Eine internationale Konferenz des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) und der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi/Czernowitz, Ukraine.
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Die Konferenz und ihre wissenschaftliche Zielsetzung haben eine – zum Zeitpunkt der Konzeption kaum geahnte – Aktualität erhalten. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine in den letzten Monaten und den damit zusammenhängenden Prozessen, deren Verlauf oder gar Ende heute noch nicht absehbar sind, erscheint die Notwendigkeit des Austauschs über die Kriegs- und Konfliktgeschichte und ihre Folgen im mittel- und osteuropäischen Grenzraum dringlicher denn je. Die akademische Sicht auf den Ersten Weltkrieg führt – gerade bei einer Tagung in der Ukraine – zwangsläufig zur Frage, welche Zusammenhänge zwischen den damaligen, den Krieg auslösenden Impulsen und den gegenwärtigen militärischen und propagandistischen Auseinandersetzungen bestehen. Die Veranstalter möchten mit dieser Veranstaltung ein Zeichen setzen, dass Kooperationen und Dialogbereitschaft in den Geisteswissenschaften immer auch einen Mehrwert haben und zur Verständigung beitragen. Die internationale Diskussion über nationale Geschichtsschreibungen ist Grundvoraussetzung für das Verstehen der Anderen. Kultur- und Geschichtswissenschaften prägen das kulturelle Gedächtnis einer Nation – durch Erinnerungskulturen und in der Folge durch an Schulen und Universitäten eingesetzte Curricula, die eine frühe, jeweils intendierte Prägung der Bevölkerung bewirken. Dieser Einfluss auf die Identitätsbildung ist bedeutsam, kann aber auch – sollte er dauerhaft unreflektiert und kaum kontextualisiert erfolgen – zur Verfestigung von Stereotypen beitragen. Die Tagung wird daher auch konfrontative Geschichtsschreibungen bewusst zur Diskussion stellen. Tagungsziele Die Tagung setzt sich zum Ziel, die als Folge des Ersten Weltkrieges entstandenen Dilemmata zwischen nationaler, staatlicher und kultureller Orientierung in den Bevölkerungsgruppen der Regionen Bukowina, Galizien und Bessarabien zu untersuchen. Ein interdisziplinäres Instrumentarium (Kulturwissenschaft, Geschichtsforschung, Literaturwissenschaft, Philologie, Geographie, Politikwissenschaft) soll dabei der komplexen Situation im von Multiethnizität sowie konfessioneller und sprachlicher Vielfalt geprägten Karpatenraum Rechnung tragen. Der Fokus auf die Bevölkerung dieser drei historisch eng verbundenen Regionen ermöglicht eine vertiefende Darstellung der Auswirkungen des Krieges und ihrer Repräsentationen in Publizistik und Historiographie. Im Rahmen des Tagungsprogramms sind sowohl russische als auch die österreichisch-ungarische Perspektiven auf die Situation und Entwicklung der deutschen, jüdischen, polnischen, rumänischen, ukrainischen, moldauischen und gagausischen Bevölkerung im Ersten Weltkrieg repräsentiert. Es werden möglichst viele Perspektiven auf die behandelten Regionen und ihren Bevölkerungsgruppen vergleichend nebeneinandergestellt und unter verflechtungsgeschichtlichen Aspekten betrachtet. Die Tagung nimmt sich insbesondere auch zum Ziel, im Untersuchungsraum verortete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stärker mit akademischen Einrichtungen und Akteuren aus Ländern der Europäischen Union zu vernetzen und auf diese Weise verschiedene Diskurstraditionen zusammenzubringen und im wissenschaftlichen Dialog zu aktualisieren. Konzeptionelle Überlegungen Die Forschung zum Ersten Weltkrieg hat durch den 100. Jahrestag des Kriegsbeginns enormen Auftrieb erhalten: Neben einer Erweiterung des um gesamteuropäische und globale, verflechtungsgeschichtlich oder erinnerungskulturell geprägter Zugriffe zeichnet sich vor allem in den einschlägigen Synthesen ab, dass die Situation an der „Ostfront“ bzw. im ostmittel- und südosteuropäischen „Hinterland“ deutlich unterrepräsentiert ist (z. B. Münkler 2013; Piper 2013; März 2014). Im