Das 19. Jahrhundert steht in der jüdischen Geschichte für eine Zeit eines alle Lebensbereiche umfassenden Wandels. Juden, die sich zuvor vor allem als religiöse Gruppe verstanden hatten, wurden nun Anhänger verschiedener politischer oder nationaler Bewegungen. So entstanden neue, stets umkämpfte jüdische Zugehörigkeiten.
Einleitung
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Im 19. Jahrhundert erfuhren zahlreiche Glaubensgemeinschaften Säkularisierungsschübe. An die Stelle religiöser Sinngebung und Zugehörigkeit traten neue und manchmal alternative Angebote von „vorgestellter Gemeinschaft“1. Solche  „imagined communities“
vorgestellte Gemeinschaften
Imagined Communities oder vorgestellte Gemeinschaften hat Benedict Anderson für die Erforschung nationaler Bewegungen geprägt. Der Begriff drückt aus, dass die Nation kein essentielles Konzept ist und dass es Nationen nicht schon immer gibt, sondern er verweist auf ihren Konstruktionscharakter, weil er verdeutlicht, dass die nationale Gemeinschaft eben vorgestellt oder imaginiert ist. Der Begriff bezieht sich auf die Moderne, in der Gemeinschaften, die über die Gruppe von persönlich bekannten Menschen hinausgehen, eine wichtige Rolle spielen.
 konnten etwa nationale Gemeinschaften sein, aber auch soziale Schichten, wie die Arbeiterklasse oder das Bürgertum. Auch Sportvereine oder Studentenverbindungen boten Zugehörigkeit.2  
Gesellschaftlicher Wandel trug sich zum Teil mit verblüffender Schnelligkeit zu, die zudem durch technologische Entwicklungen befördert wurde. Im 19. Jahrhundert wurde die „Beschleunigung“ zur Alltagserfahrung.3
Die jüdische Geschichte in diesem so aufregenden Jahrhundert bündelt diese Erfahrungen und schärft den Blick für die Tiefe des Wandels, denn die jüdische Gemeinschaft verstand sich selbst lange vor allem als religiöse Gruppe, ohne dass diese Frage überhaupt gestellt worden wäre. Als die religiöse Zugehörigkeit im Zuge der Säkularisierung fragiler wurde, traten oftmals kulturelle oder sprachliche Zusammengehörigkeitskonzepte und damit verbunden nationale Gemeinschaftsgefühle und Imaginationen an ihre Stelle. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaften geschah das auch, aber diese Zugehörigkeiten traten, auch aufgrund der Diaspora-Situation, nie „automatisch“ oder „alternativlos“ an die Stelle der Religion, sondern waren stets umstritten, sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinschaften, als auch im Dialog mit den anderen Gemeinschaften, in denen sich Widerstand gegen die jüdische Suche nach Zugehörigkeit regte. Parallel zum traditionell religiös motivierten Hass auf Jüdinnen und Juden, der häufig als  Antijudaismus
Antijudaismus
Als „Antijudaismus“ wird häufig die religiös motivierte Judenfeindschaft bezeichnet. Vor allem im christlichen Glauben gab es eine Reihe antijüdischer Theorien und Praktiken. Darüber hinaus wird der Begriff auch für nicht-christliche Formen vormoderner antjüdischer Haltungen, etwa in der Antike oder im Islam, genutzt. Eine strikte Trennung vom modernen „Antisemitismus“, wie häufig suggeriert, ist nicht sinnvoll, da beide Formen der gruppenbezogenen Diskriminierung zusammenwirken. Allerdings gibt es auch Unterschiede, die eine Differenzierung der beiden Begriffe sinnvoll erscheinen lassen.
 bezeichnet wird, verbreitete sich im 19. Jahrhundert der moderne  Antisemitismus
Antisemitismus
auch:
Antisemitismen, Judenfeindschaft, Judenhass, Judenfeindlichkeit, Judeophobie
Der Begriff „Antisemitismus“ wurde zunächst als Selbstbezeichnung einer Gruppe von Judenfeinden um Wilhelm Marr im Jahr 1879 genutzt. In dieser Zeit grenzte er sich von religiösen antijüdischen Haltungen ab. Heute wird er häufig als Sammelbegriff für verschiedene Formen antijüdischer Vorstellungen, Symbole und Haltungen genutzt. Das ist insofern schlüssig, weil der moderne Antisemitismus nicht an die Stelle traditioneller Judenfeindschaft trat, sondern traditionelle und moderne Formen häufig zusammen auftreten und sich wechselseitig verstärken.
