Inwiefern kann Ernährung Zugehörigkeit stiften? Welche Bedeutung kann ihr speziell in Migrationssituationen zukommen? Russlanddeutsche Beispiele zeigen, auf welch vielfältige Weise Fragen der Identität und Ernährung verknüpft sind.
Die kulturelle Dimension von Ernährung
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Essen und Trinken sind lebensnotwendige menschliche Grundbedürfnisse. Wenn wir beides nicht tun, sterben wir binnen weniger Tage. Diesen naturwissenschaftlichen Fakt wird wohl niemand infrage stellen. Damit endet die Bedeutung von Ernährung aber nicht. Über die natürliche Bedürfnisbefriedigung hinaus erfüllen Essen und Trinken auch vielfältige soziale und kulturelle Funktionen für den einzelnen Menschen und für das gesellschaftliche Miteinander. Befragen Sie doch einmal sich selbst: Welche Bedeutung(en) und welchen Stellenwert haben (welches) Essen und Trinken für Sie persönlich?
Bei genauerer Beschäftigung mit dieser Frage und mit dem Ernährungsverhalten verschiedener Menschen wird deutlich, dass unsere alltäglichen Ess- und Trinkpraktiken zahlreichen Einflüssen unterliegen. Was wir trinken und essen, wie Getränke und Speisen zubereitet werden, wo und ob wir sitzend, stehend oder laufend essen und trinken, wann wir trinken und essen, ob wir allein oder in Gesellschaft essen und trinken, und in wessen Gesellschaft – das alles steht in Zusammenhang mit dem jeweiligen Anlass, einer ganz bestimmten, mehr oder weniger bewusst geschaffenen Situation und Form der Mahlzeit sowie der Bedeutung und dem Wert, den man ihr zuschreibt. Eine Mahlzeit ist nämlich auch eine gesellschaftliche Situation, in der Konventionen, Normen und Wertvorstellungen kommuniziert werden. Beim gemeinsamen Essen und Trinken werden Gemeinschaft und Zugehörigkeit gestiftet – insbesondere in der Familie. Vor diesem Hintergrund können gewisse Speisen und Getränke mit einer symbolischen Bedeutung ausgestattet sein. Diese symbolische Aufladung wird besonders deutlich bei Begriffen wie
soul food
soul food
Soul food bezeichnet einerseits ursprünglich die traditionelle afroamerikanische Küche, die geprägt ist durch kostengünstige, oft kalorienreiche Zutaten und Zubereitungsverfahren sowie intensive Gewürze. Bei Fleisch musste häufig auf Schlachtreste oder Kleinwild zurückgegriffen werden, als Sättigungsgrundlage dienten und dienen vielfach Gerichte oder Lebensmittel auf Basis von Mais, Süßkartoffeln, Weizen, Reis, Kohl oder Bohnen. Viele Gerichte werden frittiert, geschmort, gebacken oder gebraten. Soul food ist heute ein anerkannter und eigenständiger Teil der amerikanischen Küchenkultur, wobei einzelne Gerichte wie Chicken Wings, Chicken Drumsticks oder Spareribs international Verbreitung finden.<br>
In freier Anlehnung an die heute positiv besetzte angloamerikanische Bezeichnung hat in jüngerer Zeit auch die Tendenz Verbreitung gefunden, Gerichte und Lebensmittel, denen eine positive Wirkung auf das körperliche und geistige Wohlbefinden zugesprochen wird, als soul food zu bezeichnen. Diese Begriffsverwendung blendet den sozialen und historischen Hintergrund der nordamerikanischen soul food-Küche – und ihre Entstehung im Kontext rassistischer Unterdrückung und Ausbeutung, von Armut, Mangelversorgung und harter körperlicher Arbeit – jedoch vollständig aus und ist daher umstritten.
, oder, wenn von sog. Nationalgerichten gesprochen wird.
