Die 21jährige Janina Jagodzińska schildert den beschwerlichen Anfang 1945 in Polens neuen Westgebieten.
Text


Die russischen Soldaten sagten, wir können eine Landwirtschaft übernehmen und dort als Landwirte arbeiten. Zu dieser Zeit kamen viele Polen von der anderen Seite des Bugs, und mein Verlobter übernahm auch eine Landwirtschaft.1 

Biografisches Kurzportrait
Text
Janina Jagodzińska wurde 1924 in Kiïvo nahe 
Charkiv
rus. Charʹkov, rus. Харьков, rus. Charkow, ukr. Харків, rus. Kharkov, ukr. Kharkiv, ukr. Charkiw, rus. Harʹkov, ukr. Harkìv

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und hatte 2019 etwa 1,5 Millionen Einwohner:innen. Die Stadt wurde 1630 oder 1653 im „Wilden Feld“ gegründet, wie die Steppenlandschaft in der heutigen Süd- und Ostukraine damals genannt wurde. Mit der Verschiebung der russischen Grenze nach Süden verlor es seine Bedeutung als Festung, wurde daraufhin aber zum Handels- und Handwerkszentrum. 1918 bis 1934 war Charkiw die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. Seit Februar 2022 erlitt Charkiw starken Beschuss im russisch-ukrainischen Krieg.

(heute Ukraine) geboren. Im Jahr 1942 wurde die junge Landarbeiterin von den Deutschen nach
Grabków
deu. Grabkow

Grabków gehört heute zur Landgemeinde Gmina Lubsko im polnischen Teil der Niederlausitz.

(heute Grabków) im Kreis Krossen in Schlesien verschleppt, um dort Zwangsarbeit zu verrichten. Nachdem die Sowjetische Armee den Kreis Krossen erobert und die Zwangsarbeiter:innen befreit hatte, machte sie sich noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit einigen Leidensgenoss:innen, darunter ihrem Verlobten Józef, zu Fuß Richtung Osten auf den Weg, und zwar über
Krzystkowice (Nowogród Bobrzański)
deu. Christianstadt, deu. Christianstadt/Bober

Krzystkowice ist heute ein Stadtteil der Stadt Nowogród Bobrzański im Westen Polens.

(Krzystkowice),
Nowogród Bobrzański
deu. Naumburg am Bober, deu. Naumburg (Bober)

Nowogród Bobrzański ist eine Kleinstadt im Westen Polens und hat heute etwa 9400 Einwohner:innen.

(Nowogród Bobrzański),
Zielona Góra
deu. Grünberg in Schlesien, ces. Zelená Hora, eng. Zielona Góra

Zielona Góra (dt. Grünberg in Schlesien) liegt in der Woiwodschaft Lubuskie (dt. Lebus) in Westpolen. Die Stadt wird von knapp 140.000 Menschen bewohnt und ist eine der zwei Hauptstädte der Woiwodschaft. Zielona Góra ist ca. 140 km nordwestlich von Wrocław (dt. Breslau) gelegen und gehört zum nördlichen Teil Niederschlesiens.

Historische Orte
Grünberg
 
(Zielona Góra),
Nowa Sól
deu. Neusalz (Oder)

Nowa Sól ist eine Stadt im Westen Polens und hat heute etwa 38.200 Einwohner:innen.

(Nowa Sól),
Bytom Odrzański
deu. Beuthen (Oder), deu. Beuthen an der Oder, deu. Niederbeuthen

Bytom Odrzański ist eine Kleinstadt im Westen Polens mit heute etwa 4200 Einwohner:innen.

(Bytom Odrzański) und
Skidniów
deu. Skeyden

Das Dorf Skidniów gehört heute zur Landgemeinde Gmina Kotla im Westen Polens.

(Skidniów) nach
Kotla
deu. Kuttlau

Kotla ist ein Dorf im Westen Polens, das Sitz der gleichnamigen Landgemeinde ist und ca. 1500 Einwohner:innen hat.