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Die jüdische Bevölkerung im östlichen Europa nach den Teilungen Polens
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Das östliche Europa war bereits vor dem 19. Jahrhundert das Hauptsiedlungsgebiet der gesamten jüdischen Weltbevölkerung. Nach den drei  Teilungen Polens
Teilungen Polen-Litauens
auch:
Teilung des Doppelstaates Polen-Litauen, Teilungen Polens
Im Zuge dreier Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795 wurde die Adelsrepublik Polen-Litauen zwischen dem Russländischen Reich, Preußen und der Habsburgermonarchie aufgeteilt und verschwand bis 1918 als souveräner Staat von der politischen Landkarte Europas.
 (1772 – 1795) war mehr als die Hälfte der jüdischen Diaspora zu Untertanen des Russischen Reichs geworden (ohne dass die Menschen dafür den Wohnort wechselten). Auf diesen Jüdinnen und Juden liegt deshalb auch der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen. Etwas mehr als ein Zehntel der jüdischen Bevölkerung lebte in Galizien, das zur Habsburgermonarchie gehörte, und etwa 8% der Jüdinnen und Juden wohnten in verschiedenen deutschen Territorien, die meisten davon in Preußen.
Habsburgermonarchie
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In 
Galizien
yid. גאַליציע‎, yid. Galitsiye, ron. Halici, ron. Galiția, hun. Halics, hun. Gácsország, hun. Kaliz, hun. Galícia, ces. Halič, slk. Halič, eng. Galicia, rus. Галиция, rus. Galizija, ukr. Галичина, ukr. Halytschyna, pol. Galicja

Galizien ist eine historische Landschaft, die sich heute nahezu vollständig auf dem Gebiet Polens und der Ukraine befindet. Der heute südostpolnische Teil wird dabei üblicherweise als Westgalizien, der westukrainische als Ostgalizien bezeichnet. Vor 1772 gehörte Galizien über Jahrhunderte zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, im Anschluss und bis 1918 - als Teil des Kronlandes "Königreich Galizien und Lodomerien" - zum Habsburgerreich.

 waren die verschiedenen Richtungen der jüdischen religiösen Praxis präsent. Neben der traditionellen Orthodoxie wurde im 19. Jahrhundert das Reformjudentum stärker. Orthodoxe und Reformer waren einander in Abneigung verbunden. Ein anderer mächtiger Konkurrent der Orthodoxie war die chassidische Bewegung, der zahlreiche Jüdinnen und Juden in Galizien angehörten. Während die Reformbewegung bei den Habsburger Behörden, die eine Modernisierung der jüdischen Gemeinschaften anstrebten, Anerkennung fand, galt der Chassidismus als gefährlicher Aberglauben, der von der Obrigkeit bekämpft wurde. Ein Mittel der Reform des jüdischen Lebens war die Ausbildung staatlicher Kontrollmechanismen durch deutsche Namen. Ende des 18. Jahrhunderts nahmen hunderttausende jüdische Familien in den österreichischen Provinzen Galizien und Bukowina deutsche Familiennamen an, wie Johannes Czakai in seinem Buch „Nochems neue Namen“4 zeigen kann. Andere Mittel der Germanisierung waren die Ansiedlung deutscher Kolonisten in diesen Regionen. Als besonders schädlich erschienen den Behörden die unter den Juden verbreiteten allzu frühen Heiraten, die für mangelnde säkulare Ausbildung und Kinderreichtum verantwortlich gemacht wurden. Deshalb wurden „Heiratszeugnisse“ eingeführt, mit denen die heiratswilligen Jugendlichen einen Schulabschluss nachweisen sollten, ebenso wie die Fähigkeit, Deutsch zu sprechen. Während zahlreiche jüdische Untertanen die verschiedenen Modernisierungsmaßnahmen für sich nutzen, entzogen sich andere dem dadurch ausgelösten Druck. Jüdische Familiennetzwerke und vor allem die religiösen Gemeinschaften etwa waren transnational und transimperial verfasst, die neuen Grenzen spielten in der Lebenswirklichkeit der Gläubigen, die etwa zum Hof eines Tsaddiks pilgerten, keine verbindliche Rolle. Um diese Praktiken zu reglementieren, versuchte der Staat mithilfe eines Passsystems, die jüdische Binnenmigration zu kontrollieren und sogenannte „Betteljuden“ auszuweisen. 
Neben diesen Zwangsmaßnahmen waren ökonomische Gründe und die für das 19. Jahrhundert typische Urbanisierung für die Migration in die ungarischen Reichsteile, in die Großstädte, vor allem nach Wien, nach Westeuropa und in die USA ausschlaggebend. Im Jahr 1867 wurden die Juden in Österreich emanzipiert.