So würden wohl die meisten Menschen zustimmen, dass beispielsweise an einem Fest- oder Feiertag eher aufwändig zubereitete, teurere Gerichte und Getränke und eher in (größerer) Gesellschaft verzehrt werden als an einem gewöhnlichen Werktag. Und auch, dass eher im Esszimmer als in der Küche, möglicherweise an einem mit einer feinen Tischdecke und weiterer Dekoration aufgewerteten Tisch, vielleicht sogar von dem sprichwörtlichen ‚guten Porzellan‘ und aus von der Großmutter geerbten Kristallgläsern. Umgekehrt kann ein Stück der Lieblingstorte aus der Lieblingskonditorei die Bedeutung eines gewöhnlichen Wochentags steigern – oder die Zubereitung und der Verzehr von
Rollkoke
Rollkoke
Plattdeutsche Bezeichnung für frittierte Teigteilchen. Hochdt. Rollkuchen.
nach Mutters Rezept, weil sie Kindheitserinnerungen wecken und dadurch ein Gefühl von Geborgenheit und Orientierung vermitteln. Einerseits kann also eine jeweilige soziale Situation bestimmen, welche Nahrung wir wie zubereiten und verzehren. Andererseits kann eine ausgewählte Nahrung eine bestimmte soziale Situation schaffen.
Rollkoke. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Rollkoke. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Einflussgröße Migration
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Einen der zahlreichen Faktoren, die auf alltägliche Ess- und Trinkpraktiken Einfluss nehmen, möchte ich in diesem Beitrag besonders ins Auge fassen und mit Beobachtungen im Rahmen einer Forschungsreise nach Westsibirien im Jahr 2015 veranschaulichen: Migration. Eine Veränderung des Lebensmittelpunktes kann sich in unterschiedlichem Ausmaß auf Praktiken des Essens und Trinkens auswirken. Zum einen können Rezepte und damit verbundenes Wissen überallhin mitgenommen werden; sie sind ein bewegliches Kulturgut. Das bedeutet, dass sich das Ernährungsverhalten nicht zwangsläufig durch eine Migration verändern muss. Zum anderen sind nicht alle Lebensmittel und Gewürze überall verfügbar oder erschwinglich oder schmecken ‚wie zu Hause‘. Dann kann es notwendig werden, das gewohnte Ernährungsverhalten zu verändern. Möglicherweise wird lediglich ein Gewürz oder ein Lebensmittel durch ein anderes ersetzt – das ‚mitgebrachte‘ Gericht oder Getränk insgesamt aber beibehalten.
Eine Migration kann zudem bedingen, dass sich die Bedeutung bestimmter Nahrungsmittel, Gerichte und Getränke für einen Menschen, eine Familie oder eine Gruppe wandelt. Sie kann zum Beispiel zur Folge haben, dass etwas an Bedeutung gewinnt. Das kennt jede:r: Im Urlaub vermisst man:frau schon einmal ‚gutes deutsches‘ Brot. Oder der:die für das Studium nach Hamburg gezogene Regensburger:in weiß plötzlich die Butterbreze ganz anders zu schätzen. Vertraute Speisen und Getränke können emotionale Sicherheit und Selbstvergewisserung stiften und dabei helfen, Fremdheitsgefühle und Heimweh zu verringern. Sie können sogar die Beheimatung am neuen Lebensmittelpunkt fördern. Über die Ernährung kann sowohl die Zugehörigkeit zu einer etwaigen (regionalen, nationalen, ethnischen, religiösen, lebensstilorientierten, …) Gemeinschaft als auch die Abgrenzung von einer solchen ausgedrückt werden – je nachdem, ob Gemeinsamkeiten oder Unterschiede betont werden.
Rückkehr, Religiosität und Wiederbeheimatung
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Während meiner Forschungsreise gewährten mir einige Russlanddeutsche Einblicke in ihr Leben und ihren Alltag – manche mit, manche ohne eigene Migrationserfahrungen. Bei der im Alter von sieben Jahren nach Deutschland ausgesiedelten und als 13-Jährige nach Russland zurückgekehrten1 , inzwischen 21-jährigen Katja können unterschiedliche, sogar widersprüchliche soziale und kulturelle Zugehörigkeiten aus ihrem Ernährungsverhalten herausgelesen werden. Dabei stehen einige ihrer Ess- und Trinkpraktiken offenbar im Zusammenhang mit ihren Migrationserfahrungen – in deren Kontext auch Katjas individuelle Ernährung Bedeutungsveränderungen erfuhr.
