Die Zeit der Shoah in Breslau/Wrocław ist ein weithin vernachlässigtes Thema, um das es in den vergangenen Jahren in einem Forschungsprojekt an der TU Dresden ging – über die Grenzen nationaler Geschichtsschreibungen und zeitlicher Zäsuren hinweg. Mitwirkende aus Deutschland, Polen, Israel, Belgien, Italien und Schweden, die verschiedene wissenschaftliche Disziplinen vertreten, näherten sich diesem Gegenstand unter dem Aspekt der Topographie.
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Das Forschungsprojekt „Topographie der Shoah in 
Wrocław
deu. Breslau, lat. Wratislavia, lat. Vratislavia, ces. Vratislav, deu. Breslaw, deu. Bresslau, deu. Wreczelaw, deu. Wrezlaue, lat. Vuartizlau, lat. Wrotizlaensem, lat. Wortizlava, deu. Brassel

Wrocław (dt. Breslau) ist eine der größten Städte in Polen (Bevölkerungszahl 2022: 674.079). Sie liegt in der Woiwodschaft Niederschlesien im Südwesten des Landes.
Zunächst unter böhmischer, piastischer und zeitweise ungarischer Herrschaft übernahmen 1526 die Habsburger die schlesischen Erblande und damit auch Breslau. Einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte der Stadt stellte die Besetzung Breslaus durch die preußischen Truppen 1741 und die anschließende Einverleibung eines Großteil Schlesiens in das Königreich Preußen dar.
Die rapide Bevölkerungszunahme und Industrialisierung führte zur sprunghaften Urbanisierung der Vorstädte und ihrer Eingemeindung, was mit der Schleifung der Stadtmauer Anfang des 19. Jahrhunderts einherging. Bereits 1840 wuchs Breslau mit 100.000 Einwohnern zur Großstadt heran. Am Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich das häufig noch mittelalterlich geprägte Stadtbild hin zur Großstadt wilhelminischer Prägung. Höhepunkt der Stadtentwicklung noch vor dem Ersten Weltkrieg war die Anlage des Ausstellungsparks als neuer Mittelpunkt der gewerblichen Zukunft Breslaus mit der Jahrhunderthalle von 1913, die seit 2006 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.
In den 1920er und 30er Jahren erfolgte die Eingemeindung von 36 Ortschaften und der Bau von Wohnsiedlungen am Stadtrand. Um der großen Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg zu begegnen, wurden auch Wohngenossenschaften mit Siedlungsbau beauftragt.
Noch 1944 zur Festung erklärt, wurde Breslau während der folgenden Kampfhandlungen in der ersten Hälfte 1945 nahezu vollständig zerstört. Der Wiederaufbau der nun Polnisch gewordenen Stadt dauerte bis in die 1960er Jahre.
Von der etwa 20.000 Personen zählender jüdischen Bevölkerung fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg nur 160 Personen in der Stadt wieder. 1945–1947 wurde die nach dem Kriegsende verbliebene bzw. zurückgekehrte - deutsche - Bevölkerung der Stadt zur Auswanderung größtenteils gezwungen, an ihre Stelle wurden Menschen aus dem Gebiet des polnischen Vorkriegsstaats angesiedelt, darunter aus den an die Sowjetunion verlorenen Gebiete.
Nach dem politischen Umbruch von 1989 erhob sich die Stadt zu neuer, beeindruckender Blüte. Der Transformationsprozess und seine raumwirksamen Folgen sorgten für einen rasanten Aufschwung Breslaus, unterstützt durch den Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004. Heute ist Breslau eine der am besten prosperierenden Städte Polens.