Preußen
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Auch in 
Königreich Preußen
dan. Kongeriget Preussen, pol. Królestwo Prus, eng. Kingdom of Prussia

Das Königreich Preußen bestand von 1701 bis 1918 und wurde von der Dynastie der Hohenzollern regiert. Das Land war von der Gründung bis 1848 eine absolute Monarchie und von 1848 bis zur Auflösung eine konstitutionelle Monarchie. Hauptstadt des Königreiches Preußen war Berlin. Das Land wurde von ungefähr 40 Millionen Menschen bewohnt. Nach der Novemberrevolution 1918 und der Abdankung Wilhelms II. löste sich das Königreich auf und bildete den Freistaat Preußen.

 entwickelten sich die Städte und vor allem Berlin als Magnet für die sozial mobile jüdische Bevölkerung. Neben dem Handel und anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten verbanden die jüdischen Zuwanderer Berlin mit der jüdischen Aufklärung (Haskala). Zusätzlich zur religiösen Gelehrsamkeit zog vor allem die Universität und das Versprechen auf säkulare Bildung zahlreiche jüdische Migranten in die Stadt. Aber auch andere Städte und ihre Bildungsinstitutionen zogen junge Juden an. Ein Beispiel ist der berühmte jüdische Historiker Heinrich Graetz, der 1817 in der preußischen Provinz Posen geboren wurde. Über Stationen u.a. in Berlin und Jena wurde er schließlich Professor in Breslau. Er war einer der wichtigsten Vertreter der deutsch-sprachigen Wissenschaft des Judentums, die sich von den osteuropäischen jüdischen Traditionen, wie etwa dem Jiddischen oder dem Chassidismus, abgrenzte.5 Ab 1812 wurden die Jüdinnen und Juden in Preußen und auch in anderen deutschen Territorien rechtlich gleichgestellt. Viele der Migranten streiften ihre osteuropäischen Wurzeln rasch ab und betrachteten bereits in der nächsten Generation Zuwandernde aus dem östlichen Europa skeptisch als „rückständig“. Ab Ende des 19. Jahrhunderts kam es neben der Entfremdung von den osteuropäischen Juden auch zum Teil zu einer nostalgischen Verklärung der osteuropäischen jüdischen Vergangenheit, einer Sehnsucht nach dem vermeintlich „authentischen“ jüdischen Leben im Shtetl.
Die jüdische Migration trug stark zum rasanten Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert bei, in Berlin stieg die Zahl der dort lebenden Jüdinnen und Juden von 6.400 zu Beginn auf 150.000 am Ende des Jahrhunderts an.
Russisches Reich
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Vor den Teilungen Polens hatte es im 
Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

 kaum jüdische Untertanen gegeben, aber durch den Ausgriff des Imperiums nach Westen geriet innerhalb von knapp 30 Jahren der größte Teil der jüdischen Weltbevölkerung unter die Herrschaft der russischen Zarinnen und Zaren. Das Russische Reich war ein Vielvölkerreich und hatte Erfahrungen mit dem Management von Andersartigkeit. Im Sinne der Aufklärung, die Katharina II. sich auf die Fahnen geschrieben hatte, war zunächst das Bemühen erkennbar, die jüdischen Untertanen in die gesellschaftliche Ordnung der westlichen Gouvernements des Imperiums einzuordnen und ihre Nützlichkeit im Sinne des Staatswohls zu befördern. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtete etwa Yohanan Petrovsky-Shtern ein neues „Goldenes Zeitalter“ des Shtetllebens von 1790 bis 18406 . Und noch während der Reformbemühungen Alexanders II. (1855–1881) kam es unter dem Paradigma von Nützlichkeit der jüdischen Untertanen zu einer „Verschmelzung“ zumindest eines Teils der jüdischen Bevölkerung mit den sie umgebenden Bevölkerungsgruppen unter dem sprachlichen und kulturellen Primat des Russischen.
