Hans-Eckardt Wenzel, der sich „Wenzel“ nennt, Dichter und Sänger mit böhmischen Vorfahren, geboren 1955 in Wittenberg. Zu DDR-Zeiten hat er sich mit Abschiedsbriefen junger Kommunisten beschäftigt, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben verloren. Durch die Freundschaft mit Antje Vollmer kam er 2008 mit der Geschichte von Heinrich und Gottliebe von Lehndorff in Berührung. Und widmete den beiden jungen Adeligen ein Lied mit dem Titel: „Die letzten Briefe.“
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Lied Strophe 1

„Verwildert die Güter. Der große Arzt, die Zeit,
Bettet ins Vergessen den Schmerz. Sag selbst,
Immer wieder erdrückt vom Gesetz
Der großen Zahl, traust du dem Ganzen?“

„Die letzten Briefe“ – Gedanken über Widerstand und Trost
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Ulla Lachauer
Wenzel – Poet und Sänger, geboren 1955 in der DDR, dort weithin bekannt und für seinen Eigensinn geliebt. Wie so viele fand er sich nach 1989 in einem anderen, fremden Land wieder. Zu den glücklichen neuen Erfahrungen gehört die Freundschaft mit der Theologin und Politikerin Antje Vollmer. Schon viele Jahre führen die beiden einen intensiven Ost-West-Dialog. Als Vollmer begann, die Geschichte von Heinrich und Gottliebe von Lehndorff zu erforschen, hörte Wenzel ihr fasziniert zu. Der Mut des jungen Paares, das sich zum Widerstand gegen Hitler entschloss, regte ihn zu einem Gedicht an.
 
Wenzel zitiert:
„Die letzten Briefe
Für Heinrich und Gottliebe von Lehndorff
 
Verwildert die Güter. Der große Arzt, die Zeit,
Bettet ins Vergessen den Schmerz. Sag selbst,
Immer wieder erdrückt vom Gesetz
Der großen Zahl, traust du dem Ganzen?“
 
Wenzel
„‘Der große Arzt, die Zeit.‘ Manche Dinge heilt die Zeit, manche Dinge nicht. Und es geht auch darum, dass man sich dem Gesetz der großen Zahl, dem ich mich in dieser Gesellschaft unterzuordnen habe, immer den Mehrheiten, nicht glücklich bin. Das hat mich fasziniert. Mich hat fasziniert, wie dieser Mann sich sozusagen durchringt zu dieser Tat und gegen eine Mehrheit im Militär und in der gesamten Gesellschaft aufbegehrt. Das ist für mich etwas Beispielhaftes.“
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Ulla Lachauer
Wenzel faszinieren besonders die Briefe aus dem Kerker, die Heinrich von Lehndorff an seine Frau schrieb. Der Abschiedsbrief vom 3. September 1944, dem Tag vor seiner Hinrichtung in Plötzensee, hat ihm buchstäblich den Atem verschlagen. Zehn dichtbeschriebene Seiten, lebensvoll und persönlich, völlig unheroisch. Schon früher, zu DDR-Zeiten, hatte Wenzel im Archiv Abschiedsbriefe von Widerstandskämpfern studiert: von jungen Leuten aus dem jüdisch-kommunistischen Freundeskreis um Herbert Baum. Kostbarkeiten für die Nachwelt, die viel zu wenig beachtet werden.
 
Wenzel
„Dass jemand mit ganz klarem Verstand weiß, dass er am nächsten Tag nicht mehr auf dieser Welt ist. Und was hinterlässt er seinen Lieben, seinen Nahen? Und manche hinterlassen auch der Menschheit was in diesem Moment. Es gibt in der antiken Dramatik diesen Moment von Antigone, die sozusagen am Ende ihres Lebens noch mal einen Gruß an die Stadt gibt. Wir sind an der Stelle vielleicht das einzige Mal in der Gattung alle gleich, an dem Punkt, wo wir uns von diesem Leben verabschieden. Also in dem Sinne sind es Dokumente über den Kern des Menschen letzten Endes, die dann nicht mehr ideologisch verstellt sind oder in einer Pose verharren.“
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Ulla Lachauer
Über diesen Moment im Angesicht des Todes reflektiert Heinrich von Lehndorff in seinem letzten Brief: „Es vollzieht sich eine völlige Wandlung“, schreibt er, „wobei das bisherige Leben allmählich ganz versinkt und gänzlich neue Maßstäbe gelten.“ Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944, Flucht und Verhaftung und der zweiten missglückten Flucht, nach Verhören und Folter blickt er zurück auf das, was war: ein kurzes „fröhliches Leben“, 35 Jahre, davon 7 mit Gottliebe in Schloss
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.


