Der Internationale Museumsrat (ICOM) ist ein weltweites Netzwerk von Museen und Museumsfachleuten mit 119 Nationalkomitees. ICOM Deutschland koordiniert seit Beginn des Krieges Kulturgut-Hilfsmaßnahmen in die Ukraine. Frau Reifenscheid-Ronnisch, könnten Sie uns skizzieren, um welche Hilfen es sich konkret handelt?
ICOM Deutschland agiert in einem bereits bewährten internationalen Beziehungsgeflecht. Nach dem ersten Angriff haben wir gleich Kontakt mit unseren ICOM Nationalkomitees aufgenommen, die eine unmittelbare Nähe und enge Kommunikation mit der Ukraine haben. Diese Kontakte konnten wir in den letzten Wochen sehr intensivieren und verfügen mittlerweile über ein engmaschiges Netzwerk, das direkt Bedarfe abfragen kann. Ende März 2022 haben wir von der BKM den Auftrag erhalten, als Koordinierungsstelle für den Kulturgutschutz für die Ukraine zu dienen, was sicherlich an dem internationalen Netzwerk von ICOM und seinen starken Komitees liegt. In Krisen- und Kriegszeiten wie diesen erweist sich dies als essenzielle Basis zum gemeinsamen Handeln. Seitdem ICOM Deutschland die Koordinierungsstelle für Kulturgutschutz ist, haben wir uns noch intensiver vernetzt und starke Partner für konkrete Schutzmaßnahmen gefunden, z.B. für die Organisation und den Transport von Verpackungsmaterial, Sicherheitskleidung und technischem Equipment.
Im Moment sehen wir auch, dass sehr viele Akteur:innen in der Kultur Hilfsmaßnahmen anstoßen und vieles auf informellen Wegen ermöglichen. Um diese Kräfte besser zu bündeln und für den Kulturschutz in der Ukraine erfolgreich zu vermitteln, bringen wir auch diese Initiativen mit unserer Koordinierungsstelle zusammen. Je mehr Angebote und Nachfragen gebündelt behandelt und gemeinschaftlich organisiert werden können, desto zielgerichteter können wir zum Schutz beitragen und den Kolleg:innen in der Ukraine helfen.
Sie haben im Auftrag der BKM die Informations- und Koordinierungsstelle „Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine“ eingerichtet, um die Hilfsmaßnahmen aufeinander abzustimmen. Wie ist die derzeitige Resonanz? Können Sie bereits erste Erfolge oder auch Probleme skizzieren?
Die Resonanz ist bereits spürbar und die Koordinierungsmaßnahmen laufen intensiv an. Erste Erfolge sind nicht nur unsere intensive Vernetzung und damit verbunden die erfolgreichen Transportlieferungen, sondern auch weitere Aufgaben, die wir positiv lösen werden. Neben den komplizierten Abstimmungen ist für uns im Moment die größte Herausforderung, es hinzubekommen, dass unsere Unterstützung auch bei möglichst vielen Stellen in der Ukraine bekannt wird, was insbesondere an sprachlichen Barrieren liegt. Insofern wollen wir unsere Hilfsangebote möglichst zeitnah schriftlich auch auf Ukrainisch übermitteln.
Der ICOM Deutschland befasst sich insbesondere mit der Rettung des beweglichen Kulturgutes bzw. dessen Koordination. Welche Einrichtungen sind in Deutschland engagiert und mit welchen Partnern arbeitet ICOM Deutschland in Europa und besonders in der Ukraine zusammen?
Zum einen richtet sich all unser Augenmerk auf die direkten Bedürfnisse, die wir von unseren Kolleg:innen in der Ukraine hören, ebenso wie vom Kulturministerium der Ukraine und von ICOM Ukraine. Unsere engsten Partner bei der Koordinierung sind ICOM Schweiz und ICOM Polen, die beide in ganz herausragendem Maße Transporte mitorganisieren.
Wie schätzen Sie die Lage in der Ukraine ein? Können Sie nach 5 Wochen Krieg bereits eine erste Lageeinschätzung zum kulturellen Erbe der Ukraine geben?
