Russlands groß angelegter Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung vor neue Herausforderungen. Angesichts des geringen Wissensstandes über die Hintergründe des aktuellen Krieges stehen sowohl Politik, Medien als auch die Gesellschaft vor der schwierigen Aufgabe, Orientierung anzubieten. Im Folgenden stellen wir die Ergebnisse unseres Symposiums zu diesem Thema vor, das vom Herder-Institut und dem Gießener Zentrum für Osteuropakunde organisiert wurde.
Einleitung
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Seit dem 24. Februar 2022 sieht sich die deutsche Politik, die Medien und die Öffentlichkeit enormen Herausforderungen gegenüber: Erstens muss jede Auseinandersetzung mit dem Krieg dem geringen Interpretations- und Orientierungswissen über dessen Hintergründe und Zusammenhänge Rechnung tragen. Zweitens wurde in Politik und Analyse bisher ein erheblicher Schwerpunkt auf den Aggressor, Russland, gelegt, während die Handlungsmacht, die Geschichte und die Kultur des angegriffenen Landes, der Ukraine, sowie anderer Nachbarländer mit ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen eher vernachlässigt wurden. Darüber hinaus fordert ein breites Spektrum an spekulativen Argumenten, die von einem Mangel an grundlegenden Kenntnissen über die Region zeugen, dazu heraus, fundiertes Wissen zur Erklärung der Hintergründe des Krieges heranzuziehen. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der umfassenden Dokumentation des Krieges in digitalen Medien, die einerseits neue juristische und wissenschaftliche Möglichkeiten eröffnet, andererseits die Forscher:innen vor eine ganze Reihe neuer methodischer und ethischer Aufgaben stellt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt somit die Geistes- und Sozialwissenschaften vor eine ganze Reihe neuer Forschungsaufgaben.
Das Symposium „Sprachen des Krieges – Inerpretatives Wissen und Perspektivdebatten zum Krieg in der Ukraine" wurde vom Gießener Zentrum für Osteuropakunde (GiZo) und dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg (Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft) veranstaltet. Erklärtes Ziel war es, den Wissenshorizont über Hintergründe und Kontext des Krieges zu erweitern und die Ukraine, ihre Identität, Kultur und Interessen in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Berichterstattung zu stellen. Die von der VolkswagenStiftung geförderte Veranstaltung fand als Teil der Themenwoche „Krieg in der Ukraine - Wissenschaftliche Perspektiven" vom 22. bis 24. Februar 2023 im Schloss Herrenhausen in Hannover statt. Das Symposium befasste sich vor allem mit den weitreichenden Implikationen von Sprache(n) als Medium des Krieges unter Berücksichtigung multidisziplinärer, interdisziplinärer und inter- sowie intraregionaler Perspektiven der Osteuropawissenschaften. Das Ziel war, eine wissenschaftliche Erklärung für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und seine lokalen, regionalen und internationalen Folgen zu konstruieren. Der Angriffskrieg hat eine tiefgreifende, in Deutschland systematisch noch nicht adäquat diskutierte Zeitenwende in der Osteuropa- und Europawissenschaft sowie in den Geistes- und Kulturwissenschaften bewirkt.
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Hier gilt es den Begriff „Sprache" vielschichtig zu verstehen. Er umfasst nicht nur gesprochene und geschriebene Einzelsprachen, sondern auch andere Formen und Modi, wie etwa die Sprache als Kriegsmedium in der Propaganda und in visuellen Objekten. Sprache kann auch als Kultur- und Identitätsmarker (insbesondere in Konfliktszenarien), als Träger von Inhalten und Informationen sowie als epistemische und diskursive Kraft gesehen werden, die Werte und Konzepte der Gesellschaft ausdrückt und formt. Indem sie Gewalt und Rechtfertigungen für den Krieg transportiert, dient „Sprache" einerseits als Legitimationsstrategie und kann andererseits Zukunftsszenarien für die Nachkriegszeit liefern. Um dies zu untersuchen, müssen wir über nationale und internationale Argumentationsstrategien sowie über die Narrative und Mythen nachdenken, die den Krieg rechtfertigen oder erklären wollen.