(Kotla) bei
Głogów
deu. Glogau, deu. Groß-Glogau

Glogau (polnisch Głogów) ist eine Stadt in Westpolen. Sie liegt in der Woiwodschaft Niederschlesien (polnisch dolnośląskie) und wird von knapp 67.000 Menschen bewohnt. Glogau liegt ca. 100 km nördlich der Hauptstadt Niederschlesien, Wrocław/Breslau.

(Głogów), wo sie sich als Bäuerin niederließ.
Historischer Hintergrund
Text
Im Lebensweg von Janina Jagodzińska verdichten sich zwei Abschnitte der Zwangsmigration in der Mitte des 20. Jahrhunderts: Wie Tausende andere Menschen in Ostmitteleuropa wurde sie während des Krieges von den Deutschen zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt. Als der Krieg zu Ende ging und ihre Heimat durch neue Grenzziehungen in der Sowjetunion lag, suchte sie einen neuen Wohnort in Schlesien, das von Deutschland an Polen abgetreten wurde. Hier kreuzten sich die Wege der befreiten Zwangsarbeiter:innen, die nach Osten strebten, mit denen der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, die gen Westen zogen.
Janina Jagodzińska reichte 1957 ihren Erfahrungsbericht im Rahmen eines Wettbewerbs des Westinstituts (Instytut Zachodni) in Posen (Poznań) ein. Dort wird das Original im Archiv aufbewahrt (Signatur IZ 103/1957). Teile des Manuskripts wurden 2014 zuerst in deutscher Übersetzung im Buch von Beata Halicka Mein Haus an der Oder veröffentlicht. Das Buch ist inzwischen auch in polnischer Sprache erschienen.2
Angst vor den Befreiern
Text
Ende Februar 1945 hatte die Sowjetische Armee Teile Niederschlesiens erobert und befreite dort die Zwangsarbeiter:innen aus der Gewalt der Deutschen. Zwar war dadurch die Macht der Nationalsozialisten gebrochen, doch auch die Herrschaft der sowjetischen Armee war von Willkür geprägt, die vor allem Frauen zu fürchten hatten. Die Stimmung in den ersten Tagen nach der Befreiung, als sich die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen in kleinen Gruppen organisierten, um die Abreise aus dem Ort der Verschleppung gemeinsam anzutreten, beschreibt sie so:
Text
„Wir hatten Angst in unserem Versteck. Die Nacht war schrecklich dunkel, also ging Aleks auf den Weg hinaus, um die Lage zu prüfen. Diese [sowjetischen, Anm.d.Red.] Soldaten fingen ihn und verlangten, dass er mit ihnen gehe, uns zu suchen. Er sagte, er wüsste nicht wo und sie hielten ihm eine Pistole an die Stirn und fingen an zu schreien: Wenn sie uns nicht fänden, würden sie das ganze Dorf abbrennen. Aleks führte sie zu anderen Häusern und schließlich kam er in eine Hütte, wo deutsche Frauen waren, da befahlen sie ihm zu gehen und fielen über ihre Opfer her. Aleks wartete nicht lange, kam zu uns gerannt und wir sammelten uns zur Flucht. Ich erinnere mich, dass es schon 3 Uhr morgens war. Wir hatten Angst, unsre Sachen selbst zu holen, also legten sie [die sowjetischen Soldaten] sie auf den Wagen und sagten uns, dass sie schon alles gebracht haben, was da war, und [wir] zogen uns an und machten uns auf den Weg. Wir fuhren den ganzen Tag. Unterwegs wollte uns einer das Pferd wegnehmen, also bandagierten wir eines seiner Beine, ganz so, als sei es krank.3
Kontrollen und Beschlagnahmungen
Text
Viele Bevölkerungsbewegungen in den Monaten des Kriegsendes verliefen chaotisch. Zunächst mitgenommenes Hab und Gut blieb oftmals auf halbem Weg zurück. Die sowjetischen Soldaten erzwangen die Herausgabe von Dingen, die für ihren eigenen Bedarf von Nutzen waren:
„So kamen wir alle nach Chryscian Stadt [Christianstadt (Krzystkowice)]. Dort haben uns gleich die russischen Soldaten angehalten und befahlen uns, das Feuer zu löschen, und die Sachen und den Wagen zur Kontrolle stehen zu lassen. […] Sie sollten also nach Waffen suchen, aber nahmen uns alle neuen Sachen ab. […] Und als man auf den Straßen unterwegs war, lagen auf der einen und auf der anderen Seiten der Straße verstreut verschiedene Dinge, auch Fahrräder, Feder- und Wolldecken, also sagte mein Verlobter, dass wir jetzt die alten Dinge sammeln würden und warf die besseren Stücke mit einem Stock auf den Wagen. Und die Jungs richteten Fahrräder her, sodass keiner zu Fuß gehen musste.4
Versperrte Brücke bei Beuthen an der Oder
Text
Im Februar 1945 erreichte Janina Jagodzińska die Kleinstadt Beuthen an der Oder. Die Überquerung der Oder stellte hier eine große Herausforderung dar:
Text
„Als wir nach Beuthen kamen, wollten uns die russischen Soldaten nicht über die Brücke lassen und wir mussten mit einem Boot über den Fluss setzen. Wir hatten also zwei Pferde für zwei Liter Spiritus verkauft und uns selbst und unsere Sachen brachten wir auf eine andere Uferseite. Die Jungs betranken sich und es fehlte wenig und sie hätten uns in der Oder ertränkt. […] Die Familie Strauchmann hatte ziemlich viel Gepäck und man musste ihnen helfen, also packten wir alles auf einen kleinen Wagen, und da die Wege durchweicht waren, war das Vorankommen sehr beschwerlich. Unser Wagen war nicht einer von diesen klitzekleinen, aber auch nicht einer von den großen, weil er aber mit den verschiedensten Dingen voll beladen war und durch diesen Schlamm – es war Februar – gezogen werden musste, schien er schrecklich schwer und wir mussten ihn selbst ziehen, da die Pferde vertrunken worden waren und man auf dieser Uferseite keine Pferde finden konnte.5
Minen
Text
Auch Minen stellten im März 1945 eine Gefahr dar:
„Das gesamte Gut war von kleinen Kästchen umgeben, die angeordnet waren wie ein Schachbrettmuster. Ich und Stefka wollten uns diese Kästchen holen, aber Milan und Aleks sahen, dass wir hingehen, erschraken sehr und fangen an zu rufen, dass es Minen seien. Und sie hatten recht, rundherum lagen viele zerrissene Schweine, Pferde und Kühe.6
Ankunft in Kotla
Text
Nach einem längeren Fußmarsch konnten wieder Pferde organisiert werden. Bald entschied auch der Zufall über die Wahl des Niederlassungsorts:
Text