Warum steht ihre Geschichte nicht in den Schulbüchern, fragt Wenzel.
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Lied Strophe 2

„Redselig ordnen in noblen Posen Sieger
Des Tages ihre Geschäfte und schreiben sich ein
In die Schlagzeilen der Geschichtsbücher.
Das schweigsame Gras nur weiß mehr.“

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Ulla Lachauer
Die herrschende Geschichtsschreibung ist die Geschichtsschreibung der Herrschenden. Dieser Gedanke von Karl Marx gilt heute noch, meint Wenzel. Vieles, zu vieles wird beschwiegen, das ist auch seine eigene Erfahrung als Bürger der untergangenen DDR.
 
Wenzel
„Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben, die sozusagen die Vorgänge instrumentalisieren. Ich habe das ja hautnah mit der eigenen Geschichte, ich bin die Hälfte meines Lebens in der DDR großgeworden, und die andere Hälfte hier. Und das was an falschen Blicken, man kann fast sagen Lügen sozusagen als normales Narrativ über die DDR verbreitet wird, das ist eine Ungenauigkeit. So schlecht und einfach sozusagen nur dem Interesse einer bundesdeutschen Sicht entsprechend. Deswegen werden wahrscheinlich die, wenn es so Gott will noch ein paar nachfolgende Generationen gibt auf dieser Erde, werden sie mehr über die Zeit aus der Literatur erfahren als aus der offiziellen Geschichtsschreibung.“
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Ulla Lachauer
Einzelschicksale interessieren ihn, die blinden Flecken der Geschichte. Wie Flucht und Vertreibung - Wenzel selbst ist ein Flüchtlingskind, seine Familie ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus
Böhmen
eng. Bohemia, lat. Bohemia, ces. Čechy

Böhmen ist eine historische Landschaft im heutigen Tschechien. Die Landschaft bildet zusammen mit Mähren und dem tschechischen Teil Schlesiens das heutige Staatsgebiet Tschechiens. In der Region leben heutzutage knapp 6.5 Millionen Menschen. Die Hauptstadt Böhmens ist Prag.

vertrieben worden. Auch privilegierte Aristokraten wie Heinrich und Gottliebe von Lehndorff gehörten lange zu den Vergessenen. Über ihr Leben und Wirken im masurischen Steinort ist „Gras gewachsen“ wie über das der Wenzels in ihrer alten Heimat im
Riesengebirge
ces. Krkonoše, pol. Karkonosze

Das Riesengebirge ist eine Gebirgskette im polnischen und tschechischen Teil Schlesiens. Der höchste Gipfel des Riesengebirges ist mit 1603 Metern die Schneppe (Polnisch: Śnieżka, Tschechisch: Sněžka).

. „Dem Gras zuhören“ ist Wenzels poetisches Programm. „Das schweigsame Gras nur weiß mehr“, heißt es in seinem Gedicht.
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Lied Strophe 3

„Es atmet die Sehnsucht der Kerker aus.
Missglückte Fluchten. Missbrauchte
Treue. Misslungene Rettung. Was heißt es,
Sein Leben zu opfern? Wofür? Warum?“

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Ulla Lachauer
Wenzel beschwört Szenen aus den letzten Wochen Heinrich von Lehndorffs. Wofür und warum opfert er sein Leben? Wie wird aus dem jungen lebenslustigen Adeligen der ernste, zu allem entschlossene Verschwörer?
 