Daher ist eine Zeitenwende in den Osteuropawissenschaften zu erwarten, welche die Forschungslandschaft im kommenden Jahrzehnt auf zahlreiche Weisen verändern könnte. Die wichtigste erkenntnistheoretische Konsequenz des Krieges könnte darin bestehen, dass sich die Osteuropastudien von der vorherrschenden Konzentration auf Russland zu lösen beginnen. Folglich ist aus geografischer Perspektive eine Dezentrierung der Forschung und eine Neukonfiguration der überkommenen Dichotomie von Zentrum und Peripherie zu erwarten, die über Osteuropa hinausgehen und den Südkaukasus und Zentralasien einschließen könnten. Da dieser Krieg nicht zuletzt auf dem Terrain der (Des-)Information ausgefochten wird, ist es aus methodologischer Sicht erforderlich, der digitalen Dimension der Wissensverteilung durch eine bessere Abdeckung und Kompetenz in den Bereichen Medienforschung und digital humanities Rechnung zu tragen.
Darüber hinaus hat sich dieser Krieg in einen Kampf größeren Ausmaßes entwickelt, der zwischen Formen autokratischer Kriegsführung einerseits und der demokratischen Welt andererseits eingebettet ist. Die westliche Osteuropaforschung steht daher zunehmend unter dem Druck, sich in einem Umfeld der zunehmenden Politisierung der Osteuropaforschung und der Osteuropaforscher:innen zu positionieren. In Zeiten zunehmender Politisierung gewinnt aber auch die Wissenschaftsdiplomatie an Relevanz, so dass geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Wissenskonzepte an Bedeutung gewonnen haben. Schließlich ist zu erwarten, dass die Osteuropawissenschaften früher oder später in eine Phase der kritischen Selbstreflexion über ihre mangelnde Prognosefähigkeit in Bezug auf diesen Krieg eintreten werden.
Interpretatives Wissen und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
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Zukünftige Herausforderungen für die Entwicklung der Osteuropa-Forschung
 
Das Gesamtbild der disziplinären und interdisziplinären Osteuropa-Forschung seit 1990 zeigt einen starken Fokus auf Russland1, der bereits vor 2022 Gegenstand breiter Kritik war2. Nichtsdestotrotz erfahren die Area Studies zur Ukraine seit 2014 einen Zuwachs an Aufmerksamkeit, wenn auch nicht in ausreichendem Maße, wovon die immer noch bestehenden blinden Flecken in der Forschung zeugen.3
Eine akademische Dekolonisierung (Näheres zum Begriff siehe unten) ist insbesondere in der Ukraine- und Eurasienforschung dringend erforderlich, da sich diese Bereiche von der Dominanz des russischen Einflusses lösen müssen. Diese Dekolonisierung erstreckt sich nicht nur auf die akademischen Fächer, sondern auch auf die Sprachen und den breiteren wissenschaftlichen Rahmen.4
Im Rahmen einer breiter angelegten akademischen Perspektive erfährt Osteuropa „eine doppelte Ausgrenzung" (Müller 2020, 736) in der akademischen Berichterstattung, da es weder als Teil des „Globalen Südens" noch als Teil des „Globalen Nordens" betrachtet wird.
Die Herausforderungen, denen sich die Geschichtswissenschaft gegenübersieht, sind nicht minder groß. Insbesondere der erfolgreiche Revisionismus der Sowjetära unterstreicht die Notwendigkeit eines nuancierten Ansatzes in der Geschichtsschreibung. Dieser Revisionismus hat dazu geführt, dass die Ukraine in das Narrativ der sowjetischen Geschichte integriert und als Opfer größerer Nationen dargestellt wurde – eine Darstellung, die einer sorgfältigen Analyse bedarf. Der aktuelle Konflikt umfasst eine zusätzliche Hürde: das Potenzial für Selbstzensur unter Akademiker:innen aufgrund der sensiblen Natur des Themas. Die Geschichtswissenschaft ist gezwungen, ihren Ausgangspunkt angesichts des russischen Versuchs, die Ukraine und ihre historische Entwicklung zu untergraben, neu zu evaluieren. Dies wirft entscheidende Fragen über die historische Handlungsfähigkeit der Ukraine und die Frage auf, ob sie koloniale Unterwerfung erfahren hat. Der andauernde Konflikt lädt dazu ein, darüber nachzudenken, wie dieser Krieg bereits heute erinnert wird und welche Facetten der Geschichte für bewahrenswert gehalten werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wer qualifiziert sein könnte, diese Geschichte in einer Weise zu dokumentieren, die ihrer Komplexität und ihren Nuancen gerecht würde.5
