Warschau ist die Hauptstadt Polens und zugleich die größte Stadt des Landes (Bevölkerungszahl 2022: 1.861.975). Sie liegt in der Woiwodschaft Masowien an Polens längstem Fluss, der Weichsel. Warschau wurde erstmals Ende des 16. Jahrhunderts Hauptstadt der polnisch-litauischen Adelsrepublik und löste damit Krakau ab, das zuvor polnische Hauptstadt gewesen war. Im Rahmen der Teilungen Polen-Litauens wurde Warschau mehrfach besetzt und schließlich für elf Jahre Teil der preußischen Provinz Südpreußen. Von 1807 bis 1815 war die Stadt Hauptstadt des Herzogtums Warschau, einem kurzlebigen napoleonischen Satellitenstaat; im Anschluss des Königreichs Polen unter russischer Oberherrschaft (dem sog. Kongresspolen). Erst mit Gründung der Zweiten Polnischen Republik nach Ende des Ersten Weltkriegs war Warschau wieder Hauptstadt eines unabhängigen polnischen Staates.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Warschau erst nach intensiven Kämpfen und einer mehrwöchigen Belagerung von der Wehrmacht erobert und besetzt. Schon dabei fand eine fünfstellige Zahl an Einwohnern den Tod und wurden Teile der nicht zuletzt für seine zahlreichen barocken Paläste und Parkanlagen bekannten Stadt bereits schwer beschädigt. Im Rahmen der anschließenden Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde mit dem Warschauer Ghetto das mit Abstand größte jüdische Ghetto unter deutscher Besatzung errichtet, das als Sammellager für mehrere hunderttausend Menschen aus Stadt, Umland und selbst dem besetzten Ausland diente und zugleich Ausgangspunkt für die Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager war.
Infolge des Aufstandes im Warschauer Ghetto ab dem 18. April 1943 und dessen Niederschlagung Anfang Mai 1943 wurde das Ghettogebiet systematisch zerstört und seine letzten Bewohner verschleppt und ermordet. Im Sommer 1944 folgte der zwei Monate dauernde Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung, in dessen Folge fast zweihunderttausend Polen ums Leben kamen und nach dessen Niederschlagung auch das restliche Stadtgebiet Warschaus von deutschen Einheiten weitgehend und planmäßig zerstört wurde.
In der Nachkriegszeit wurden zahlreiche historische Gebäude und Teile der Innenstadt, darunter das Warschauer Königsschloss und die Altstadt, wiederaufgebaut - ein Prozess, der bis heute andauert.
Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.
Irena Krzywicka zit. n. Agata Tuszyńska: Krzywicka. Długie życie gorszycielki, Kraków 2011, 31–34
Ich lebte ein sehr langes Leben ... Ich durchlebte alle erdenklichen Unglücke, den Holocaust selbst zwar nicht, aber ich verlor an ihn fast alle, die ich liebte. Man sagt über mich, ich sei ein Star gewesen. Ein Star der Salons. Ich galt als hübsch; ich führte ein interessantes und farbenfrohes Leben. Ich hatte wunderbare, treue Freunde, die ich innig liebte. Antoni Słonimski war einer von ihnen, dann Jarosław Iwaszkiewicz ... Auch Tadeusz Boy-Żeleński spielte eine große Rolle in meinem Leben. Er war mein Maitre a penser, mein Lehrer und Mentor. Das Amüsante und eigentlich Paradoxe war, dass ich fast die gesamte polnische Schule der Mathematik kannte ... Ich habe so viele Menschen in meinem Leben gekannt... Ich kannte nicht nur polnische Schriftsteller, sondern auch viele französische Literaten ... Ich kannte Papst Johannes XXIII. Nach dem Krieg ... hatte ich fast alle meine Verwandten verloren; ich wandelte auf Gräbern. Ich dachte, ich würde es nicht überleben, ich würde nicht weiterleben können ... Aber ich lebe noch, verdammt noch mal, und ich lebe weiter und lebe weiter.
Kiew liegt am Fluss Dnepr und ist seit 1991 Hauptstadt der Ukraine. Nach der ältesten russischen Chronik, der Nestorchronik, wurde Kiew erstmals 862 erwähnt. Es war Hauptsiedlungsort der Kiewer Rus‘, bis es 1362 an das Großfürstentum Litauen fiel, das 1569 Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik wurde. 1667 kam Kiew nach dem Aufstand unter Kosakenführer Bogdan Chmel'nyc'kyj und dem darauf folgenden polnisch-russischen Krieg zu Russland. 1917 wurde Kiew Hauptstadt der Ukrainischen Volksrepublik, 1918 der Ukrainischen Nationalrepublik und 1934 der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Bezeichnet wurde Kiew auch als „Mutter aller russischen Städte“, „Jerusalem des Ostens“, „Hauptstadt der goldenen Kuppeln“ und „Herz der Ukraine“.
