Der Lette Pēteris Plostiņš führt detailliert Tagebuch über die Versorgungssituation im Displaced-Persons-Lager in Kleinklötz (Bayern) und über die Vorbereitungen zur Emigration nach Amerika.
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Heute am 4. Januar dieses Jahres [1950] überprüft die CIC [Counter Intelligence Corps, Spionageabwehr der USA] die Insassen unseres Lagers. Gescreent werden diejenigen, die Affidavite erhalten haben und in die USA ausreisen möchten. Es wird ziemlich gründlich gescreent, sehr detailliert wird erfragt, was man gemacht habe, in welchen politischen Organisationen in Lettland man sich engagiert hat und was man in Deutschland gemacht habe.1 

Biografisches Kurzportrait
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Pēteris Plostiņš wurde 1887 in einem kleinen Ort nahe 
Jelgava
eng. Jelgava, rus. Μитава, deu. Mitau, rus. Елгава, pol. Jełgawa

Jelgava ist eine von zehn Republik-Städten in Lettland in der Region Semgallen (Zemgale). Die heute etwa 60.000 Einwohner zählende Stadt liegt 44 km südwestlich von Riga und war bis 1919 Hauptstadt von Kurland. Als solche war sie adelig geprägt und erlebte im 17. Jahrhundert eine wirtschaftliche Blüte, als Kurland kurzzeitig sogar Kolonien in Gambia und Tobago besaß. Ein wichtiges Bildungszentrum wurde die Stadt ab 1775 mit der Errichtung der Academia Petrina durch Herzog Peter Biron, dessen Vater zwischen 1738 und 1772 das Schloss Mitau (lett. Jelgavas pils) an der Stelle der 1265 erbauten Ordensburg errichten ließ. Es folgten 1815 die Gründung der Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst und 1818 des Kurländischen Provinzialmuseums. Heute ist Jelgava Standort der Landwirtschaftlichen Universität Lettlands, die ihren Sitz im Schloss Mitau hat.

Das Bild zeigt eine historische Postkarte aus der Zeit um 1900, abgebildet ist das Kurländische Provinzialmuseum (Kurzemes Provinces muzejs) in Jelgava/Mitau (Copernico/CC0 1.0).