Eindrücklich ist beispielsweise, dass Katjas Mutter sich und ihre Tochter erst kurz vor der Aussiedlung nach Deutschland nach russisch-orthodoxem Ritus taufen ließ. In Deutschland hatte dies zunächst keine Auswirkungen auf ihr Alltagsleben. Doch als Katjas Familie wieder nach Russland zurückgekehrt war und insbesondere, nachdem Katja ihre Schwiegermutter kennengelernt hatte, gewannen der russisch-orthodoxe Glaube und damit verbundene Alltagspraktiken an Bedeutung. Zurück in Russland hält Katja nun gewissenhaft die Fastenregeln ein, verzichtet also mittwochs und freitags auf Fleisch, trinkt jeden Morgen vor dem Gebet ‚heiliges‘ Wasser und isst eine sog.
Prosphora
Prosphora
Geweihtes gestempeltes Rundbrot. Das russisch-orthodoxe Äquivalent zur Hostie.
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Vielleicht war schon die mehr oder weniger spontan anberaumte Taufe ein Übergangsritus mit emotionaler Bedeutung. Möglicherweise wollte Katjas Mutter ihre russische Herkunft und Zugehörigkeit angesichts der bevorstehenden Aussiedlung bekräftigen. Denn in Russland sind Fragen religiöser und nationaler bzw. nationalkultureller Zugehörigkeit eng miteinander verflochten – ebenso wie es dort auch Kirche und Staat sind. Ähnlich wie heimatliche Kost kann auch ein heimatlicher Glaube emotionalen Halt geben, wenn man angesichts von Migrationserfahrung mit Fremdheit und Befremdung konfrontiert ist. Vorstellbar ist außerdem, dass diese Art der mehr oder weniger bewussten Rückbindung an das Herkunftsland eine eventuelle Rückkehr erleichtern sollte. Immerhin lernte Katja erst in Deutschland Kyrillisch lesen und schreiben. Und auch das erleichterte ihre Reintegration in Russland sehr.
Dass Katja tagtäglich die oben genannten, religiös begründeten Ernährungspraktiken ausübt, kann also als Katjas aktive (Wieder)Beheimatung in Russland interpretiert werden. Die Angliederung an die angeheiratete Familie spielt hier sicherlich ebenfalls hinein.
Prosphorastücke für den täglichen Konsum. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Prosphorastücke für den täglichen Konsum. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Hering im Pelzmantel. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Hering im Pelzmantel. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Deutsche Wurzeln und Nationalgerichte
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Auf der anderen Seite und zu der russischen Zugehörigkeit zunächst widersprüchlich mag erscheinen, dass die Migration ihrer deutschen Vorfahr:innen ins Russische Reich für Katja und ihr Selbstverständnis von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Zwar dominiert in ihrem Alltag zweifelsohne, was als ‚sowjetische Küche‘ zusammengefasst werden kann. Katja nimmt sich nach eigenen Angaben aber ungefähr einmal im Monat die Zeit,
„Strudli“
„Strudli“
Dampfnudeln mit geschmortem Fleisch und Kartoffeln.
zu kochen. Dabei handele es sich um ein deutsches „Nationalgericht“, wie sie sagt. Außerdem kennt Katja ihre Familiengeschichte und ihre „deutschen Wurzeln“. Stolz erzählt Katja, dass ihre deutsche Vorfahr:innen ihr „Heimatdorf“ gegründet hätten. Anhand einzelner Beispiele schildert sie deren Ordentlichkeit als Ausdruck deutscher Nationaltugend. Deportation und Zwangsarbeit thematisiert Katja hingegen lediglich auf Nachfrage – ein Aspekt, der in Erzählungen von Angehörigen der russlanddeutschen Erlebnisgeneration häufig einen Schwerpunkt oder gar den Rahmen der Lebensgeschichte bildet.