Um ehrlich zu sein, ist die Lage zu unübersichtlich, um verlässliche Aussagen zu treffen. Wir kennen aktuell auch nur den Bericht von ICOM Ukraine und der UNESCO vom 1. April 2022, in dem von 4 beschädigten Museen gesprochen wird. Dieser bezieht aber nicht die stark zerstörten Städte wie
Mariupol ist eine 1779 gegründete Stadt am Asow’schen Meer und gehört seit 1991 zur Ukraine. Im Jahr 2021 lag die Bevölkerung bei rund 432.000. Neben Ukrainisch und Russisch wurde in der Stadt auch lange Griechisch und Jiddisch gesprochen. Während die pontosgriechische Stadtbevölkerung von der slawischen assimiliert wurde oder nach Griechenland auswanderte, fiel ein Großteil der jüdischen Bürger:innen dem Holocaust zum Opfer.
Von 1948-1989 hieß Mariupol Schdanow.
Aufgrund ihres Seehafens, aber auch durch Metallurgie wurde die Stadt ein wichtiges Industriezentrum. Die Wirtschaft litt jedoch seit 2014 zunächst unter der russischen Annexion der Krim und dem Konflikt im Donbass; im russisch-ukrainischen Krieg wird Mariupol belagert und erleidet schwere Zerstörungen.
Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.
Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und hatte 2019 etwa 1,5 Millionen Einwohner:innen. Die Stadt wurde 1630 oder 1653 im „Wilden Feld“ gegründet, wie die Steppenlandschaft in der heutigen Süd- und Ostukraine damals genannt wurde. Mit der Verschiebung der russischen Grenze nach Süden verlor es seine Bedeutung als Festung, wurde daraufhin aber zum Handels- und Handwerkszentrum. 1918 bis 1934 war Charkiw die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. Seit Februar 2022 erlitt Charkiw starken Beschuss im russisch-ukrainischen Krieg.
Gibt es Beispiele für bereits verlorene oder auch für gerettete Kulturgüter?
Eines der ersten Opfer mit kultureller Tragweite war das Museum in
Iwankiw ist eine Siedlung städtischen Typs in der Ukraine, ca. 80 km nordwestlich von Kiew und 32 km südlich der Tschornobyl-Sperrzone gelegen. Iwankiw hatte 2021 schätzungsweise rund 10.200 Einwohner:innen.
Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.
Das ukrainische Kulturministerium dokumentiert die Beschädigung und Zerstörung von Kulturerbe. Können Sie die Bedeutung der Liste vor dem Hintergrund der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten Die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten ist ein 1954 geschlossenes Abkommen, das Teil des internationalen Völkerrechts ist. Es definiert Kulturgut als „bewegliches oder unbewegliches Gut, das für das kulturelle Erbe der Völker von großer Bedeutung ist“. Hierzu zählen unter anderem Kunstwerke und Archivalien, Museen, Bibliotheken und Archive. Diese dürfen gemäß der Haager Konvention auch im Krieg nicht zerstört werden. erläutern?
Diese Liste ist von großer Bedeutung und als Arbeitsgrundlage entscheidend. Zum einen erfasst sie auf sehr einfacher Basis grundlegende Tatsachen über Beschädigungen oder Zerstörungen von religiösen oder kulturell bedeutsamen Stätten. Mit einigen wenigen Fotos, die eingestellt sind, kann man sich einen rudimentären Überblick verschaffen. Dies dient zur späteren Analyse, wie ggf. wieder restauriert werden kann. Sie dient aber auch als Dokumentation, wenn es um Reparationszahlungen Russlands an die Ukraine gehen sollte, da die Zerstörung von Kulturgut ein Kriegsverbrechen ist. Dies ist in der 1956 beschlossenen Haager Konvention manifestiert, auf die sich alle Staaten verpflichtet haben – auch Russland.
In den Medien haben wir auch Bilder gesehen, wie beispielsweise Statuen in
Lwiw (deutsch Lemberg, ukrainisch Львів, polnisch Lwów) ist eine Stadt in der Westukraine in der gleichnamigen Oblast. Mit knapp 730.000 Einwohner:innen (2015) ist Lwiw eine der größten Städte der Ukraine. Die Stadt gehörte lange zu Polen und Österreich-Ungarn.
Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.
Es ist klar, dass sie einem unmittelbaren Bombardement nicht standhalten können, dennoch sind gerade auch solche Sicherungsmaßnahmen sehr wertvoll. Das mag man unterschätzen, aber insbesondere bei Bombensplittern sind sie ein probater Schutz.