Ansiedlungsrayon
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Der Ansiedlungsrayon (russisch „čerta postojannoj evrejskoj osedlosti“) war ein den Juden von 1791 an in Etappen zugewiesenes Gebiet im Russischen Reich, das sich über die westlichen und südwestlichen Gouvernements erstreckte. Diese Gebiete waren größtenteils mit den Siedlungsgebieten der jüdischen Bevölkerung in Polen vor den Teilungen identisch. Vor allem die südlichen Gebiete an der Küste des Schwarzen Meeres, das unter Katharina II. eroberte „Neurussland“ wurde für verschiedene Besiedlungsprojekte geöffnet. Zu den Kolonisten gehörten nicht nur deutsche, sondern auch jüdische Siedler aus den ehemals polnischen Gebieten. Das zum Russischen Reich gehörende Königreich Polen gehörte nominell nicht zum Ansiedlungsrayon, aber auch dort war es Jüdinnen und Juden gestattet zu leben. In diesem Gebieten lebte die jüdische Bevölkerung auf engem Raum zusammen mit den anderen Bewohnern der „Imperial borderlands“, in den Gebieten entlang der Ostseeküste (das heutige Estland und Lettland), Litauens, Polens, der Ukraine und Belarus, sowie Bessarabien (das heutige Moldau). In diesen Gebieten wuchs die Bevölkerung generell, auch die jüdische: 1820 lebten dort 1,6 Mio. Juden, im Jahr 1910 waren es bereits 5,6 Mio. 
Außerhalb des Ansiedlungsrayons, dessen Siedlungsbeschränkungen bis 1915 bestanden, genossen Juden im Russischen Reich, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht das Recht zu wohnen. Diese Ausnahmen waren die von der Obrigkeit als „nützlich“ wahrgenommenen Juden, Akademiker, wohlhabende Kaufleute, besonders gesuchte Handwerker und jene, die den langjährigen Militärdienst abgeleistet hatten. Aus dieser Gruppe rekrutierte sich eine kleine einflussreiche jüdische Oberschicht, deren Mitglieder oftmals versuchten, sich im traditionellen Sinne als Fürsprecher (shtadtlonim) für die Belange der gesamten jüdischen Bevölkerung im Russischen Reich einzusetzen.7 Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und aufgrund eines spezifisches Passsystems darüber hinaus genoss die übergroße Mehrheit der Untertanen des Russischen Reiches keine Freizügigkeit. Damit stellte die jüdische Bevölkerung also keine Ausnahme da. Allerdings änderte sich diese Situation für viele Menschen im Russischen Reich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nur für die jüdische Bevölkerung blieb die Beschränkung auf den Ansiedlungsrayon erhalten, sie verschärfte sich sogar vor allem ab 1881. Deshalb wurde der Ansiedlungsrayon im Laufe der Zeit immer mehr als Metapher für die allumfassende Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung im Russischen Reich wahrgenommen und als solcher bekämpft. Zahlreiche der einflussreichen jüdischen Intellektuellen und Politiker, wie etwa der berühmte Historiker und jüdische Nationalideologe Simon Dubnow (1840–1941), mussten unter demütigenden Umständen illegal in den Metropolen des Russischen Reiches leben.8  Das Schicksal einer möglichen Vertreibung schwebte stets über den Köpfen der Menschen, die den Ansiedlungsrayon verlassen hatten. So kam es etwa 1891 zu einer Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Moskau.
Die Pogrome von 1881 und die Folgen
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Das Jahr 1881 war für das gesamte Russische Reich ein Wendepunkt. In diesem Jahr wurde der Reformer und „Befreierzar“ Alexander II. Alexander II. Alexander II. (1818–1881) war von 1855 bis zu seinem Tod Kaiser des Russländischen Reiches. In seine Regierungszeit fallen u. a. das Ende des Krimkrieges (1853–1856) und die sogenannten „Großen Reformen“ der 1860er und 1870er Jahre, zu denen auch die Abschaffung der Leibeigenschaft gehört. Er wurde 1881 bei einem Attentat in Sankt Petersburg ermordet. von Terroristen ermordet. Sein Sohn und Nachfolger Alexander III. Alexander III. Alexander III. (1845–1894) war von 1881 bis 1894 Kaiser des Russländischen Reiches. Er ist bekannt für sein autokratisches Herrschaftsverständnis, das sich u. a. in seinem harten innenpolitischen Vorgehen gegen politische Gegner oder einer Politik der Russifizierung in den westlichen Teilen des Reiches äußerte. wandte sich von dem reformorientierten Kurs seines Vaters ab und verfestigte die autokratischen Strukturen des Reiches. Zudem betrieb er eine Russifizierungspolitik, welche die Loyalität der Nicht-Russen zum Imperium (fast die Hälfte der Untertanen des russischen Vielvölkerreiches waren keine ethnischen Russen) erschwerte. Seit dieser Zeit wurden zunehmend ganze ethnische Gruppen zu Feinden erklärt. Polen etwa galten pauschal als Gegner des Imperiums und auch Armenier, die bis zu den 1880er Jahren eine im positiven Sinne imperiale Bevölkerung darstellten, wurden nun zunehmend kollektiv als illoyal wahrgenommen. Besonders schwierig war die Situation für die jüdische Bevölkerung. In den Ostertagen des Jahres 1881 brachen ausgehend von Elisavetgrad in den südlichen Gebieten des Ansiedlungsrayons antijüdische Pogrome aus. Bis 1884 flammten immer wieder lokale Gewaltorgien auf, in deren Rahmen die jüdische Bevölkerung gequält und ihre Häuser geplündert wurden. Der Obrigkeit gelang es nur schleppend, der von der ländlichen Bevölkerung und den städtischen Unterschichten ausgeübten Gewalt gegenüber den Jüdinnen und Juden Einhalt zu gebieten.9
Die Schuld an dieser antijüdischen Gewalt wurde von den Eliten des Reiches den Jüdinnen und Juden selbst zugeschrieben, weil diese angeblich die nicht-jüdische Bevölkerung wirtschaftlich ausbeuteten. Diese Täter-Opfer-Umkehr gipfelte im Jahr 1882 in den sogenannten „Maigesetzen“, mit denen Alexander III. die Freizügigkeit der jüdischen Bevölkerung, aber auch ihre Wirtschafts- und Handelstätigkeit eingeschränkte.