 in Kurland geboren (heute lettisch Jelgava). Der Diplom-Landwirt war in erster Linie als Pädagoge an Berufsschulen für Landwirtschaft tätig und beteiligte sich darüber hinaus an der Förderung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens der Region. Am Ende des Zweiten Weltkriegs floh er mit Frau und Sohn in den Westen mit längeren Zwischenstationen in Regensburg und Kleinkötz (Landkreis Günzburg, Bayern), da er Repressionen und Gewalt durch die neue sowjetische Regierung seines Heimatlandes fürchtete. Der letzte Abschnitt seiner Migration endete tragisch: Auf dem Weg in die Vereinigten Staaten verstarb er 1951 auf dem Schiff. Er wurde noch während der Überfahrt auf See bestattet.
Historischer Hintergrund
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Als die sowjetische Armee ab 1943/44 die deutsche Wehrmacht aus Osteuropa zurückdrängte, war die Furcht in den baltischen Ländern groß, dass die deutsche Besatzung durch eine sowjetische Besatzung abgelöst wird. Jene, die den Kommunismus ablehnten, versuchten daher, gen Westen zu fliehen. Menschen, die sich bei Kriegsende nicht in ihrem Heimatland aufhielten, wurden als „Displaced Persons“ (DPs) bezeichnet. Im westlichen Deutschland errichteten die Besatzungsmächte Lager für DPs. Für viele, auch für Pēteris Plostiņš, waren diese Lager eine Zwischenstation auf dem Weg der Emigration, z.B. nach Amerika. In der Erfahrung des Lagerlebens nach 1945 berühren sich die Migrationswege der DPs und der deutschen Flüchtlinge. Allerdings verbrachten die meisten deutschen Flüchtlinge nur eine kurze Zeit im Lager, bevor sie in jene Landkreise weitergeschickt wurden, die sie aufnehmen sollten. Pēteris Plostiņš und viele andere DPs aus dem Baltikum lebten in Westdeutschland mehrere Jahre in Lagern. Hier entwickelte sich ein stabiles soziales Gefüge mit eigenen Bildungs- und Kultureinrichtungen. In 27, sorgfältig nummerierten Notizblöcken hielt Pēteris Plostiņš in täglichen Einträgen das Alltagsleben im DP-Lager Kleinkötz fest, das in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands lag. Anders als Berichte, die nachträglich verfasst wurden, und die die Migrationserfahrungen vom Ende her denken, geben Tagebucheinträge oftmals einen wechselvolleren Einblick in die Erlebnisse des Autors. Pēteris Plostiņš übergab die letzten fünf Hefte seines Tagebuchs Anfang 1951 aus dem Durchgangslager in Vegesack (Stadtteil von Bremen) an einen unbekannten Empfänger. Von dort fanden sie Eingang in das Archiv des Lettischen Zentrums Münster.2  Im Jahr 2011 wurde Plostiņš‘ Tagebuch erstmals berücksichtigt, als ein Buch von Andris Kadeģis erschien, der als Jugendlicher von 1945 bis 1950 ebenfalls im Lager Kleinkötz gelebt hatte.3
Die deutsche „Neuordnung“ des Baltikums während des Zweiten Weltkriegs
Stationen der Emigration
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Mit dem Vorrücken der Roten Armee 1944/45 flohen auch viele Letten westwärts, da sie Gewalt und Repressionen der Sowjetunion fürchteten. Nach Ende des Krieges wurden sie in der Britischen, Französischen und Amerikanischen Besatzungszone Deutschlands als sogenannte „Displaced Persons“ (wörtlich etwa „Nicht-am-Heimatort-befindliche Personen“) in Lagern untergebracht.
Lebensmittelrationen im DP-Lager in Westdeutschland, Februar 1950
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Ab Februar 1950 wurden die Lebensmittelrationen für die 1.200 Lagerbewohner durch etwas größere Mengen an Zucker, Fett und Eiern erhöht, je nach Altersgruppe bedeutete dies die Aufnahme von 100 bis 600 Kalorien mehr pro Tag. Besonders wichtig war diese Verbesserung für Menschen, die keine Verdienstmöglichkeiten außerhalb oder im Lager hatten (Alte, Kranke, Kinder). Gemäß der Tabelle waren die Hauptbestandteile der Speisekarte der baltischen DPs in Kleinkötz Kartoffeln, Vollmilch und Hülsenfrüchte. Zur Fleischversorgung wurden stets 15 Schweine gehalten, im erwähnten Jahr wurden 5 Ferkel hinzugekauft.4
Plostiņš‘ eigene Statistik: Zielländer und Anzahl der Emigranten
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Unter den in der Tabelle genannten Ausreisezielen der DPs hatten die USA (Nr. 16 in der abgebildeten Tabelle) die größte Anziehungskraft. Die Auswanderung nach Amerika bedeutete für viele die ersehnte Freiheit5  und galt zudem als der beste Ausgangspunkt für eine spätere Rückkehr ins Baltikum. Die große Entfernung versprach Sicherheit vor einer Auslieferung der Balten an die Sowjetmacht, die in Europa insbesondere nach der Berlin-Blockade 1948 weiterhin möglich schien. Doch der Weg in die USA war insbesondere für die baltischen DPs mit einigen Hindernissen verbunden. Der generelle Verdacht der Kollaboration baltischer DPs mit dem nationalsozialistischen Regime führte zu einer kritischen Statusprüfung von Ausreisewilligen seitens der internationalen Flüchtlingsorganisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration / Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen). Plostiņš berichtete außerdem von den sogenannten Screenings durch US-amerikanische Behörden, um die DPs zur Rückkehr zu bewegen. Doch wollte niemand freiwillig in das sowjetisch besetzte Heimatland zurück.