Im russisch-ukrainischen Krieg ist Kiew stark umkämpft.
Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.
Lwiw (deutsch Lemberg, ukrainisch Львів, polnisch Lwów) ist eine Stadt in der Westukraine in der gleichnamigen Oblast. Mit knapp 730.000 Einwohner:innen (2015) ist Lwiw eine der größten Städte der Ukraine. Die Stadt gehörte lange zu Polen und Österreich-Ungarn.
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Krakau ist die zweitgrößte Stadt Polens und liegt in der Woiwodschaft Kleinpolen im Süden des Landes. In der Stadt an der Weichsel wohnen ungefähr 775.000 Menschen. Die Stadt ist bekannt für den Hauptmarkt mit den Tuchhallen und der Wawel-Burg in der Altstadt Krakaus, welche seit 1978 zum UNESO-Welterbe gehört. In Krakau liegt die älteste Universität Polens, die Jagiellonen-Universität.
Zuzanna Ginczanka: Non omnis moriar. In: Von Zentauren – und weitere ausgewählte Gedichte. Aus dem Polnischen übers. v. Bernhard Hofstötter u. Hanna Kubiak. Hamburg 2021.
„Non omnis moriar“
Non omnis moriar - meine stolzen Güter,
Tischdeckenwiesen, Festungen standhafter Schränke,
die Weiten der Bettlaken, sehr kostbares Bettzeug
und Kleider, helle Kleider bleiben von mir zurück.
Ich habe hier keinen Abkömmling hinterlassen,
so soll deine Hand in jüdischen Dingen wühlen,
Chominowa, aus Lwów, eines tücht‘gen Spitzels Frau,
Denunziantin flink, eines Volksdeutschen Mutter.
Dir, den Deinen lass sie dienen, denn wozu Fremden?
Ihr meinen - da ist keine Laute, kein eitler Nam’.
Ich werde an euch denken, denn als die Schupo kam,
habt ihr auch an mich gedacht. Sie an mich erinnert.
Lass meine lieben Freunde beim Zechen nur sitzen
und mein Begräbnis und eig’nen Reichtum begießen:
Kelims und Wandteppiche, Schüsseln und auch Leuchter -
Lass sie die ganze Nacht trinken und im Morgenrot
nach Edelsteinen und Gold zu suchen beginnen
in Kanapees, Matratzen, Bettdecken, Teppichen.
O, wie ihnen das Werk in den Händen brennen wird,
ein Durcheinander von Rosshaaren und Meeresgras,
Schwaden aufgeschlitzter Kissen, Wolken von Daunen
an ihren Händen haftend, statt Armen jetzt Flügel;
mein Blut ist es, das Werg mit frischen Daunen verklebt
und die Beflügelten jäh in Engel verwandelt.
Beresne ist eine Stadt (Bevölkerungszahl 2022: 13.126) im Nordwesten der Ukraine. Sie liegt in der historischen Landschaft Wolhynien. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es mit 94,6 % der Ort mit dem höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung im damaligen Polen.
In: G. Bigil (ed.): Mayn shtetele Berezne. Tel Aviv 1984, S. 161. Translated from Hebrew by Yechiel Weizman.
Als sich im November 1944 die Partisanenkämpfer den russischen Befreiern anschlossen, wurden wir aus den Partisanen entlassen und nach Kiew geschickt. Während der Befreiung von Berezne durchquerten wir mehrere Städte in Wolhynien. Als wir Berezne erreichten, konnten unsere Augen nicht fassen, was sie sahen - die Stadt war verwaist und bar jeglichen jüdischen Lebens. Schrecklich und unbeschreiblich die Verheerungen - die Häuser, in denen zuvor Juden gewohnt hatten, waren jetzt entweder verlassen oder zerstört - jene, die noch intakt waren, von Fremden bewohnt. Es ist unmöglich, diese Stadt wiederzuerkennen, die noch fünf Jahre zuvor in voller Blüte gestanden hatte. Wir fragten nicht, wo die Juden abgeblieben waren - unsere Väter, Brüder, Schwestern. Als wir uns in den Ruinen der verwaisten Stadt umsahen, wussten wir – etwa vierzig Juden –, dass ihre Gebeine in Gruben, in großen Löchern, verscharrt lagen. Doch wir hatten Angst, diese Orte allein aufzusuchen. Erst als ein jüdisch-russisches Regierungskomitee die Gräber inspizieren kam, gingen auch wir zu den Ruhestätten unserer Väter und Kinder. Wir fanden ein dem Erdboden gleichgemachtes Stück Land vor, ohne die geringste Spur eines Grabhügels. Wir hoben den Boden ab und entdeckten ein Massengrab – bis zum Rand mit männlichen Leichen gefüllt. Die Leichname lagerten in Schichten übereinander, zwischen ihnen befand sich Kalk. Rundherum, an den Rändern der Gräber, befanden sich weitere Leichen, sitzend. Im zweiten Grab lagen Frauen begraben, fast in derselben Position. Im dritten Grab fanden wir die Skelette von Kindern. Da lagen unsere Eltern und lieben Verwandten nun, denen die bösen Männer brutal das Leben geraubt hatten – an diesem Tag zerbarsten uns allen die Herzen. Nach Ende der Inspektion bauten wir die Gräber mit unseren eigenen Händen von Neuem auf. Wir schichteten etwas Erde um sie herum und errichteten ein Tziun [Denkmal], ohne Gewissheit, ob es erhalten bleiben würde. Wir standen um die Gräber herum – gebrochen vergossen wir stille Tränen. Nachdem wir das Kaddisch gesprochen hatten, verließen wir diesen Ort. Die Geschichte von Berezne hatte ihr Ende gefunden.
Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.
Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.
Iwie ist eine Stadt (Bevölkerungszahl 2022: 7.243) und ein ehemaliges Shtetl im Westen von Belarus. Der Ort wurde erstmals 1444 erwähnt. Iwie gilt als die Stadt mit dem höchsten Anteil an tatarischer Bevölkerung im Land. Das Städtchen zeichnete sich auch historisch durch ein Miteinander verschiedener Ethnien und Religionen aus.
Belarus ist ein von ungefähr 9,5 Millionen Menschen bewohnter Staat im östlichen Europa. Die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt des Landes ist Minsk. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist der Staat unabhängig. Belarus grenzt an die Ukraine, Polen, Litauen, Lettland und Russland.
Tamara Baradach wurde im Jahr 1949 geboren. Das Interview hat im Rahmen des Forschungsprojekts “Mapping the Archipelagos of Lost Towns” Ina Sorkina am 08.07.2020 und 21.12.2020 geführt. Das Projekt ist von der Gerda Henkel Stiftung gefördert worden.
Für uns Kinder waren die Tage des 11. und 12. Mai ein Feiertag, auf den wir uns immer freuten ... Das war der Tag, an dem all jene, die überlebt hatten, nach Iŭje kamen. Wenn sie sich unterhielten, dann lauschte ich dieser Sprache, die ich nicht verstand, Jiddisch ... All diese Überlebenden bei uns zu Hause! ... Für uns war es, wie wenn die Familie zu Besuch kommt, denn wir alle hatten ja keine Familien mehr. Die polnischen Kinder gingen in die Kirche, die tatarischen Kinder in die Moschee, und wir? Wir gingen nirgendwo hin, nur in das Kulturzentrum in der ehemaligen Synagoge. Wir feierten auch keine Feiertage. Es gab nur diesen einen Tag im Jahr, an dem wir trauerten und zugleich ein wenig Freude empfinden konnten, weil unsere Familie zu Besuch kam ... Meine Mutter und mein Vater riefen all diese Überlebenden "iungl", "unsere iungl". In unserer Jugend dachten wir immer, sie seien unsere Onkel. Wir sprachen auch so mit ihnen. Wir dachten, das seien die Brüder unseres Vaters. In Wirklichkeit waren sie die Überlebenden von Iŭje. Wenn sie zu meiner Mutter sprachen, nannten sie sie Tante Nyura, obwohl sie genauso alt waren wie sie. Sie wollten sie einfach "Tante" nennen, weil sie keine Familien mehr hatten: keine Tanten, keine Onkel, keine Eltern. Sie waren alle in derselben Grube begraben.
Janina Bauman, Nigdzie na ziemi: Powroty: Opowiadania, Łódź: Wydawnictwo Officyna, 2011, 147-156.