1881 als Zäsur in der jüdischen Geschichte
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Die Ereignisse von 1881 sind innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung als Zäsur, ja als Paradigmenwechsel wahrgenommen worden. Vor allem Jonathan Frankel verstand die Entwicklung von moderner jüdischer Zugehörigkeit als Reaktion auf antijüdische Gewalt und damit verbundene Krisen. Diese dialektische Erzählung von Krise und Neubeginn geht davon aus, dass bis zum Jahr 1881 jene Jüdinnen und Juden im Russischen Reich, die sich von der jüdischen religiösen Tradition gelöst hatten, um nach neuen Zugehörigkeitsangeboten zu suchen, nach Anschluss an die russische Kultur und Gesellschaft strebten. Erst die Erfahrung der antijüdischen Gewalt einerseits und der rechtlichen Schutzlosigkeit, ja sogar Diskriminierung als Reaktion auf die Pogrome andererseits, habe die Notwendigkeit deutlich gemacht, nach neuen und eigenen Wegen aus der Krise zu suchen. Einer dieser Wege sei die Flucht, die Auswanderung über Westeuropa in die USA oder nach Südamerika oder nach Palästina gewesen. So kam es nicht nur zur Entstehung einer großen jüdischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten, sondern auch zur ersten Alija (1882-1903) und damit zum Beginn der zahlenmäßig bedeutenden Einwanderung ashkenasischer Jüdinnen und Juden nach Erez Israel.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis war die jüdische politische Suche nach Gemeinschaft. Parallel zur Auswanderung entstanden erste Zirkel der Chibbat Zion (Zionsliebe)-Bewegung im Russischen Reich, die als Frühform der zionistischen Bewegung gelten können. Es entstanden auch nicht zionistische jüdische politische Gemeinschaftsprojekte. Besonders wichtig war der jüdische Sozialismus oder der Diasporanationalismus.
Am Vorabend des „Jüdischen Jahrhunderts“
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Durch diese Entwicklungen wurde der Grundstein gelegt für die Optionen, welche die Jüdinnen und Juden des östlichen Europas im 20. Jahrhundert, das Yuri Slezkine das „jüdische Jahrhundert“10 nennt, hatten. Die erste Möglichkeit, die zahlreiche Bewohnerinnen und Bewohner des Ansiedlungsrayon ergriffen, war die Emigration nach Amerika. Dieser Weg steht bei Slezkine für Liberalismus und Kapitalismus. Die zweite Möglichkeit war der Weg nach Palästina, bei Slezkine stellvertretend für Zionismus und Nationalismus. Die dritte Möglichkeit war der Kommunismus, der meist verbunden war mit der Migration in die Metropolen der Sowjetunion nach 1917. Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden aber blieb in den Gebieten des Ansiedlungsrayons, auch nachdem die Siedlungsbeschränkungen 1915 aufgehoben worden waren. Dort überlebten sie Pogrome, kriegerische Gewalt und die Sowjetisierung ihrer Lebenswelt. Die meisten von ihnen wurden während der Shoa von den Deutschen und ihren Helfern ermordet, als der Ansiedlungsrayon des 19. Jahrhunderts zu den „Bloodlands“ des 20. Jahrhunderts wurde.11

Siehe auch