Die Jungs machten uns aus Wolldecken Zaumzeug und aus einer starken Schnur Zügel und schon konnten wir weiterfahren. Aber die Deutschen sagten uns, dass in Głogów [Glogau] noch Krieg herrschte und man hörte wirklich Schüsse und Explosionen. Man sagte, dass Głogów sich nicht ergeben wolle, also konnte man nicht durch Głogów reisen. Wir fuhren nach Kotla und dort umringten uns sofort Russen und sagten, dass es viel zu tun gibt, und jeder arbeiten solle, und dass jeder seine Papiere abgeben solle.7 

Text
Sowohl die Wohn- als auch die Arbeitsbedingungen waren sehr schwer:
„Dort in den Gesindehäusern war die Unordnung groß, und das ganze Haus stand auf dem Kopf. Man wusste nicht, ob man erst aufräumen oder erst kochen sollte. Auf der Straße liefen Schweine umher, also fingen die Jungs ein großes und schlachteten es, sodass wir etwas zum Kochen hatten.8
Der Neuanfang
Text
Nach sowjetischem Vorbild wurden in den so genannten wiedergewonnenen Gebieten kleine landwirtschaftliche Betriebe in Genossenschaften (Kolchosen) zusammengefasst. Die Landarbeiter:innen wurden schlecht bezahlt, teilweise nur in ‚Naturalien' wie beispielsweise Alkohol:
Text