Wenzel
„Es ist eine große Naivität, ein Bauernbursche letzten Endes. Also ein aristokratischer Bauernbursche, der gern mit den Pferden gespielt hat, das Leben genossen hat. Dass er in so nem Schloss großgeworden ist, also der es zu schätzen wusste, dass er auf dieser Seite der Welt sozusagen groß geworden ist. Wir kennen solche Sunnyboys würde man heute sagen, das sind lustige, gutaussehende Männer, die immer Glück haben, denen alles gelingt. Warum sollen die zweifeln an der Welt, ja. Das kommt erst, der Zweifel kommt erst, wenn etwas passiert, was mit der eigenen Haltung nicht mehr übereinkommt. Die Naivität wird zerstört durch Erkenntnisse, durch Erfahrungen.“
 
Ulla Lachauer
Erfahrungen als Offizier an der Ostfront. Soweit wir wissen, war es Massaker von Borissow, im Oktober 1941, wo die SS siebentausend Juden ermordete, das Heinrich von Lehndorff zum Widerstand führte. Hinzu kam die Erfahrung Gottliebe von Lehndorffs, die mit den kleinen Töchtern ausharrte in Schloss Steinort - unter einem Dach mit Außenminister von Ribbentrop und seiner Entourage.
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Wenzel
„Das ist eine grundkonspirative Situation, die sie eingegangen sind. Auch andere Widerstandsgruppen, auch Vorhergehende, die versucht haben, die Fassade zu halten, damit man etwas anderes unternehmen kann. Das ist etwas, was einfach geschieht und permanente Aufmerksamkeit erfordert, dass man keinen Fehler macht, dass man sozusagen nicht erkannt wird, an der falschen Stelle. Dass man noch nen zweites Leben führt. Diese Form, das ist wie ein Leben im Dschungel, die Gefahren lauern überall, man muss eine gewisse übermäßige Aufmerksamkeit haben, damit man keinen Fehler macht. Das ist eine Anspannung der Nerven und des Wahrnehmungsapparates, der dem Menschen immer sehr guttut. Ich glaube, dass sie so ein Leben geführt hat, und das macht sie natürlich auch für Ihren Mann unglaublich attraktiv.“
 
Ulla Lachauer
Sie, Gottliebe, führte das Doppelleben mit kühlem Kopf und klarem Verstand. Ihre weibliche Urteilskraft ging in den Entschluss zu handeln ein. Das Ehepaar dürfte ihn gemeinsam getroffen haben.
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Lied Strophe 4

„Immanuel Kant disputierte in Königsberg
Unsere Urteilskraft. Das zwanzigste,
das Jahrhundert, voll Götzen, Geld und Gefangenen,
Trocknete sie fürs Herbarium der Moral.“

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Ulla Lachauer
Wenzel sieht den Entschluss der Lehndorffs in der Tradition des aufgeklärten Philosophen Immanuel Kant. Den Poeten hat fasziniert, wie in den Jahren des Widerstands auch die Liebe des Paares wächst.
 
Wenzel
„Bei Bertold Brecht heißt es „die dritte Sache“, und man weiß es, wenn sich zwei Personen lieben, und dann gibt es sozusagen eine dritte Sache. Ich glaube, dass sich die Stärke ihrer Liebe genau in dieser Situation gezeigt hat, die sie vorher eher leichtfertig genommen haben, weil er leichtfertig war. Aber dass sich diese gezeigt hat, als es den Plan gab, etwas an dieser Welt zu ändern, was sie für ungerecht hielten. Dass sie von ihrem Egoismus sich entfernen konnten. Das bringt sie in eine Nähe, sie haben ein Geheimnis vor der Welt, wie man als Kind einen geheimen See im Wald wusste, so haben sie ein Geheimnis, was sie beide hüten. Und sie richten sich daran auf, sie stärken sich gegenseitig, und das macht ihre Liebe groß.“
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Ulla Lachauer
In seinem Abschiedsbrief spricht Heinrich von Lehndorff von dieser Liebe. Zärtlich und dankbar erinnert er sich das gemeinsame Leben, „Seite an Seite“. Seine Sätze sind nur für Gottliebe und die Töchter bestimmt. Er umarmt sie alle, küsst die eben erst geborene Catharina, die er nie kennenlernen wird.
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Lied Strophe 5

„Die Wahrheit, ist ein Schmerz
Aus des Scheiterns wachem Wissen.“

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Ulla Lachauer
Schmerz und Tragik ist in Wenzels Lyrik festgehalten. In der Vertonung des Gedichts setzt er einen Kontrapunkt: eine leichte volkstümliche Melodie im Walzertakt.
 