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Diskussionen in Deutschland
Debatten über die Dekolonialisierung der historischen Osteuropaforschung sind zudem mit Selbstreflexionen über die deutsche Vergangenheit verbunden.6 Dies hängt zum einen mit den relevanten Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zusammen, wobei das ukrainische Territorium überwiegend als Teil der Sowjetunion wahrgenommen wurde, was ukrainische Themen weitgehend unsichtbar gemacht hat. Diese Fixierung auf die Großmächte hatte in den folgenden Jahrzehnten starken Einfluss auf die historische Forschung.7
Definiert man Dekolonialisierung als eine „historisch einmalige und vermutlich unumkehrbare Delegitimierung jeglicher als Untertanenverhältnis wahrgenommenen Herrschaft gegenüber dem Fremden"8, so stellt nicht nur der aktuelle Krieg, sondern auch die Verschlechterung des russisch-ukrainischen Verhältnisses seit dem Jahr 2000 eine Reihe von Schwierigkeiten dar. Darunter befinden sich das „Neudenken des eigenen Standpunkts, der methodischen Ansätze und nicht zuletzt der Forschungsthemen selbst. [...] Eine politisierte und methodisch unreflektierte 'Dekolonisierung' in Zeiten des Krieges könnte eine Rückkehr zu einer disziplinären Sonderstellung begünstigen, die die Osteuropäische Geschichte in den letzten drei Jahrzehnten zu überwinden suchte."9 
Wie Bert Hoppe10 feststellt, richtet sich Russlands Krieg auch gegen das historische Gedächtnis der Ukraine: „Die große Zahl der Angriffe auf Denkmäler, Kultureinrichtungen und Archive deutet darauf hin, dass es sich nicht nur um sogenannte Kollateralschäden handelt. Sie treffen auch Säulen des ukrainischen Nationalbewusstseins. [...] Das historische Gedächtnis der Ukraine ist den russischen Raketen und Granaten weitgehend schutzlos ausgeliefert." Insbesondere für die Geschichtswissenschaften stellt der Angriffskrieg gegen die Ukraine eine allgemeine Zeitenwende dar, da er uns zwingt, den Krieg in seiner historischen Perspektive zu verankern und epistemische Gewissheiten in Bezug auf die Verwendung von Begriffen neu zu justieren. Dies lässt sich am Beispiel einer Debatte zwischen Ulrich Herbert und Martin Schulze Wessel über die Verwendung von Begriffen wie „Faschismus", „Völkermord" oder „Vernichtungskrieg" im Zusammenhang mit dem laufenden Konflikt zeigen. Martin Schulze Wessel11 stellte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest, dass „ohne einen entsprechenden begrifflichen Apparat die historisch-kulturellen Grundlagen des Krieges [...] nicht erkennbar sind. [...] Von Russland aus eine postkoloniale Perspektive einzunehmen, bedeutet, das mit Hilfe des russischen Staates konstruierte und kanonisierte Wissen konsequent zu hinterfragen."
Florin (2022) schlägt drei Szenarien, Schwierigkeiten und Forderungen vor, wie die Area Studies zu Osteuropa mit besonderem Schwerpunkt auf die Geschichte verbessert werden können: 1) die Perspektiven der Marginalisierten und Unterdrückten konsequent ernst zu nehmen und nicht in die Fallen von Machthabern wie Putin zu tappen, der sich selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt hat. Es gilt also mehr auf jene zu hören, die nicht über dieselbe Entscheidungsmacht verfügen. 2) In diesem Zusammenhang muss der strukturelle Eurozentrismus unseres Denkens über Osteuropa überwunden werden. Florin gibt hier ein Beispiel: Das Narrativ, dass Europa nicht mehr am Hindukusch, sondern in Mariupol und Kiew verteidigt werde, ignoriere Prinzipien der Selbstbestimmung und Emanzipation, um den Blick auf die Ukraine als Opfer expansionistischer Ambitionen nicht zu verengen. 3) Die Geschichtswissenschaft über Osteuropa sollte aufhören, diese Region als „Sonderfall" innerhalb einer globalen Geschichte der Dekolonisierung zu betrachten. Eine breitere und bessere Konzeptualisierung der Dekolonialisierung ist erforderlich, um Fremdherrschaft, Besatzung, Druck usw. richtig zu erfassen.