Fokus von Veranstaltungen und Publikationen, die den Krieg im Osten behandelten, standen vor allem Nordosteuropa oder der Balkan. Der vom Krieg und den Kriegsfolgen massiv betroffene „Zwischenraum“ der historischen Regionen Bukowina, Galizien und Bessarabien – gleichsam die südliche Flanke der „Bloodlands“ (Snyder 2010) – wird zumeist nur am Rande thematisiert (z. B. Dornik/Walleczek-Fritz/Wedrac 2014; Osteuropa 2-4/2014; Eisfeld/Maier 2014). Mit der Tagung „Zerrissene Loyalitäten“ soll dazu beigetragen werden, diese Forschungslücke zu füllen. Die Lage zwischen den Großreichen – Österreich-Ungarn, Russland bzw. Sowjetunion, Deutschem und Osmanischem Reich – ließ diesen Raum, im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung, zu einem Epizentrum des Krieges und seiner langfristigen Auswirkungen werden: Die behandelten Regionen zeitigten im und nach dem Ersten Weltkrieg eine radikale politisch-administrative Umstrukturierung und, damit zusammenhängend, eine kulturelle Neuorientierung. Die mangelnde Berücksichtigung der komplexen Bevölkerungssituation im Zuge der Neuordnung Ostmittel- und Südosteuropas während und nach dem Ersten Weltkrieg führte zu jener unglücklichen Lage in den neuerrichteten staatlichen Entitäten, die auf lange Sicht in einer Reihe von frozen conflicts und weiteren Kriegen mündete. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den in seinem Verlauf getätigten Kriegserklärungen bzw. Friedensschlüssen fanden sich viele Bevölkerungsgruppen in der Bukowina, Galizien und Bessarabien auf der „falschen“ Seite der Front wieder oder sahen sich gezwungen, zwischen „Vaterstaat“ und „Mutternation“ zu wählen. Rumänen, Ukrainer, Deutsche, Juden und Polen standen ihren „Konationalen“ oft auf der jeweils anderen Seite der Front gegenüber. Nationale Affinitäten mussten sich staatlichen Loyalitäten unterordnen, die ihnen die historische Prägung bzw. der Krieg abverlangten. Nicht immer war die Zuordnung zu einer Gruppe eindeutig – die Kriegssituation löste eine politische Dynamik aus, die Individuen zwang, sich für eine einzige Zugehörigkeit zu entscheiden. In einer noch problematischeren Lage fanden sich die Juden der Region, denen die Loyalität zu den Staaten, für die sie kämpften, oft abgesprochen wurde. Das Gefühl, nicht Teil der kriegsbedingt solidarischen Gesellschaft sein zu dürfen, kann als ein bedeutender Katalysator der zionistischen Idee gedeutet werden. Für die politischen Akteure und kulturellen Repräsentanten der verschiedenen Gruppen war ein Zerfall der den Raum dominierenden Imperien jenseits des Vorstell- und Sagbaren, sodass die tatsächlichen Kriegsfolgen – die Zerteilung Österreich-Ungarn, die rasch gescheiterten Staatsbildungsversuche in Bessarabien und in von Ukrainern bewohnten Gebieten (Ukrainische Volksrepublik, Westukrainische Volksrepublik) sowie die Erweiterung Rumäniens (Bukowina, Bessarabien) bzw. die Gründung der Zweiten Polnischen Republik (Galizien) – vor 1917/1918 kaum eine realistische politische Option in den öffentlichen Diskursen darstellten. Die Gelegenheiten zur Etablierung bzw. Erweiterung von Nationalstaaten wurden dementsprechend spontan und unvorbereitet ergriffen. Zusätzlich zu diesen divergierenden, parallel existierenden, teils konkurrierenden, teils kompatiblen Orientierungsmustern zwischen Nation und Staat spielten zudem Fragen der konfessionellen und regionalen Zugehörigkeit eine bedeutende Rolle. Der Krieg, das damit verbundene Leiden und Sterben, aber auch die bereits angesprochenen Loyalitätsdiskurse und -konflikte wirkten sich auch auf Denkweisen und Verhaltensmuster der Bevölkerung sowie den vom Krieg dominierten Alltag aus. Der Raum, den die historischen Regionen Bukowina, Galizien und Bessarabien bilden, stellt ein hervorragendes Fallbeispiel für eine eingehende Analyse dieser komplexen, in den Jahren 1914–1918 sich in beschleunigtem Wandel befindlichen Situation dar; die Konferenz „Zerrissene Loyalitäten“ macht sich diese Analyse zur Aufgabe. Der Tagungsort Czernowitz/Tscherniwzi, Ukraine, ist für die Zielsetzung der Konferenz besonders gut geeignet. In diesem historischen und kulturellen Zentrum der Bukowina finden sich bis heute die Spuren ihres multiethnischem, multikonfessionellem und multikulturellen Charakters, sodass die mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen auf Mehrheits- und Minderheitengruppen in diesem Raum besonders gut nachvollzogen werden können. Darüber hinaus war die Bukowina, die an das Russische Reich grenzte, als Kriegsschauplatz ein Kristallisationspunkt der Ostfront im Ersten Weltkrieg – die Landeshauptstadt Czernowitz wurde zwischen 1914 und 1917 dreimal von russischen Einheiten besetzt bzw. von Truppen der Mittelmächte zurückerobert. Dass ausgerechnet hier und unter den heute gegebenen Umständen ukrainische, moldauische, russische, polnische, rumänische, kroatische, österreichische und deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammenkommen, um sich über die – im historischen Bewusstsein gar nicht so ferne – Vergangenheit auszutauschen und konstruktiv zu diskutieren, fördert die Realisierung der eingangs genannten Tagungsziele. Tagungsinhalte Der Erste Weltkrieg war eine Zeitenwende und eine politische, soziale und kulturelle Zäsur, die insbesondere in den ehemaligen östlichen Kronländern der Habsburgermonarchie durch die 1918 erfolgte Neuordnung zu einschneidenden Veränderungen geführt hat. Zu diesem Thema konnten die Veranstalter sowohl ausgewiesene internationale Expertinnen und Experten als auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gewinnen, die sich gerade diesem Forschungsfeld zuwenden. Die Vielschichtigkeit der diversen Geschichtsbilder zum Ersten Weltkrieg ist auch Schwerpunkt der Einstiegspanels. Darin werden in sechs Beiträgen die nationalen Perspektiven in der Region auf den Krieg kritisch zu Diskussion gestellt, auch die psychologische Stimmung in Österreich-Ungarn und Russland zu damaligen Zeit beleuchtet sowie die Erfahrungen von Deutschen, Juden, Russen, Ukrainern, Rumänen und Moldauern zur Sprache gebracht. Ein weiterer Themenkomplex umfasst Kriegserfahrungen und -erinnerungen in fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur. Zeitzeugenberichte und Kriegstagebücher von Soldaten, Deportierten oder Autoren sowie Kriegsdarstellungen und Militärparadigmen in Prosawerken deutschsprachiger, jiddischer, polnischer, rumänischer und ukrainischer Autoren aus der Bukowina und Galizien zeigen eines auf: dass die Region auch ein Diskursraum war und ist, der Narrative generierte, die bis heute durch ihre Rezeption – auch im europäischen Kontext – nachwirken. Weitere Beiträge befassen sich punktuell mit juristischen, religiösen und ethnischen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Kriegsverlauf. Das Rahmenprogramm ist integrativer Bestandteil der Tagung. Auch darin steht der Erste Weltkrieg im Fokus. Es werden Stadt- und Regionalgeschichte vermittelt als auch in Gesprächen mit Vertretern der heute noch bestehenden deutschen, jüdischen, ukrainischen, rumänischen und polnischen Volkshäuser die Perzeption und Rezeption des Ersten Weltkriegs aus Sicht der nationalen Gruppen diskutiert. Eine im Anschluss an die Vorträge geplante Exkursion führt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Kriegsschauplätzen in der Region und bringt sie mit unterschiedlichen Repräsentationen von Erinnerungskultur in Berührung. Kooperation und Nachhaltigkeit In Kooperation mit der Jurij-Fedkowytsch-Universität Tscherniwzi konnte das IKGS in den zurückliegenden Jahren bereits diverse Tagungen und Projekte in der Bukowina realisieren. Vor dem Hintergrund dieser erfolgreichen Zusammenarbeit sowie eines seit Mai 2014 bestehenden Kooperationsvertrags zwischen den beiden Veranstaltern wird die Tagung im Mai 2015 bereits bestehende Strukturen des akademischen Austauschs festigen und neue Perspektiven eröffnen.