Wenzel
(singt) „Vergessen die Güter, tadatadem, das ist so wie so 'ne kleine Volksmelodie, die aus dieser Landschaft kommen könnte. Erinnerungen an Kindheit und die Wälder in Ostpreußen, ne Volksmelodie, die ich da habe in Moll, D-Moll. Padadampam, paditam, kann man auch anders singen, tadatadamtam, tadadidam, padampam, padadadampada. Das war eine Intention, dass das 'ne kleine bescheidene Volksliedmelodie ist, die sich im Verhältnis zu dem etwas komplizierteren Text auflädt.“
 
Ulla Lachauer
Eine einfache, leichte Melodie, die Stimmungen des Abschiedsbriefes aufnimmt. Er klagt nicht an, wirkt nicht verzweifelt. Heinrich von Lehndorff lässt seine Frau wissen, dass er den Tod nicht fürchte, ihre Liebe und Gott ihn tragen werden - bis zuletzt.
Der Todgeweihte möchte seine Familie trösten. Eine Entscheidung, sagt Wenzel, die auch in der Poesie immer wieder vorkommt.
 
Wenzel
„Es gibt in der Poesie immer nur zwei Möglichkeiten, wenn man etwas schreibt. Entweder tröstet man oder man widerspricht. Und er widerspricht in dem Brief nicht, er tröstet. Es ist ein Brief, der tröstet. Der Widerspruch ist die andere Haltung, sich gegen die Welt zu stemmen. Der Trost ist das, dass man sozusagen jemandem Kraft gibt in dem Moment und sagt, jetzt widersprech‘ ich nicht, ich kann nicht mehr widersprechen, die werden mich umbringen, also tröste ich dich.“
 
Ulla Lachauer
Welche Worte braucht Gottliebe für die Zeit danach? Um weiterzuleben, für die Kinder zu sorgen? Ohne „das liebe Steinort“? Mut machen will Heinrich von Lehndorff seiner Frau, er versichert ihr immer wieder, dass er an sie glaubt. Nicht wissend, ob sein Brief überhaupt ankommt.
 
Lied Strophe 6

„Die letzten Briefe ahnen es so wie
Die letzten Schwalben den Herbst.
Am Ende nur leuchtet die Welt hell:
Als das Mögliche nach dem Unmöglichen.“

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Wenzel
„In diesen Worten ‚möglich, unmöglich‘ schwingt so vieles mit. Es geht um die Offenheit, um die Hoffnung einer offenen Zukunft. Und die er, Lehndorff hofft es für seine Frau. Und er gibt ihr den Freibrief, dass sie alles machen kann und dass er immer bei ihr sein wird. Also das Modell des Paradieses oder der Ewigkeit, der Weiterexistenz wie es die Theologie der Befreiung mal beschrieben hat. Die Unsterblichkeit ist das, dass die Personen, die gut waren auf der Welt, in unserer Erinnerung fortleben. Das ist in der Theologie der Befreiung das, was man Unsterblichkeit nennt.“
 
Ulla Lachauer
Seine Asche haben die Nazis auf den Feldern vor Berlin verstreut. Trotzdem lebt Heinrich von Lehndorff weiter. Sein Abschiedsbrief stärkte Gottliebe lebenslang und tröstet seine Nachkommen bis heute. In seinem Gedicht zitiert Wenzel die letzten Zeilen, die Heinrich von Lehndorff an den Rand schrieb.
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Lied Strophe 7

„Bin unglücklich, weil mein Herz
Dir noch so vieles sagen möchte,
Aber Papier und Zeit sind zu Ende.
So musst Du es dir denken.“

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Wenzel
„Den Rest musst du dir denken.“ Die Phantasie öffnet sozusagen die Welt über dem Nichts des Todes, das ist eine große Zeile. Also das sind ganz große Zeilen. Dass er diese Ausdauer hatte, das auch so lange zu formulieren und so genau zu formulieren, in einer sehr guten, ich würde sagen, aristokratischen Sprache. Keine Nachlässigkeit, keine Klage. Wenn ich ein Lesebuch herausgeben würde mit besonderen Texten in der deutschen Sprache, dann würde ich diesen Brief mit reinnehmen.“