In Müllers „Beschreibung der sibirischen Völker“ beginnt das Kapitel über sibirische Ess- und Ernährungsgewohnheiten ziemlich ausdrucksvoll: „Überhaupt ist von allen Völkern in Sibirien zu sagen, dass sie außer denen Speisen, die wir mit ihnen Gemein haben, auch dergleichen geniessen, und noch daraus Leckerbissen machen, welche uns ein Greuel sind.“ In diesem Satz sind drei Aspekte hervorzuheben, die man auch in anderen Texten der Expedition immer wieder antrifft. Der erste Punkt betrifft die hier zu lesende Verallgemeinerung: alle Völker Sibiriens werden in einen Topf geworfen, obwohl viele von ihnen ganz unterschiedlichen religiösen, sprachlichen und kulturellen Gemeinschaften angehörten. Der zweite Punkt ist das Konzept des Ekels, das nicht nur die emotionale und körperliche Reaktion des Betrachters beschreibt, sondern auch eine Warnung enthält, sich von etwas potenziell Gefährlichem fernzuhalten. Schließlich ist es der Vergleich von „ihnen“ mit „uns“. Müllers kollektives „wir“ bildet den Hintergrund, vor dem sich die Konturen des „anderen“ Sibiriens abzeichnen. Zu diesem kollektiven „wir“ der aus eigener Sicht aufgeklärten Europäer gehört auch die russische politische Elite – die Adressaten von Müllers Text. So verwischt Müllers Beschreibung sibirischen Essens die symbolische Grenze zwischen Russland und Europa und schafft eine neue – zwischen Europa und Sibirien.
Das Motiv der europäischen, natürlichen Ablehnung des ekelhaften sibirischen Essens findet sich auch im Buch „Beschreibung des Landes Kamtschatka“ von Georg Wilhelm Steller (1709–1746). Wie Müller war Steller ein Deutscher im Dienst der Sankt Petersburger Akademie. Obwohl er ein Biologe war, ist seine „Beschreibung des Landes Kamtschatka“ reich an ethnographischen Beschreibungen der Bevölkerungsgruppen, die die Halbinsel bewohnen. Bei der Beschreibung der Zubereitung des Gerichtes „Selaga“ – das die Itelmenen, eine Gruppe von Ureinwohner:innen der Halbinsel Kamtschatka, aus zerkleinerten Beeren und Pflanzen herstellen – wird Steller besonders darauf aufmerksam, dass es mit ungewaschenen Händen gekocht wird. Daraus zieht er den Schluss, dass „jederman vom bloßen Zusehen vomiten [sich übergeben] möchte“. Müller und Steller sprechen hier im Namen aller Europäer – und ihre negative Reaktion bezieht sich eben nicht nur auf das Gericht der itelmenischen Küche selbst, sondern auch auf die Art seiner Zubereitung als Teil itelmenischer Lebensweise. Der europäische Geschmack, so die implizite Behauptung dieser Urteile, ist raffinierter und kultivierter als der der sibirischen Ureinwohner:innen. Und damit erheben beide die europäische Zivilisation insgesamt über die unterlegenen, unkultivierten sibirischen Kulturen mit deren aus ihrer Sicht ‚unreinen‘ Essen.
Was außer Schmutz ekelte die europäischen Forscher am sibirischen Essen noch an? Oft war es ein unangenehmer Geruch, vor allem von solchen Gerichten, die Fäulnisprozesse voraussetzten.
Stepan Krascheninnikow (1711–1755), ein russischer Student und Expeditionsmitglied, die Zubereitung des sauren Fischs auf Kamtschatka folgendermaßen: „Das delikateste Gericht auf Kamtschatka ist der saure Fisch Huigul, den sie in Gruben auf dieselbe Weise wie den sauren Kaviar zubereiten. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass kein Geruch mehr verdorben ist, aber die Menschen auf Kamtschatka finden das Gericht wohlriechend“. Hinweise darauf, dass ein bestimmtes Gericht, das aus Sicht des Reisenden in der Regel nicht das schmackhafteste ist, von den Einheimischen als Delikatesse angesehen wird, sind in den Texten der Gelehrten durchaus üblich. Immerhin dies deutet darauf hin, dass man sich der kulturell abweichenden Geschmacksfrage durchaus bewusst war.
Einige Reisende waren etwas weniger offen für die möglichen Unterschiede in Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen. Jakob Lindenau (1700–1795), ein weiterer Teilnehmer der Expedition, ging in seinem ethnographischen Werk „Die Beschreibung sibirischer Völker“ gleich so weit, die Häuser der Korjaken – eine weitere Gruppe von Ureinwohner:innen Kamtschatkas – mit dem Höllenfeuer zu vergleichen, denn „der Gestank von Speck, Fett, Schmiere und Urin [war] unbeschreiblich“. Der Hinweis auf die Hölle ist kaum zufällig. Er zeigt, wie wichtig religiöse Überzeugungen für die Beurteilung fremder Kulturen waren.