Eines Tages hörte Wolfram Jäger im Radio vom katastrophalen Zustand des Lehndorffschen Schlosses. Der bekannte Spezialist für die Sanierung historischer Bauwerke hatte damals in Barcelona ein großes Projekt für die UNESCO abgeschlossen und fuhr sofort nach Masuren. Im Frühling 2011 traf er eine folgenschwere Entscheidung – ein Glück für das Schloss, für ihn eine Herkulesarbeit.
Ein Ingenieur im Wettlauf mit der Zeit
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Wolfram Jäger ist gerade siebzig geworden. Ein Riese mit Zauselbart, voller Tatendrang. Unser Treffpunkt ist sein Firmensitz in Radebeul bei Dresden1
 
Was hat ihn dazu bewegt, sich dem Lehndorffschen Schloss mit ganzer Kraft zu widmen? Die technische Herausforderung? Die Verantwortung seiner Generation, die Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler wachzuhalten? Auslöser war Antjes Vollmers Buch „Doppelleben“ über das Schicksal von Heinrich und Gottliebe Lehndorff.
 
Von außen betrachtet hatte das Herrenhaus im früheren
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

noch Kraft und Charme, doch seine Tage waren gezählt. In den Kellern stand immer wieder Wasser, schon jahrelang drang es im Herbst ein, so dass der Winterfrost das Mauerwerk angreifen konnte. Gewölbe waren eingestürzt. Der Nordwestturm brach auseinander. Durch die Dachziegel guckte der Himmel rein, in Holz und Mauerwerk nistete der Schwamm.
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Eigentümerin des Schlosses war seit 2009 die Polsko-Niemiecka Fundacja Ochrony Zabytków Kultury (PNF). Dem bekannten polnischen Denkmalspfleger Andrzej Tomazewski und dem Gründer der Deutschen Stiftung Denkmalschutz Gottfried Kiesow war es gelungen, das Herrenhaus vom damaligen Besitzer, der Yacht-Gesellschaft TIGA, mit einem schmalen Streifen des umliegenden Landes zu übernehmen.  Für Notsicherungsarbeiten waren danach erste Gelder aus beiden Ländern geflossen.
 
Doch dann stockte der Geldfluss, eine längerfristige Perspektive für das Riesenprojekt war nicht in Sicht. Trotzdem stieg der Ingenieur Wolfram Jäger ohne zu zögern ein. „Unmögliches möglich machen!“ Eine wichtige Devise in seinem Leben.
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Wolfram Jäger hat früh gelernt, Widrigkeiten zu trotzen. Er stammt aus einer Baumeisterdynastie, der seinerzeit renommierten Firma Rühle in Meißen. Der 1951 geborene Wolfram wuchs mit dem Bauen auf. Der Junge hörte und sah, was Vater und Großvater taten, etwa bei den Sanierungsarbeiten an der Albrechtsburg. Zugleich erlebte er hautnah die Bedrängnisse der DDR-Politik, die schließlich 1972 in der Enteignung des Familienunternehmens gipfelte.
 
Trotzdem entschied sich Wolfram Jäger, die Familientradition fortzusetzen: Maurerlehre, Studium des Bauingenieurswesens in Dresden, 1977 Promotion im Bereich Baumechanik. 1980 Bauhochschule in
Moskwa
eng. Moscow, deu. Moskau, rus. Москва́

Moskau (russisch Москва́) ist die Hauptstadt Russlands und zugleich größte Stadt des Landes. Mit ungefähr 12,5 Millionen Einwohnern ist Moskau die größte Stadt des europäischen Kontinents.

, die politisch Bedeutung hatte, aber seinerzeit „ziemlich vorsintflutlich“ war. Doch er entdeckte ein großes Büro, das Olympiasportstätten plante, kühne Dachkonstruktionen nach innovativen Bemessungsverfahren entwarf und baute.
 
In der DDR eigene Wege zu gehen oder eine Hochschullaufbahn einzuschlagen war auch für einen Beststudenten nicht möglich. Er war kein SED-Mitglied, wollte sich nicht in ein Kombinat einfügen oder den Mangel in der Bauwirtschaft verwalten. Also suchte er Nischen, wechselte mehrfach die Stellen und schien vor der Wende in der Bauakademie der DDR eine Bleibe gefunden zu haben.
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Um dem beruflichen Frust zu entgehen, nahm er ein eigenes Projekt in Angriff: das „Haus Breitig“, ein denkmalgeschütztes Winzerhaus in Radebeul, das kurz vor dem Einsturz stand. 1983 konnte er es vom Staat kaufen, Fördermittel und einen bescheidenen Kredit akquirieren. Er musste selbst Hand anlegen und dabei Vieles lernen, was ihm keine Ausbildung bis dahin bieten konnte - Holz einschlagen, Stämme rücken mit Pferden etc. In jahrelanger Arbeit rettete er das Haus vor dem Verfall, mithilfe seiner Frau Brigitte, die ebenfalls Ingenieurin ist. 
 
