „Internationaler Frühschoppen“ von Werner Höfer trat sie auf und berichtete in einer illustren Journalistenrunde über die Zustände in Polen. Später sah man sie bei der Sendung „Boulevard Bio“ zusammen mit Lech Wałęsa. Renate kümmerte sich vor allem um das Wohlergehen der Oppositionellen und deren Angehörigen. So versorgte sie z. B. die Frau und die Kinder von Lech Wałęsa, als dieser im Gefängnis war, mit Bekleidung und Babynahrung.“