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Weitere epistemologische und methodologische Herausforderungen
Der Krieg erfordert eine Abkehr von der akademischen Arbeitsteilung der Ära des Kalten Krieges, die die Politisierung und Exotisierung des „Nicht-Westens" beinhaltete.12
Auf dem Gebiet der Theorie sind etablierte Konzepte wie „hybrider Krieg" und „Informationskrieg" nicht mehr uneingeschränkt anwendbar, so dass eine konzeptionelle Neukonfiguration erforderlich ist. Diese Verschiebung ist unerlässlich, um der sich entwickelnden Natur der Konflikte und ihrer Dynamik Rechnung zu tragen. Mit Blick auf viele zeitgenössische Konflikte ist es sinnvoller diese als Erscheinungsformen eines Kolonialismus zu betrachten, was insbesondere im Kontext des russischen Kolonialismus deutlich wird.13 
Insgesamt wird dieser Prozess der Reflexion auf den epistemologischen Kontext des Krieges bisher weitestgehend in der Geschichtswissenschaft und den Slawistiken ausgetragen. Innerhalb der Sozialwissenschaften stehen besonders die Sicherheitswissenschaften vor besonderen Herausforderungen. Dies verdeutlicht den interdisziplinären Charakter dieses Anliegens zusätzlich.14 Dabei handelt es sich jedoch überwiegend um Debatten über die Rollen von NATO und EU sowie über die (Nicht-)Gültigkeit eines ihrer wichtigsten Theoreme: des Neorealismus. Die Debatte dreht sich weit weniger um sicherheitspolitische Fragen innerhalb Osteuropas. In begrenztem Maße findet jedoch bereits jetzt eine Reflexion auf die mangelnde Verknüpfung zwischen Sozialwissenschaften und Regionalstudien statt.15
 
Der Krieg verändert nicht nur das Anforderungsprofil und die Arbeitsstruktur der Geschichtswissenschaften sondern wirft Fragen nach der Authentizität von Daten und der Dekolonialisierung von Datenkulturen und digitalen Infrastrukturen auf. „Daten sind – genauso wie historische Quellen – nie objektiv und frei von Voreingenommenheit oder ideologischen Überzeugungen zu haben. Daten reproduzieren Konflikte, Hegemonien und Kolonialismen. Sie verstärken kognitive Verzerrungen und subalterne Positionen [...]. Es braucht geeignete Methoden und Werkzeuge, um diese Altlasten nicht nur kritisch zu reflektieren, sondern auch, um wieder ein neues Bewusstsein in den Forschungskreislauf einzubringen".16 Bereits 2020 wiesen Susan Drucker und Russell Chun17 auf die Auswirkungen von Fake News und Desinformationskampagnen auf Gesellschaften hin: „Wie bei Krebs werden auch bei Fake News die normalen Kommunikationsnetzwerke gekapert, um sich zu verbreiten, zu infizieren und zu mutieren. [...] Der Ansturm und die Geschwindigkeit, mit der potenziell unwahre, unrichtige oder gefälschte Informationen (ob als Waffe eingesetzt oder achtlos weitergegeben) verbreitet werden, kann zu einem Verlust unserer geistigen Gesundheit führen. Sobald wir keine gemeinsame veridische Grundlage für Meinungsdiskussionen haben, leidet die Integrität unserer gesamten Gemeinschaft."