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„Šodien 4.I. š.g. mūsu nometnē skrīnē nometnes iemītniekus CIC. Skrīnē tos, kuri saņēmuši afidevītus un grib izbraukt uz U.S.A. Skrīnē diezgan pamatīgi, jo sīki prasa, ko darījis un kādās politiskās organizācijās bijis Latvijā un ko darījis Vācijā. Viens otris arī nevar būt pavisam atklāts, jo iepriekšējos skrīniņos šo to noslēpuši par savu darbību, kaut arī viņi neko noziedzīgu nav darījuši. Amerikāņu slepenai policijai nepatīk, ka viņu skrīniņa dāti nesakrīt ar iepriekšējo skrīniņu dātiem. Skrīniņu datu nesakrišana var būt par iemeslu, ka skrīnējamais netiek uz U.S.A. Skrīnējamie ir nervozi, kas pilnīgi saprotams.“ [Heute am 4.1. [1950] dieses Jahres überprüft die CIC [Counter Intelligence Corps / Spionageabwehrkorps der USA] die Insassen unseres Lagers. Gescreent werden diejenigen, die Affidavite erhalten haben und in die USA ausreisen möchten. Es wird ziemlich gründlich gescreent, sehr detailliert wird erfragt, was man gemacht habe, in welchen politischen Organisationen in Lettland man sich engagiert hat und was man in Deutschland gemacht habe. Der eine oder andere kann nicht ganz ehrlich antworten, da in den früheren Screenings dies oder das verschwiegen wurde, obwohl sie keine Verbrechen begangen haben. Die amerikanische Geheimpolizei sieht es nicht gerne, wenn die Ergebnisse ihrer Screenings nicht übereinstimmen. Abweichende Daten der Screenings können ein Grund für die Verweigerung der Ausreise nach den USA sein. Die Gescreenten sind entsprechend nervös, was vollkommen verständlich ist.]6 
Darüber hinaus regelten Quotenbestimmungen die Anzahl der Ausreisenden. Von im Ausland bereits lebenden Verwandten, Freunden oder Bekannten erhoffte man sich das für eine Ausreise in die USA notwendige Affidavit (Bürgschaftserklärung).7 So auch Pēteris Plostiņš, dessen Nichte bereits in Amerika lebte und von der er 1950 im Lager ein Lebensmittelpäckchen mit Kakao, Honig, Zucker, Schokolade, Reis und Fett erhielt. Wenn es nicht über persönliche Kontakte und Verbindungen gelang die notwendige Bürgschaft zu erhalten, bemühte man sich um eine solche Bescheinigung bei wohltätigen Organisationen oder Kirchen. Die Hoffnungen auf ein neues Leben in den USA konnten trotz eines Affidavits durch Denunziationen schnell zunichte gemacht werden. Wie Plostiņš lakonisch vermerkte, sei das Lager in Kleinkötz dafür besonders bekannt: „Te ir skaidrs, ka notikusi denuncēšana ar ko slavena Kleinkeces nometne.“ [„Es ist klar, dass in diesem Falle denunziert wurde, wofür das Lager in Kleinkötz bekannt ist.“]8 
Die zweitgrößte Gruppe (116 Personen / Familien) der Ausreisewilligen wählte (nicht immer ganz freiwillig) Australien als ihre neue Heimat. Das Land war bereit, eine uneingeschränkte Anzahl an Emigranten aufzunehmen und lockte mit Arbeitsmöglichkeiten in staatlichen Diensten.9
Alltag und kulturelles Leben im DP-Lager
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Im Lager entstand im Laufe der Jahre ein vielfältiges soziales und kulturelles Leben. Dazu gehörten auch sonntägliche Gottesdienste und Film-Vorführungen. Der Bedarf an Unterhaltung und Zerstreuung war im DP-Lager groß. Plostiņš beschreibt die angebotenen Film-Vorführungen Anfang 1950: „Ja mūsu nometnē ir kino izrādes, tad tām apmeklētāju netrūkst, kaut kino izrādes ir trīs reizes nedēļā - ja nervi notrulinās!“ [„Wenn es in unserem Lager Kinovorführungen gibt, herrscht kein Besuchermangel, auch wenn die Vorstellungen drei Mal in der Woche stattfinden - wenn die Nerven blank liegen!“]10
Über die Versorgungslage, Veranstaltungen wie Gottesdienste, gesellige Zusammenkünfte, Vorträge, Informationsabende zu Emigrationsmöglichkeiten und andere das Lagerleben betreffenden Ereignisse erfuhr man aus lagereigenen Zeitungen. Darin wurde auch die Auflösung des Lagers in Kleinkötz bis zum 1. April 1950 mitgeteilt, für die Auswanderung wurde ein Monat mehr Zeit, bis zum 1. Mai desselben Jahres, gewährt.11  Vermutlich erfolgte die Ausreise in den meisten Fällen auf dem Seeweg, wie im Falle des Verfassers der vorliegenden Aufzeichnungen.
Nachdem in den frühen 1950er Jahren viele DP-Lager aufgelöst wurden, blieben viele Kontakte und Verbindungen zwischen den Letten im Exil erhalten. Über die Jahre bauten Letten im Exil ein umfangreiches Kulturleben auf. Dies gilt ebenso für die emigrierten Esten und Litauer, die mit dem Kriegsende das Baltikum verließen, da sie die sowjetische Herrschaft fürchteten. Auf diese Weise sind in verschiedenen europäischen Ländern und in Nordamerika umfangreiche Sammlungen entstanden, die – weit entfernt vom Baltikum – einen Einblick in lettische, estnische und litauische Kultur geben, wie etwa das Lettische Zentrum in Münster mit Bibliothek und Archiv, das Litauische Kulturinstitut im Schloss Rennhof mit Archiv und Bibliothek. Das umfangreiche Archivmaterial der litauischen DP-Lager wurde in die USA verbracht und befindet sich im Litauischen Forschungs- und Studienzentrum in Chicago (Lithuanian Research and Studies Center). Über das Leben in estnischen DP-Lager gibt die Foto-Sammlung Hintzer im Herder-Institut einen Einblick.
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Quellen
Lettisches Zentrum Münster / Latviešu centrs Minsterē: Latviešu kopības Vācijā arhīvs, Pēteris Plostiņš, Atzīmju grāmatiņas
Kartenmaterial des Herder-Instituts
Bearbeitung
Quellenauswahl, Analyse und Übersetzungen Lettisch-Deutsch: Agnese Bergholde-Wolf
Kartenmontage: Laura Gockert
Redaktion: Christian Lotz
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Dieser Beitrag stammt aus der Serie: „Zwangsmigration: Menschen und ihre Fluchtwege

Siehe auch