Wie war der erste Tag des Krieges in Charkiw? Wie hat sich die Stadt durch den verheerenden Angriff auf die Ukraine verändert? Wie erleben Menschen den Krieg? Danach gefragt wurden Bewohner:innen von Charkiw in den ersten Monaten nach dem 24. Februar 2022.
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Der Themenschwerpunkt „Die verletzte Stadt. Bewohner:innen erzählen vom Angriff auf ‚ihre‘ Stadt Charkiw“ entstand in den letzten zwei Jahren in enger Zusammenarbeit zwischen dem Verein „Young Kharkiv“, dem Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) und dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft. 
Kurz nach dem Ausbruch des Krieges musste die Historikerin und Oral-History-Spezialistin Svitlana Telukha aus Charkiw nach Leipzig fliehen. Hier lernte sie Maren Röger, Direktorin des GWZO, kennen und begleitete sie in eines ihrer Seminare, um dort von den ersten Tagen des Krieges zu berichten. Zum Seminar brachte Svitlana Telukha Videointerviews aus Charkiw mit, in denen Charkiwer:innen von dem Vorabend des Krieges berichteten, von ihrer unmittelbaren Reaktion auf den Angriff Russlands auf ihre Stadt und davon, wie ihr Alltag durch den Krieg schockartig abbrach. Diese Interviews hatten eine solche Kraft, dass die Idee entstand, gemeinsam mit dem Transferportal Copernico die Interviews ins Deutsche und ins Englische zu übersetzen und zu veröffentlichen.
Dorothee Riese vom Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Antje Johanning vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung und Svitlana Telukha übernahmen die Herausgabe des Themenschwerpunkts. Dabei arbeiteten sie eng mit Svitlana Telukhas Kolleg:innen in Charkiw zusammen. Der Themenschwerpunkt bildet das Anliegen der NGO ab, das Gedächtnis ihrer Stadt digital zu archivieren und zu bewahren sowie einer internationalen (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Darüber hinaus bieten die Interviews Einblicke in Gedanken und Gefühle von Betroffenen unmittelbar nach dem Angriff, und werden damit über die Stadt hinaus einen unschätzbaren Wert als Quellen zum russischen Angriff auf die Ukraine haben.
Im Zentrum des Dossiers stehen 11 Interviews mit Charkiwer:innen, die in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn in der Stadt geblieben sind. In allen Interviews werden zentrale Leitfragen gestellt, die es ermöglichen, die individuellen Erfahrungen miteinander zu vergleichen. Von jedem Interview gibt es zwei Varianten: einen kurzen Zusammenschnitt, der einen konzentrierten Einblick in die Erzählung der Interviewten gibt, und die ungekürzte Langversion der Interviews. Gerahmt werden die Berichte von einführenden Texten von Young Kharkiv, einem Beitrag von Iryna Skyrda, in dem sie berichtet, wie die Stadt sich verändert hat. Mikhail Ilchenko, ein am GWZO ansässiger Experte für Stadtgeschichte im östlichen Europa, gibt einen profunden Einblick in das Charkiw der 1920er und 1930er Jahre und der Verbindung dieser Zeit zum kulturellen Gedächtnis der Stadt.
Eines der zentralen Anliegen von Young Kharkiv ist es, angesichts der massiven Zerstörungen durch Russlands Dauerangriffe das Gedächtnis an die Orte der Stadt und ihrer Bewohner:innen, ihrer Erinnerungsorte, zu bewahren. Daher fragen sie auch explizit nach Orten, die den Interviewten etwas bedeuten. Diese Orte präsentieren wir als zusätzliche Vermittlungsebene auf einer Karte, so dass Sie die Möglichkeit haben, sich näher über diese Erinnerungsorte zu informieren.
Der Themenschwerpunkt trägt den Titel „Die verletzte Stadt“. Denn den Beteiligten, den Mitgliedern von Young Kharkiv und den Interviewten, genauso wie dem Herausgeber:innenteam ist der Schmerz um die Zerstörung der vertrauten Stadt gemeinsam. Zugleich sind die Interviews selbst ein Versuch, Widerstand zu leisten und Resilienzstrategien zu entwickeln. Der Wille, das gemeinsame Gedächtnis zu bewahren und die Zerstörung zu dokumentieren, zeigt sich in der Entscheidung der Historiker:innen, sich trotz drohender Raketenangriffe mit der Videokamera auf den Weg zu machen. Er zeigt sich in jedem Interview, in dem die Gesprächspartner:innen sich mühen, angesichts des Krieges Zeugnis abzulegen und eine optimistische Selbsterzählung zu entwickeln. Sie steckt im Anliegen, das uns alle, Young Kharkiv, die Autor:innen und uns Herausgeber:innen eint, das Gedächtnis dieser beeindruckenden Metropole, die Russland so verheerend nah ist, zu bewahren und zu schützen.
Dass das Projekt nun erscheinen kann, liegt an der sorgfältigen und ausdauernden Arbeit eines großen Teams. Die Idee, die Interviews zu veröffentlichen, hatte Prof. Dr. Maren Röger, deren Rat und Unterstützung das Projekt erst ermöglichten. Gedankt sei den Mitgliedern von Young Kharkiv, die in der Stadt ausharrten und stets neues Material für das Projekt schickten: Yevhenii Telukha, Yevhen Mikhnov, Anton und Iryna Skyrda. Das Projekt war nur möglich durch die unermüdliche Arbeit eines Teams von studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften, Cutter:innen und Übersetzer:innen. 
Die Interviews wurden von ukrainischen Übersetzerinnen ins Deutsche und ins Englische übersetzt. Anastasiia Babak und Maryna Skuratovska übersetzten ins Deutsche, Anna Lysenko übersetzte ins Englische. Das Proofreading der englischen Transkripte übernahmen Coady Buckley und William Connor, das der deutschen Transkripte in erster Linie Elisabeth Haid-Lener und Michèle Kraft. Michèle Kraft übernahm zu dem das Datenmanagement. Bogdan Mykytenko konnte für das Video-Cutting gewonnen werden.
Weiter waren an dem Projekt folgende Hilfskräfte beteiligt: Erwin Ebel, V. F., Sören Kühne, Daniel Sagradov, Leticia dos Santos, Matthias Solka, Stefan Trajkovic-Filipovic, Hilke Wagner, Simeon Waibel und Antonia Zerbe.
Wir danken der Beauftragten für Kultur und Medien für die Förderung des Projektes.