Wie Miglė Bareikytė und Yarden Skop18 feststellen, hielten Aggression und Widerstand nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine auch in digitalen Räumen Einzug: „Außerhalb der physischen Schlachtfelder ist die digitale Dynamik dieses Krieges in den Vordergrund gerückt: Manche nennen ihn 'den ersten TikTok-Krieg' [...]. Die ukrainischen Behörden sagen, dass sie einen 'hybriden Krieg' führen, der sowohl Angriffe auf dem Boden als auch zahllose Cyber-Attacken umfasst, die darauf abzielen, wichtige kommunikative Infrastrukturen zu beschädigen oder die digitale Sphäre mit widersprüchlichen Informationen zu fluten." Beide Autoren weisen auch auf die grundlegend neue Qualität dieses Konflikts für den Westen und seine gesellschaftliche Integrität hin: „Eines der Ziele der Desinformation ist es, Kohärenz zu dekonstruieren und kollektive Sinnbildungsprozesse zu stören. Sie soll das Verständnis der Gegenwart erschweren und damit auch den Aufbau einer geteilten Sicht auf die Vergangenheit."19
Vor diesem Hintergrund sollten wir uns daher folgende Fragen stellen: Was bedeutet diese Fragilität des Faktischen für die digitale Quellenkritik? Welche Form der digitalen Handlungsfähigkeit ist zu beobachten und was bedeutet dies für den Status klassischer historischer Forschung sowie kuratorischer Aufgaben? Wie beeinflusst der Krieg aktuelle Entwicklungen im Aufbau, der Vernetzung und dem Selbstverständnis von Infrastrukturen? Wie ist der Umgang mit überliefertem Wissen und Sammlungsaufträgen zu gestalten? Wie kann die Historizität und Ambivalenz von Kategorien und Begriffen in Forschungsdatenstrukturen eingebracht werden? Welche Leitprinzipien gibt es für den Umgang mit strittigem Wissen? Und last but not least: Welche Kompetenzen gilt es, bei künftigen Geisteswissenschaftler:innen fördern?
Handlungsmacht, Identitäten und die Rolle der Sprachen in der Ukraine
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Das Auseinanderragen von sprachlicher Identität und Praxis vor 2022 ist durch eine zunehmende Identifikation mit der ukrainischen Sprache nach den Ereignissen von 2014 gekennzeichnet. Dies wurde durch die staatliche Sprachenpolitik und die Förderung der ukrainischen Sprache durch legislative Maßnahmen befördert. Daher können wir nach 2022 eine drastische Verschiebung hin zu einer stärkeren Popularität des Ukrainischen20 verzeichnen. Darüber hinaus ist eine Nivellierung der Ungleichheit unter den verschiedenen Regionen bei einer gleichzeitig auftretenden Verschiebung des gemeldeten und abgebildetem Sprachgebrauchs zu beobachten. Eine noch deutlichere Verschiebung hin zu einer Hegemonie der ukrainischen Sprache, selbst in traditionell russisch geprägten Gebieten, ist zu erwarten.21
So ist derzeit ein Anstieg der Verbreitung des ukrainischen Sprachgebrauchs zu beobachten, während der Grad der Zweisprachigkeit konstant bleibt und der Gebrauch des Russischen zurückgeht. Eine der vielen künftigen Herausforderungen wird darin bestehen, ein Gleichgewicht zwischen Sprachaktivismus und seiner Rolle bei der Stärkung des Sprachbewusstseins und der Sprachmotivation zu finden, während gleichzeitig die Sprachenvielfalt der Ukraine die Erhaltung der anderen nationalen Sprachen und Traditionen erfordert. Der EU-Beitrittsprozess könnte dies durch neue gesetzliche Regelungen zum Schutz nationaler Minderheiten unterstützen. Die Sprachpraktiken der Vertriebenen in der Ukraine, einschließlich ihrer sprachlichen Interaktionen mit der einheimischen Bevölkerung sowie die möglichen Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Wiederaufbau müssen weiter erforscht werden. Die dramatische Entwicklung der Spracheinstellungen und -praktiken der Ukrainer:innen in Konfliktzeiten wird daher Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Bereits jetzt sind vielschichtige Entwicklungen zu beobachten, wie z.B. ein verstärkter Gebrauch des Ukrainischen, die Angleichung regionaler sprachlicher Unterschiede sowie die Auswirkungen des Sprachaktivismus auf das Ukrainische und auf verschiedene Minderheitengruppen.22