Die Russen nahmen die Brennerei wieder in Betrieb und die Jungs arbeiteten dort. Abends kam jeder mit einem Liter Spiritus nach Hause. Das war ihr ganzer Lohn. […]
Zu dieser Zeit kamen viele Polen nach Kotla, so dass die Russen gleich alle zum Pflügen und Setzen von Kartoffeln zusammentrieben. Mein Verlobter hat auch gepflügt, und einmal hat demjenigen, der sie bewacht hat, etwas nicht gefallen und er hat furchtbar geschrien und gedroht, ihn mit einer Pistole zu erschießen. [...]
Also mit viel Mühe und unter viel Geschrei schafften sie es irgendwie, die Kartoffeln in einem großen Feld und in einem weiteren zu setzen, und sie sagten, sie würden uns erst zeigen, wie man in einer Kolchose arbeitet. Jeder hatte irgendwie Angst vor diesen Kolchosen.9 

Selbständigkeit nicht erwünscht
Text
Anfänglich konnten die Neusiedler:innen zwar ehemals deutsche Höfe übernehmen. All jenen, die sich keiner Produktionsgenossenschaft anschlossen, wurde jedoch das Wirtschaften schwer gemacht. Wer nicht zu einer Produktionsgenossenschaft gehörte, für den war es z. B. schwierig, an Werkzeuge heranzukommen. Teilweise konfiszierte die Genossenschaft landwirtschaftliche Geräte:
Text
Die russischen Soldaten sagten, wir können eine Landwirtschaft übernehmen und dort als Landwirte arbeiten. Zu dieser Zeit kamen viele Polen von der anderen Seite des Bugs, und mein Verlobter übernahm auch eine Landwirtschaft. Ein großes Haus mit Garten. […] Also zu unserer Landwirtschaft gehörten 25 ha Land, so wie es die Deutschen hatten, als sie hier noch wohnten. Der Roggen war bereits ausgesät und das Feld musste geräumt werden. Wir hatten weder ein Pferd noch eine Kuh, nur eine Ziege. Die Erntezeit kam, und wir fingen an, den Roggen zu ernten. Es war sehr mühsam, denn wir haben alles mit der Sense geschnitten. [...] Unser Freund Milan war von Beruf aus Schmied und Mechaniker zugleich. Er fuhr irgendwo zu einem anderen Dorf hin, baute einen Traktor zusammen, und wir haben den Roggen vom Feld heruntergebracht. [...] Zum Herbst hin musste man das Feld pflügen und aussäen. In Kotla gibt es einen Gutshof, sodass der Hausverwalter und der Gutsverwalter und viele weitere Personen kamen und da sie viele Traktoren brauchten, holten sie auch unseren. Wir schafften es noch, das Feld zu pflügen, säten aber per Hand aus.10
Text
Bei der Integration der Westgebiete in den neuen polnischen Staat und in die aufzubauende sozialistische Gesellschaftsordnung spielten die Neusiedler:innen wie Janina Jagodzińska eine herausgehobene Rolle. Die staatliche Propaganda stilisierte sie zu „Pionieren“ der polnischen Kultur; für das alltägliche Wirtschaften in Polens Westgebieten waren sie zugleich unersetzbar, da durch die Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen spürbare personelle Lücken in Landwirtschaft und Industrie entstanden. Der Einfluss der Neusiedler:innen auf die Gesellschaft unmittelbar nach Kriegsende ist in der Forschung bereits erkundet worden, so beispielsweise im Beitrag von Włodzimierz Borodziej.11
Text
Bearbeitung:
Quellenauswahl und Analyse: Dariusz Gierczak
Kartenmontage: Laura Gockert
Redaktion: Christian Lotz
Text
Dieser Beitrag stammt aus der Serie: „Zwangsmigration: Menschen und ihre Fluchtwege

Siehe auch