 1933–1949“ wurde von 2018 bis 2021 unter Leitung von Juniorprofessor Dr. Tim Buchen an der TU Dresden und in Kooperation mit Prof. Dr. Marcin Wodziński, Leiter des Lehrstuhls für Judaistik der Universität Breslau/Wrocław, durchgeführt und von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert.
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Erstmals wurden ...
... Ausgrenzungen von Juden aus dem öffentlichen Raum untersucht
  • auf der Grundlage der Tagebücher von Willy Cohn und Walter Tausk;
  • am Beispiel jüdischer Wohnheim-Stiftungen und ihrer ‚Arisierung‘ sowie der Folgen für die Bewohnerinnen und Bewohner;
  • die durch Zwangseinweisungen in die Breslauer ‚Judenhäuser‘ entstanden, in denen Juden an der Schwelle zur Deportation leben mussten;
  • denen der Landesverband Niederschlesien des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Breslau durch seinen Einsatz für die Behauptung der Juden gegen eine umfassende Entwürdigung durch den Nationalsozialismus entgegentrat.
... Räume und Zwischenräume von Religion und Politik in den Mittelpunkt gestellt
  • am Beispiel der Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars Fraenckel‘scher Stiftung von 1854 bis in die Nazizeit;
  • durch die Analyse der Geschichte der Lücke, die durch die Zerstörung der Neuen Synagoge Am Anger in der Pogromnacht 1938 entstand, die als Symbol für die Auslöschung der Breslauer Juden betrachtet wird;
  • am Beispiel der von wechselnden stadtpolitischen Konzepten geprägten Geschichte des jüdischen Friedhofs an der Claassenstraße/ul. Gwarna;
  • am Beispiel der mehrfachen sozialen, rechtlichen und erinnerungskulturellen Transformationen des Neuen und des Alten Jüdischen Friedhofs.
... jüdische Kunst- und Kulturräume und ihre Verdrängung aus dem Stadtzentrum verortet und ihre Zerstörung dargestellt – so am Beispiel
  • des Medienortes Rundfunk (Schlesische Funkstunde);
  • des Spannungsverhältnisses zwischen Jüdischer Gemeinde und jüdischen Architekten;
  • der schlesischen jüdischen Kunstvereinigungen, der Museums- und der Kunstsammlungen.
... Orte von Euthanasie, Zwangsarbeit, Lagerhaft und Deportationen als Endstationen im Leben von Breslauer Juden untersucht, darunter
  • „unsichtbare Orte“ wie jüdische Kranken- und Pflegeeinrichtungen;
  • Jüdische Zwangsarbeiterlager in Breslau (‚Ausrottung durch Arbeit‘);
  • Sammelstellen und Bahnhöfe als lokale „Holocaust landscapes“;
  • das Verschwinden der Breslauer Juden und ihrer Orte von zeitgenössischen Karten.
... Orte der Shoah in Breslau/Wrocław und Niederschlesien aus der Distanz betrachtet
  • in Reisereportagen jüdischer Journalisten und Zeugnissen von Shoah-Überlebenden 1946–1949;
  • im öffentlichen Raum am Beispiel der Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete 1948 und der Ausstellung von geretteten Werken jüdischer Künstler;
  • durch die Analyse von Breslauer Orten und Erinnerungen in narrativen Interviews mit überlebenden Breslauer Juden in Israel („Israelkorpus“);
  • am Beispiel der Bestände der Arolsen Archives zum Thema der Erforschung der Geschichte der Breslauer Juden, ihrer Verfolgung und Vernichtung sowie ihres Überlebens.
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Das internationale Team traf sich zu einem Workshop 2018 in Wrocław und bei einer Konferenz 2019 in Dresden, um gemeinsam Ergebnisse zu erarbeiten, die verschiedenste Aspekte der Topographie der Shoah in Breslau/Wrocław umfassend und kohärent darstellen und die vielfältigen Zusammenhänge und Querverbindungen deutlich machen. In interdisziplinärer Zusammenarbeit des Projektteams wurden dabei Beiträge aus der polnischen und internationalen Forschungsliteratur sowie verschiedenste theoretische Raumkonzepte einbezogen (Michel de Certeaus „Kunst des Handelns“, Michel Foucaults „Heterotopien“, Victor Turners Konzept der Liminalität, Tim Coles „mobile Holocaust landscapes", digitale 3D-Raumrekonstruktionen).
Ergänzt wurden die Forschungen der Mitwirkenden durch Beiträge von zwei Zeitzeugen, die während der öffentlichen Begleitveranstaltungen zur Konferenz im April 2019 in Dresden vorgestellt wurden: Abraham Ascher (New York), Historiker und gebürtiger Breslauer, untersuchte die „Polen-Aktion“ 1938, die er als Kind in Breslau miterlebt hatte. Jerzy Kichler, langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde von Wrocław, stellte den „Marsch der gegenseitigen Achtung“ vor, mit dem seit den 1990er Jahren am 9. November der Pogromnacht 1938 in Breslau gedacht wird und dessen Initiator er ist.
Im Rahmen des Projekts entstand auch ein eigener Stadtplan von Breslau/Wrocław, der die untersuchten historischen Orten abbildet, sie zugleich im heutigen Straßennetz auffindbar und die Geschichte jüdischen Lebens und ihr Erbe erfahrbar macht. Die Karte soll in Kürze digital auf der Seite der BKM-Juniorprofessur Soziale und ökonomische Netzwerke der Deutschen im östlichen Europa im 19. und 20. Jahrhundert an der Technischen Universität Dresden zur Verfügung stehen.
Ein Band mit Projektergebnissen ist 2023 erschienen.

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