Diese beiden Befunde – die als Nationalgericht bezeichnete Speise und die Familiengeschichte als nicht von Leid und Opfertum, sondern von Selbstbestimmung und Stolz gekennzeichnete Pioniergeschichte – verdeutlichen, dass und wie Katja ihre deutschen Zugehörigkeitsanteile in alltäglichen Praktiken des Essens und Erzählens ausdrückt. Die „Strudli“ stehen symbolisch für Katjas Stolz auf die Errungenschaften ihrer Vorfahr:innen und Traditionen. Zwar bereitet sie die recht zeitaufwändigen „Strudli“ vergleichsweise selten zu. Jedoch kocht sie sie regelmäßig und kontinuierlich. Katja hält diese Zugehörigkeit stiftende Praxis bewusst aufrecht. Tage, an denen es „Strudli“ gibt, werden zu besonderen Tagen. Indem Katja ihre deutschen Zugehörigkeitsanteile in ausgewählten Alltagsbereichen und -situationen auslebt, laufen sie zudem kaum Gefahr, zu ihren anderen Zugehörigkeiten in Konflikt zu treten.
Global food
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Es sind aber nicht nur religiöse, nationale oder ethnische Zugehörigkeiten, die sich in der Ernährung von Katja und anderen Personen spiegeln, die ich in Westsibirien kennenlernen durfte. In einer globalisierten Welt orientieren sich auch in Russland lebende Menschen an um die Welt gehenden Trends und Vorstellungen von einem guten Leben und guter Ernährung. Einiges wird nur über die Medien zur Kenntnis genommen; anderes jedoch auch während Auslands- und nicht zuletzt Deutschlandaufenthalten kennengelernt. Entsprechend konsumieren die von mir Befragten beispielsweise auch Pizza, Sushi oder Kaffee (anstelle des „russischen Nationalgetränks“ Tee) in unterschiedlicher Häufigkeit, zu verschiedenen Anlässen und unter Verweis auf damit verbundene Wertvorstellungen und Distinktionsabsichten.
Für die nie ausgesiedelte 39-jährige Marina etwa ist der Genuss von Kaffee (trotz aller gebotenen Sparsamkeit) wohl eine ihrer wichtigsten Alltagspraktiken. Sie und ihr Ehemann besitzen einen Kaffeevollautomaten eines deutschen Herstellers, kaufen deutschen Markenkaffee aufgrund seiner vergleichsweise höheren Qualität und zelebrieren und ästhetisieren ihren Kaffeekonsum als Genuss. Auch Süßigkeiten deutscher sowie Biere ausländischer Marken werden im Vergleich zu russischen Produkten wiederholt als höherwertig bezeichnet und trotz der höheren Preise nach Möglichkeit bevorzugt. Marina orientiert sich hier an einem „westlichen“, globalen Lebensstil. Indem sie das Prestige und die gute Qualität bestimmter Nahrungsmittel betont, kann sich Marina von ihren Mitmenschen abheben.
Ausländische Marken gelten als höherwertig. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Ausländische Marken gelten als höherwertig. Anna Flack, CC BY-SA 4.0
Sowjetische Ernährungspraktiken
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Das alles soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Alltag der von mir untersuchten Personen sowjetische Ernährungspraktiken nach wie vor überwiegen. Man darf davon ausgehen, dass an Feiertagen in den meisten Haushalten in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion weiterhin eine Reihe typischer Gerichte und vor allem Salate wie
salat oliv’e
salat oliv’e
International bekannter, sog. „russischer Salat“ aus Kartoffeln, Eiern, eingelegten Erbsen, Möhren und Gurken sowie Mayonnaise. Mehr dazu im Beitrag zur Geschichte der Mayonnaise in Russland: <a href="https://www.copernico.eu/de/themenbeitraege/mayonnaise-quintessenz-der-russischen-kueche">https://www.copernico.eu/de/themenbeitraege/mayonnaise-quintessenz-der-russischen-kueche</a>
oder Hering im Pelzmantel zubereitet wird. Zumindest betonen dies auch meine Gesprächspartner:innen. Die weit verbreitete Subsistenzwirtschaft begünstigt, dass sowjetische Ernährungspraktiken fortgesetzt werden. Sie war nach dem Zerfall der Sowjetunion nie gänzlich aufgegeben worden. Und im Zuge der von der EU verhängten Sanktionen gegen die Russländische Föderation aufgrund der Annexion der Krim gewann Subsistenzwirtschaft noch einmal an Bedeutung.