Putin hat immer wieder der Ukraine das Recht auf eine eigene Nation abgesprochen. Geht es Ihrer Meinung nach regelrecht um die Zerstörung der kulturellen Identität der Ukraine?
Mittlerweise hat sich dies klar gezeigt, was ich auch vor einigen Wochen bereits formuliert habe. Putins Krieg ist auch einer, der auf die Auslöschung der nationalen, somit auch der kulturellen Identität der Ukraine abzielt. Dies ist in besonderem Maße verurteilungswürdig.
Sind auch Fälle von Plünderungsaktionen und Raubkunst auf Seiten des russischen Militärs bekannt? Und wenn ja, sind diese als ein Einverleiben des kulturellen Erbes der Ukraine zu verstehen?
Davon haben wir derzeit keinerlei Wissen. Inwieweit das angeblich eher schlecht organisierte russische Militär konkret Plünderungen vornimmt, können wir nicht sagen. Erste Berichte in westlichen Medien deuten nun jedoch leider darauf hin. Das können wir nicht eindämmen, aber je besser die Dokumentation ist, desto besser auch die Nachverfolgung. Nicht nur die Erfahrungen in anderen Konfliktgebieten (Afghanistan, Syrien) haben gezeigt, wie rasch Plünderungen zu verzeichnen sind, sondern auch dass der illegale Handel ein großes Thema ist. Dies gilt es, mit vereinten Kräften von Anfang an zu unterbinden. Ein Schwerpunkt der Arbeit von ICOM ist der Kampf gegen Handel von illegalen Kulturgütern. Unser Weltverband gibt für einzelne Krisen- und Konfliktregionen dieser Welt Rote Listen besonders gefährdeter Kulturgüter heraus, die zum Beispiel als Grundlage für Sorgfaltspflichten des gewerblichen Handels in Deutschland gelten. Bereits jetzt wird an einer Roten Liste für die Ukraine gearbeitet, die kontinuierlich ergänzt wird.
Welche Rolle spielt die internationale Aufmerksamkeit für den Schutz von Kulturerbestätten und Kulturgütern?
Diese ist von eminenter Bedeutung, da mit dem Krieg nicht nur Menschenrechtsverletzungen einhergehen, sondern mit dem bewussten Zerstören von Welterbestätten, von Museen, Kirchen, historischen Bauten und von Kunst immer die Vorstellung einhergeht, die betroffene Nation im Kern zu zerstören und ihr ihre kulturelle Identität zu nehmen. Es geht immer um materielle und auf ideellen Werten basierende Vernichtung. Deshalb bedeuten Kulturgutschutz und internationale Aufmerksamkeit ganz konkret, dass wir diese Identität schützen. Denn selbst bei Verlusten, die nicht zu verhindern sind, bleibt das Wissen erhalten. Durch die bereits angelaufenen Hilfsmaßnahmen werden Aufmerksamkeit, Wissen durch Dokumentation und physischer Schutz massiv verstärkt.
Aktuell geht es in erster Linie um Akutmaßnahmen und kurzfristige Hilfestellungen. Planen Sie bereits langfristige Maßnahmen oder sind mittel- und langfristige Konzepte zur Rettung und ggf. zum Wiederaufbau von Kulturerbeeinrichtungen derzeit noch gar nicht möglich?
Vieles von dem, was wir derzeit leisten, ist auch darauf ausgerichtet, Wiederaufbaumaßnahmen so schnell wie möglich einrichten zu können, sobald der Krieg beendet sein wird. Wir alle tragen die Hoffnung in uns, dass es eine diplomatische Lösung geben wird, um Krieg, Massaker und Kulturzerstörung zu beenden. Deshalb ist es wichtig, schon jetzt Programme zu entwickeln, die koordiniert internationale Hilfe zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau bieten. Dazu erfolgen u.a. bereits digitale Schulungen, die Kolleg:innen vor Ort in die Lage versetzen sollen, wirkungsvolle Maßnahmen vorzubereiten. Wir haben ein enges Netzwerk der Solidargemeinschaft aufgebaut, in dem derzeit unglaublich viel in Bewegung ist und extrem viel Engagement von Verbänden, Institutionen und auf privater Ebene geleistet wird. In dieser Form ist das bislang beispiellos und zeigt, wie sehr wir die Dramatik dieses Krieges in Europa verstanden haben und es mit der Ukraine schließlich um uns alle geht.