Mychailo Wynnyckyj zufolge hat die Sozialwissenschaft in den letzten 30 Jahren die Veränderungen in der ukrainischen Identität übersehen und ist in einem Paradigma stecken geblieben, das fälschlicherweise Sprachgebrauch mit nationaler Identität gleichsetzt. Dies führte dazu, dass nicht verstanden wurde, dass sich die russischsprachigen Ukrainer:innen im Süden und Osten der Ukraine dennoch in erster Linie als Ukrainer:innen verstehen. Die ethno-linguistische Selbstidentifikation könnte mit einer politisch-institutionellen Dimension der nationalen Identität einhergehen. Aufgrund der starken Skepsis gegenüber politischen Institutionen ist die ukrainische Identität jedoch stark mit einer territorialen Dimension d.h. „Territorialnation" verbunden.23
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Linguistische Landschaften in der Ukraine
Sprachliche Zeichen, die auf eine bestimmte Zugehörigkeit zu einer Sprecher:innengemeinschaft hinweisen, sind beobachtbare Indikatoren für die relative Macht und den Status von Sprecher:innengemeinschaften in einem bestimmten Gebiet. So können diese Zeichen auf sprachliche und symbolische Abgrenzungen zwischen Sprachkontaktzonen hinweisen oder sie können Sprachlandschaften negieren, die beispielsweise von Besatzungsmächten eingeführt wurden. Dies ist in den besetzten und/oder befreiten ukrainischen Gebieten zu beobachten. Einerseits ist die russisch-ukrainische Zweisprachigkeit in bestimmten Gebieten seit Beginn des Krieges verstärkt unter Druck geraten. Andererseits sind Sprachlandschaften in der ukrainischen Sprache viel mehr zu symbolischen Abgrenzungen der Selbstverteidigung, der Identität und der nationalen Einheit geworden.24 
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Russlands Ukraine-Narrative
Putins anti-ukrainischer Rhetorik zufolge ist die ukrainische Sprache in Wahrheit „artifiziell" und stellt mehr einen russischen Dialekt als eine eigene Sprache dar. Dies kann als eine rhetorische Figur zur Kriegsrechtfertigung angesehen werden.25 In ähnlicher Weise wird dieser Krieg aus russischer Perspektive gerade deshalb geführt, um Russlands traditionelle, geistige, moralische, kulturelle und historische Vergangenheit und Erinnerung zu bewahren, die als mit ukrainischen Territorium verschränkt betrachtet werden.26
Der russische Blick auf die Ukraine ist vor allem ein historischer, der mit falschen Narrativen über den „Russkyj Mir" arbeitet. Eine ganze Reihe von gefälschten Kriegsrechtfertigungen, die sich auf die Kiewer Rus' und die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs beziehen, werden derzeit für politische Zwecke missbraucht. Demgegenüber sind die ukrainischen Debatten über Selbstverständnis und Identität unter den Eliten und im politischen Diskurs eher zukunftsorientiert – ein Trend, der sich bereits vor dem Krieg abzuzeichnen begann.27
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Kultur und Religion
Für ein umfassendes Verständnis des Verlaufs des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine dürfen wir auch die religiöse Dimension nicht vernachlässigen. Die mannigfaltigen kulturellen und religiösen Verflechtungen zwischen der Ukraine und Russland haben die Beziehung beider Ländern seit der Unabhängigkeit der Ukraine stark geprägt. So sind die ukrainischen Bestrebungen nach kirchlicher Unabhängigkeit von Russland, d.h. vom Moskauer Patriarchat, bereits seit Jahren ein Thema. Die Emanzipation der neuen orthodoxen Kirche der Ukraine wurde im Januar 2019 anerkannt. Die Machtkämpfe jedoch gingen weiter.28 Darüber hinaus wird der russische Angriff auf die Ukraine weitgehend vom Moskauer Patriarchat unterstützt. Ferner wurden zahlreiche sakrale Gebäude in der Ukraine massiv beschädigt.29
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Dokumentation des Krieges als Zeitenwende
Seit dem 24. Februar 2022 ist deutlich geworden, dass der Krieg auch auf dem Gebiet der digitalen Wissenschaft neue Betätigungsfelder eröffnet hat: Beispiele sind die Dokumentation von Zerstörung und Kulturraub durch die systematische Archivierung von Telegram-Chats und Handydokumenten, in welchen Verbrechen an historischen, kulturellen und architektonischen Gütern und Schätzen für die Nachwelt bewahrt werden. Dieser Krieg hat sich bereits jetzt zum bisher am besten dokumentierten Krieg in der Geschichte entwickelt. Eine neue Dimension der Echtzeit-Kriegsbeobachtung besteht darin, dass sie unseren Blick auf das Alltagsleben der Menschen im Krieg – in den Städten und auf dem Land – gelenkt hat. Dank der Fähigkeit dieser Menschen, Ereignisse aufzuzeichnen und dieses Material online zu verbreiten, kann die internationale Strafjustiz nun auf eine enorme Fülle von Quellen, Dokumenten für den Beweis von Kriegsverbrechen zurückgreifen. Dies gilt auch für die Verbrechen Russlands im Bereich des kulturellen, historischen und religiösen Erbes. Aus Sicht der Forschung erfordert die außerordentlich große  Zahl digitaler Quellen geeignete Methoden der Datenspeicherung und -analyse. Letztlich verlangt dieses Unterfangen nach einem multidisziplinären Ansatz.30