Vielfalt Zugehörigkeit stiftender Einflüsse
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Zudem werden Ernährungspraktiken nicht nur anhand der bereits erwähnten Ressourcen – Migration, Familiengeschichte/ethnische Herkunft, Religiosität, Orientierung an einem globalisierten Lebensstil – ausgestaltet. Auch Vorstellungen von gesunder oder ungesunder Ernährung, ökonomische Ressourcen, die berufliche Situation, Geschlechterrollen und das politische und gesellschaftliche System prägen unser Ess- und Trinkverhalten, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und in den Alltagspraktiken Essen und Trinken spiegeln sich unsere Zugehörigkeiten, spiegelt sich, als wer wir uns (wann) (in wessen Gegenwart) (wo) (nicht) sehen und erkannt werden (wollen).
Zugehörigkeiten sind dynamisch und situationsspezifisch
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Zugehörigkeiten werden dabei nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Sie sind auch wesentlich von der jeweiligen Situation und dem Gegenüber abhängig. Aus welchen Ressourcen wir inwiefern Zugehörigkeit schöpfen, kann sich außerdem im Laufe der Zeit verändern. Kultur – und damit auch Esskultur – wandelt sich permanent und unaufhörlich. Kultureller Wandel bedeutet, dass wir Praktiken und die Bedeutungen, die wir unserem Denken, Tun und Handeln zuschreiben, beständig weiterentwickeln, aktualisieren oder sogar verwerfen und neue entwickeln. Das bedeutet aber nicht, dass verinnerlichte Wertvorstellungen und Praktiken zwangsläufig komplett aufgegeben werden müssen. Meist bestehen alte und neue Praktiken über einen langen Zeitraum parallel und wirken aufeinander ein, bevor gegebenenfalls erstere zugunsten letzterer aufgegeben werden.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass auch kaum von „deutscher“, „russischer“ oder „russlanddeutscher“ Esskultur gesprochen werden kann – auch wenn dies zugegebenermaßen verführerisch ist, denn es deutet an, dass die Welt und die in ihr vorfindlichen Phänomene ein für alle Mal klar benennbar und eindeutig voneinander unterscheidbar seien. So einfach ist es aber leider nicht. Die Rede von „deutscher“ oder „russischer“ Esskultur verdeckt und unterschlägt, welche unterschiedlichen Einflüsse auf das Ernährungsverhalten einwirken und welche vielfältigen sozialen und kulturellen, Zugehörigkeit stiftenden Funktionen Essen und Trinken erfüllen können – auch und ganz wesentlich je nach Situation und Gegenüber.
Die kulturwissenschaftliche Betrachtung von und Beschäftigung mit ganz konkreten Alltagspraktiken wie Essen und Trinken kann dazu beitragen, nachzuvollziehen, dass Selbstwahrnehmungen und Zugehörigkeiten vielfältig und dynamisch sind: Sie können sich überschneiden und einander sogar (vermeintlich) widersprechen. Dennoch kann ein Individuum sie miteinander vereinbaren, indem je nach Lebensbereich, Gesprächspartner:in und Situation mal die einen, mal die anderen Zugehörigkeitsanteile betont werden. Und Zugehörigkeit kann aus ganz verschiedenen Ressourcen geschöpft werden. Deren Stellenwert kann sich im Laufe der Zeit verändern.