Der letzte Tag im Januar 1968 sollte den Beginn einer bedeutenden Zäsur in meinem Leben und dem meiner Familie markieren, auch wenn wir uns dessen damals noch nicht bewusst waren. An diesem Tag beschloss die Zensur, die Theateraufführung von Adam Mickiewiczs Totenfeier im Nationaltheater abzusagen. Dies löste eine Welle von stürmischen Protesten unter Studenten und Intellektuellen aus ... Die Studenten ... forderten das Recht auf freie Meinungsäußerung und protestierten gegen die Zensur und die staatlichen Sicherheitsorgane. Sie verurteilten außerdem den Rassismus der offiziellen Propaganda, die die Proteste vor allem jüdischen Studenten in die Schuhe schob. Am 19. März fand am Abend ein Treffen von Władysław Gomułka mit Parteiaktivisten statt. Das Fernsehen übertrug die Sitzung live ... Schließlich kam es zu dem Punkt, auf den die Öffentlichkeit seit Beginn der Sitzung zu warten schien. „Letztes Jahr, während der israelischen Aggression gegen die arabischen Staaten, zeigte eine Reihe von Juden den Willen, nach Israel zu gehen und sich dem Krieg gegen die Araber anzuschließen. Es besteht kein Zweifel, dass diese Kategorie von Juden – polnische Staatsbürger – sich weder emotional noch rational mit Polen, sondern vielmehr mit Israel verbunden zeigt. Für diejenigen, die Israel als ihr Heimatland betrachten, sind wir bereit, Auswanderungspässe auszustellen.“ Ein Raunen ging durch den Saal. ... Beifall, Fußstampfen und Ausrufe: "Nieder mit den Zionisten" und ... "Euer Ende ist nah, packt eure Koffer" übertönten den Rest der Rede. Die Atmosphäre in der Kongresshalle begann plötzlich stark nach einem Pogrom zu riechen. Die Angst ergriff Besitz von uns. In einer Minute wird die Versammlung zu Ende sein und die Parteiaktivisten werden saufen gehen. Der Mob wird die Straßen Warschaus verlassen, um sich mit den Zionisten anzulegen, mit dem vollen Segen der Partei. ... Wir gerieten in Panik. ... Meine Töchter sammelten alle schweren oder scharfen Gegenstände zusammen, die wir besaßen – einen massiven Aschenbecher, das einzige scharfe Messer, einen hölzernen Kopf eines afrikanischen Kriegers mit einem Stachelhelm und ein paar robuste Kochtöpfe. Der Anblick dieses Arsenals amüsierte uns damals, obwohl wir eigentlich nichts zu lachen hatten.
Katka Reszke: Return of the Jew: Identity Narratives of the Third Post-Holocaust Generation of Jews in Poland, Boston 2019, S. 18–20
Als ich etwa sechzehn Jahre alt war, begann ich, "jüdisch zu werden". Ich las alles, was ich auf Polnisch und Englisch über Juden und das Judentum finden konnte. Zuhause und in der Schule sprach ich oft über Juden und das Judentum. Meine Freunde in der Schule begannen, mich als Jüdin zu bezeichnen. ... Ich entdeckte, dass meine Urgroßmutter eine Reihe von wunderlichen Ritualen und Bräuchen praktizierte. Niemand wusste, was sie zu bedeuten hatten. Erst als ich begann, mich mit dem Judentum auseinanderzusetzen, konnte ich ihnen einen Sinn abgewinnen. Ohne mich jetzt in Details verlieren zu wollen, gehörten zu den "wunderlichen" Dingen, die meine Urgroßmutter zu tun pflegte, die Trennung von Milch- und Fleischspeisen und die Befolgung strenger Regeln beim Backen von Challah-Brot. Darunter befanden sich auch die Gesetze der Hafraschat Challah – das Entfernen eines Stückchens vom Teig und das Bedecken der beiden Challah-Brote mit einem Tuch. Auf alle Fragen ihrer Kinder und Enkelkinder zu den obskuren Regeln hatte sie nur diese schwer verständliche Antwort parat: "Das ist nur ein Brauch." Sie kannte die Bräuche von ihrer Mutter - meiner Ur-Ur-Großmutter - und wir vermuten heute, dass es vielleicht diese Ur-Ur-Großmutter war, die dafür Sorge trug, dass es schließlich gelang, das jüdisch-Sein der Familie erfolgreich zu vertuschen. Sie konnte nicht wissen, dass ich ein paar Generationen später auftauchen und ihre Pläne durchkreuzen würde. Letztlich hatte Urgroßmutter nicht ganz Unrecht, als sie mich meshuggeneh nannte, was auf Jiddisch "verrückt" bedeutet... Mit Anfang zwanzig wanderte ich nach Israel aus, wo ich fast fünf Jahre lang bleiben sollte... Als weitgehend säkularer Mensch verblüffe ich auch heute noch viele Juden und Nicht-Juden damit, dass ich viele jüdische Rituale ausführe, dass ich am jüdischen Feiertag Sukkot die "vier Arten" schüttle, dass ich Kiddusch mit Wein mache oder, dass ich mich weigere, am Schabbat zu arbeiten. Sowohl meine Großmutter als auch meine Eltern begegneten meiner Entscheidung, dem Judentum angehören zu wollen, mit vollstem Verständnis. Zu meinem Erstaunen und Stolz gaben meine Eltern bei der letzten Volkszählung in Polen die doppelte Staatsangehörigkeit an – polnisch und jüdisch.