Die Herausforderungen umfassen die Durchführung von Feldforschung unter Kriegsbedingungen, den Umgang mit sensiblen Daten, die von der Gegenseite missbraucht werden könnten, das Navigieren im Bereich der Informationskriegsführung mit den ihr innewohnenden Vertrauensproblemen und die Anerkennung der Unzuverlässigkeit von Daten, die aus besetzten Gebieten stammen, in denen keine Meinungsfreiheit herrscht. Auch die Moitvlagen von Wissenschaftler:innen haben sich weiterentwickelt, weg vom Anspruch der reinen Objektivität hin zu einem breiteren Spektrum, das auch die Rollen von Journalist:innen und Aktivist:innen betrifft.31
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt außerdem einen Angriff auf die regelbasierte Weltordnung dar und zeigt sich als Machtkampf zwischen demokratischen und autokratischen Ordnungen. Daher sind auch multidisziplinäre Perspektiven aus historischen, sprach- und sozialwissenschaftlichen Interpretationen des Ukrainekrieges und seiner Ursachen erforderlich, um Ursachen und Folgen auf verschiedenen Ebenen einordnen zu können.
Es bedarf weiterer Untersuchungen, um Verbindungen zu anderen Krisen (Krisen politischer Systeme durch Populismus, Autoritarismus und Radikalismus, Neuausrichtung von Wertschöpfungsketten und Finanzsystemen, Energie-, Klima- und Ernährungskrisen, Covid-/Gesundheitskrise) zu erkunden und der Frage nachzugehen, inwieweit der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch als Ergebnis einer Kumulation dieser Krisen zu bewerten ist. Abzuwarten bleibt, wie sich der Krieg auf andere verbündete oder ausgleichende Staaten im postsowjetischen Raum, insbesondere in Zentralasien, auswirken wird. Die zentralasiatischen Staaten könnten in ihrer außenpolitischen Ausrichtung entscheidend für die Berechnung der künftigen Gesamtmachtbasis Russlands werden. Dies ist, neben anderen Fragen wirtschaftlicher Abhängigkeiten, auch ein Thema intraregionaler postkolonialer Machtverschiebungen weg von Russland (als empirisches Beispiel siehe etwa Arystanbek und Schenk 2022).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die akademische Osteuropaforschung in Deutschland noch immer unter ihrer systematischen Reduktion und Dekonstruktion im Gefolge des Kalten Krieges leidet.32 In jüngerer Zeit gibt es einige Impulse zur Stärkung der Osteuropaforschung, die vor allem in Richtung einer Perspektiverweiterung weisen. So wurde beispielsweise vorgeschlagen, in Kiew ein Deutsches Historisches Institut einzurichten. Wie schon die Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau im Jahr 1993 auf eine Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft auf Polen und Ostmitteleuropa hindeutet.33
Obowohl ein allmählicher Rückgang zu verzeichnen ist, verfügt Deutschland seit dem Ende des Kalten Krieges nach wie vor über eine der vielfältigsten Forschungslandschaften und -kompetenzen zum Thema Osteuropa. Diese besteht aus einer Vielzahl von universitären Zentren und Lehrstühlen sowie außeruniversitären Einrichtungen. Wie das Symposium abschließend deutlich gemacht hat, muss ein zentraler Punkt unserer weiteren Diskussion lauten, wie diese Landschaft besser vernetzt und auch international sichtbarer gemacht werden kann. Die in den nächsten Jahren anstehende und sicherlich schmerzhafte Neuausrichtung der einzelnen Disziplinen sollte sich nicht nur auf innerwissenschaftliche Reflexionen beschränken, sondern auch proaktiv zur Stärkung von Transferaspekten genutzt werden. Schließlich sollte mit Blick auf den notwendigen Wiederaufbau der ukrainischen Wissenschaft nach Kriegsende das Motto des Symposiums „Kooperation auf Augenhöhe" in allen Bereichen des wissenschaftlichen Dialogs mit der Ukraine umgesetzt werden.
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