„Hart. Aber Riesenvergnügen!“ Wolfram Jäger lacht. „Ein Probelauf für Steinort, könnte man heute sagen.“ Im historischen Jahr 1989 konnte die Familie in das Winzerhaus einziehen.
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Am 16. März 1990 gründete Wolfram Jäger – zunächst mit Kollegen –ein Ingenieurbüro. Gesetze und Normen änderten sich über Nacht, die Konkurrenz im Westen schien technisch überlegen. Beste Aussichten hatte die Rückkehr zur einfachen Statik, die ihm schon im Studium Spaß gemacht hatte. Tragwerksplanung war seine Chance. „Klein anfangen“, sein eigener Chef sein! 
 
Die Aufgaben wuchsen schnell und auch das Selbstvertrauen. Ein Vorschlag für die archäologische Enttrümmerung der Ruine der Dresdener Frauenkirche bescherte ihm 1992 den Einstieg in das Projekt. Schon zu DDR-Zeiten hatte er von deren Wiederaufbau geträumt, Ideen ausgebrütet. Wie kann man einen solchen Mauerwerksbau unter heutigen Anforderungen in alter Technik wieder errichten? Innovative Lösungen waren gefragt, um so nahe wie möglich am Original zu bleiben.
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Als die Kirche nach elf Jahren Bauzeit eingeweiht wurde, war Wolfram Jäger ein erfolgreicher Mann, seit 1998 auch wieder in der Wissenschaft tätig, als Professor an der TU Dresden.
 
Ihn reizten ungewöhnliche Herausforderungen. In Syrien sanierte er den Ritterturm der weltberühmten Kreuzritterburg Krak des Chevaliers nahe Homs. Im Iran baute er mit seinem Team das Sistani-House wieder auf – Teil der bedeutenden Zitadelle von Bam, die 2003 durch ein Erdbeben zerstört wurde. Er führte dabei Methoden zur erdbebensicheren Wiederrichtung von Lehmbauten ein.
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Jäger war sechzig, als er 2011 in Steinort eintraf, mit der Erfahrung seines ganzen reichen Berufslebens. Als Freiwilliger. Er wollte der Welt etwas von seinem Glück zurückgeben.
Engagement für Schloss Steinort
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Bestandserkundung, bauarchäologische Befunde, die übliche Routine. Der Ostflügel, stellte sich heraus, war im Inneren in sozialistischer Zeit jeglicher Identität beraubt worden. Im Westflügel waren noch Spuren des Umbaus von Außenminister von Ribbentrop zu erkennen. Nur der barocke Kernbau hatte noch historisches Flair: das Treppenhaus, die großzügigen Räume und die weit spannenden, gewaltigen Deckenbalken. Ihn begeisterten die Zimmermannskunst im Dachstuhl und die polychromen Deckenbemalungen.
 
Ein Wettlauf mit der Zeit, und immer wieder: kein Budget. 125.000 € gab die „Deutsche Bundesstiftung Umwelt“ nach langem Ringen. Dazu musste Wolfram Jäger nachweisen, dass die Schäden am Schloss durch den menschengemachten Klimawandel verursacht seien.
 
In der Nähe fand er den Bauunternehmer Matthias Hohl, einen Schweizer, der schon länger in Masuren lebt und Erfahrungen im Tunnelbau hat. Genau der Richtige für die gefahrvolle Arbeit in den halb eingestürzten Kellern.
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Studenten und Doktoranden von der TU Dresden ließen sich von ihrem Professor nach Steinort locken, packten mit an, nahmen auf, kartierten, forschten. Man schlief im Zelt, um Kosten zu sparen. Versierte Zimmerleute waren vor Ort nicht zu finden. Schüler von der Münchner Bautechnikerschule und wandernde Handwerksgesellen aus Deutschland und der Schweiz schlossen die Lücken. Nicht zu vergessen der Wahlmasure Matthias Hohl mit seinen Leuten.
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Eine unkonventionelle, hochinteressante Baustelle – mittendrin der Professor im Blaumann, der selbst Hand anlegt. Die Notsicherung ist gut vorangekommen. Im Ostflügel können schon Bauleute übernachten, ein Infopoint für Besucher ist entstanden. Viele der mühsam erkämpften Fortschritte sind jedoch für Laien unsichtbar.
 
