Gesellschaftlicher Wandel trug sich zum Teil mit verblüffender Schnelligkeit zu, die zudem durch technologische Entwicklungen befördert wurde. Im 19. Jahrhundert wurde die „Beschleunigung“ zur Alltagserfahrung.3
Die jüdische Geschichte in diesem so aufregenden Jahrhundert bündelt diese Erfahrungen und schärft den Blick für die Tiefe des Wandels, denn die jüdische Gemeinschaft verstand sich selbst lange vor allem als religiöse Gruppe, ohne dass diese Frage überhaupt gestellt worden wäre. Als die religiöse Zugehörigkeit im Zuge der Säkularisierung fragiler wurde, traten oftmals kulturelle oder sprachliche Zusammengehörigkeitskonzepte und damit verbunden nationale Gemeinschaftsgefühle und Imaginationen an ihre Stelle. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaften geschah das auch, aber diese Zugehörigkeiten traten, auch aufgrund der Diaspora-Situation, nie „automatisch“ oder „alternativlos“ an die Stelle der Religion, sondern waren stets umstritten, sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinschaften, als auch im Dialog mit den anderen Gemeinschaften, in denen sich Widerstand gegen die jüdische Suche nach Zugehörigkeit regte. Parallel zum traditionell religiös motivierten Hass auf Jüdinnen und Juden, der häufig als Antijudaismus
Galizien ist eine historische Landschaft, die sich heute nahezu vollständig auf dem Gebiet Polens und der Ukraine befindet. Der heute südostpolnische Teil wird dabei üblicherweise als Westgalizien, der westukrainische als Ostgalizien bezeichnet. Vor 1772 gehörte Galizien über Jahrhunderte zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, im Anschluss und bis 1918 - als Teil des Kronlandes "Königreich Galizien und Lodomerien" - zum Habsburgerreich.
Neben diesen Zwangsmaßnahmen waren ökonomische Gründe und die für das 19. Jahrhundert typische Urbanisierung für die Migration in die ungarischen Reichsteile, in die Großstädte, vor allem nach Wien, nach Westeuropa und in die USA ausschlaggebend. Im Jahr 1867 wurden die Juden in Österreich emanzipiert.
Das Königreich Preußen bestand von 1701 bis 1918 und wurde von der Dynastie der Hohenzollern regiert. Das Land war von der Gründung bis 1848 eine absolute Monarchie und von 1848 bis zur Auflösung eine konstitutionelle Monarchie. Hauptstadt des Königreiches Preußen war Berlin. Das Land wurde von ungefähr 40 Millionen Menschen bewohnt. Nach der Novemberrevolution 1918 und der Abdankung Wilhelms II. löste sich das Königreich auf und bildete den Freistaat Preußen.
Die jüdische Migration trug stark zum rasanten Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert bei, in Berlin stieg die Zahl der dort lebenden Jüdinnen und Juden von 6.400 zu Beginn auf 150.000 am Ende des Jahrhunderts an.
Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.
Außerhalb des Ansiedlungsrayons, dessen Siedlungsbeschränkungen bis 1915 bestanden, genossen Juden im Russischen Reich, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht das Recht zu wohnen. Diese Ausnahmen waren die von der Obrigkeit als „nützlich“ wahrgenommenen Juden, Akademiker, wohlhabende Kaufleute, besonders gesuchte Handwerker und jene, die den langjährigen Militärdienst abgeleistet hatten. Aus dieser Gruppe rekrutierte sich eine kleine einflussreiche jüdische Oberschicht, deren Mitglieder oftmals versuchten, sich im traditionellen Sinne als Fürsprecher (shtadtlonim) für die Belange der gesamten jüdischen Bevölkerung im Russischen Reich einzusetzen.7 Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und aufgrund eines spezifisches Passsystems darüber hinaus genoss die übergroße Mehrheit der Untertanen des Russischen Reiches keine Freizügigkeit. Damit stellte die jüdische Bevölkerung also keine Ausnahme da. Allerdings änderte sich diese Situation für viele Menschen im Russischen Reich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nur für die jüdische Bevölkerung blieb die Beschränkung auf den Ansiedlungsrayon erhalten, sie verschärfte sich sogar vor allem ab 1881. Deshalb wurde der Ansiedlungsrayon im Laufe der Zeit immer mehr als Metapher für die allumfassende Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung im Russischen Reich wahrgenommen und als solcher bekämpft. Zahlreiche der einflussreichen jüdischen Intellektuellen und Politiker, wie etwa der berühmte Historiker und jüdische Nationalideologe Simon Dubnow (1840–1941), mussten unter demütigenden Umständen illegal in den Metropolen des Russischen Reiches leben.8 Das Schicksal einer möglichen Vertreibung schwebte stets über den Köpfen der Menschen, die den Ansiedlungsrayon verlassen hatten. So kam es etwa 1891 zu einer Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Moskau.
Die Schuld an dieser antijüdischen Gewalt wurde von den Eliten des Reiches den Jüdinnen und Juden selbst zugeschrieben, weil diese angeblich die nicht-jüdische Bevölkerung wirtschaftlich ausbeuteten. Diese Täter-Opfer-Umkehr gipfelte im Jahr 1882 in den sogenannten „Maigesetzen“, mit denen Alexander III. die Freizügigkeit der jüdischen Bevölkerung, aber auch ihre Wirtschafts- und Handelstätigkeit eingeschränkte.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis war die jüdische politische Suche nach Gemeinschaft. Parallel zur Auswanderung entstanden erste Zirkel der Chibbat Zion (Zionsliebe)-Bewegung im Russischen Reich, die als Frühform der zionistischen Bewegung gelten können. Es entstanden auch nicht zionistische jüdische politische Gemeinschaftsprojekte. Besonders wichtig war der jüdische Sozialismus oder der Diasporanationalismus.