Wolfram Jägers Leidenschaft ist in den zehn Jahren noch nicht erloschen. Man spürt seine Ungeduld. Einen so chronisch unterfinanzierten Bau hat er noch nie geleitet. Es wird dringend mehr Geld gebraucht, und eine gesellschaftliche Lobby.
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Immerhin hat Schloss Steinort bisher einige Bundestagsabgeordnete als Verbündete gehabt. Prominente wie der Stardirigent Christian Thielemann, der Kunsthistoriker Kilian Heck oder die deutsche Generalkonsulin Cornelia Pieper in Gdansk haben Türen geöffnet.
 
Auch die anderen Steinort-Enthusiasten – Ethnologen, Historiker, Künstler, Lehrer – brauchen einen langen Atem und Geld, um das Schloss mit Leben zu füllen. Die kulturellen „Gewerke“ kommen dabei mit sehr viel weniger aus.
Zukunftsvisionen
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Das denkmalgeschützte Schloss, so viel ist inzwischen klar, ist als Renditeobjekt nicht geeignet. Ein Konzept für eine öffentliche Nutzung musste her, „sowie Pläne und Kalkulationen, die Mittel für den Betrieb selbst zu erwirtschaften.“
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Wie könnte das Herrenhaus der deutsch-polnischen Freundschaft dienen? Geschichte(n) erzählen vom Widerstand der Lehndorffs gegen Hitler und vom multikulturellen Masuren? Der wirtschaftsschwachen Region heute nützlich sein?
 
Viele Köpfe brachten die verschiedensten Ideen ein. Der Ingenieur mit der Riesenbaustelle auf den Schultern machte Tempo. Zusammen mit seinen Studenten entwickelte er – auf Basis kursierender Visionen – ein Nutzungskonzept, das Anklang bei der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien fand. Seit 2019 fließt jährlich eine halbe Million Euro aus dem Bundeshaushalt nach Steinort.
 
Es sieht aus wie ein Tropfen auf den heißen Stein, gemessen an den zweistelligen Millionensummen, die für den Bau noch gebraucht werden. Dennoch ein Durchbruch, Steinort ist in der deutschen Politik angekommen.
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In der Region wächst das Interesse, auch bei der Denkmalpflege in
Olsztyn
deu. Allenstein, lat. Holstin, lat. Allenstenium

Das heutige Stadt Allenstein/Olsztyn (Bevölkerungszahl 2022: 168.212) wurde 1353 als „Allensteyn“ an der Allna gegründet. Allenstein ist die größte Stadt Ermlands und der Sitz der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Die Stadt ist Mitglied der Europäische Route der Backsteingotik, insbesondere aufgrund seines Altstadtrings und der Burg Allenstein.

Das Bild zeigt eine Stadtansicht von Olsztyn /Allenstein auf einer Postkarte von vor 1945.

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Eines ihrer Herzensprojekte war die Erbbegräbniskapelle der Lehndorffs, ein Bau des bekannten Berliner Architekten Friedrich August Stüler. Doch lange fühlte sich niemand zuständig. 2015 war Wolfram Jäger zum ersten Mal über den verwilderten Friedhof gewandert, der Anblick der ruinösen Kapelle hatte ihn erschüttert. Auf dem Dach wuchsen Birken, das Gewölbe stand kurz vor dem Einsturz. Die Sanierung wurde ein Kraftakt für den Ingenieur und alle Beteiligten.
 
„Eine unvergessliche Zeit“ – der Katastrophen, intensiver Glücksgefühle. „Zwölf Tage“, erzählt Wolfram Jäger, „habe ich allein in luftiger Höhe gearbeitet.“ In einem wichtigen Moment war nirgends ein Maurer zu finden, also fuhr er von Radebeul nach Sztynort und legte los. „Ich hatte ja als junger Mann Maurer gelernt.“ Kaum technisches Gerät war da, Wasser holte er aus dem See. „Die Sonne schien durch die Bäume. Augen zu, aufatmen, innehalten, weitermauern. Einfach traumhaft.“
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Heute sitzt er manchmal auf einem Baumstamm und freut sich an der Kapelle. „Sie ist gerettet.“ Die gegenseitige Hilfe deutscher und polnischer Akteure, die Kombination von staatlichem und privatem Geld haben es möglich gemacht. Die Rettung der Totenstadt, des gräflichen Mausoleums und der Gräber der Dorfleute könnten eine Blaupause für das große Projekt Schloss Steinort sein.
 
Zehn Jahre wird es noch dauern – im besten Fall. Aus Sicht des Ingenieurs machbar, vorausgesetzt das Geld ist da. Dann wäre er achtzig. Erfolge vorzeigen, wie damals bei der Frauenkirche! Nächsten Sommer soll das Schloss als „lebende Baustelle“ Touristen anziehen, die den Arbeiten zuschauen und spenden. Jeder Raum, der fertig wird, soll umgehend genutzt werden…