Eine wichtige Station für den jungen Richard Wagner ist Ende der 1830er Jahre Riga. Allerdings sind es keine künstlerischen Gründe, die den aufstrebenden Komponisten in den Nordosten Europas führen.


„Mein liebster Louis,
In größter Eile noch schnell ein paar Worte an Dich. Ich bin im Eilwagen viel mit mir zu Rathe gegangen, u. das Resultat ist, daß ich jetzt Alles auf das Engagement nach Riga gebe. Mein lieber, lieber Freund, noch einmal bitte ich Dich recht dringend, Alles aufzubieten, um mir sobald wie möglich den Contrakt mit Holtei zustellen zu können; es ist für mich von der größten Wichtigkeit. Noch einmal: – auf meine Frau braucht dabei gar keine Rücksicht genommen zu werden, – 1000 Rubel Slbr: Contrakt auf 2–3 Jahre; u. wenn Du mir noch etwas auswirken könntest, so wäre es das[.]“

Richard Wagner an Louis Schindelmeisser, Leipzig, 7. Juni 1837
Text
Als der 24-jährige Richard Wagner  diese Zeilen an seinen Freund, den preußischen Kapellmeister Louis Schindelmeisser schreibt, ist er noch nicht auf dem Weg nach , sondern auf der Suche nach seiner Frau Minna. Die ist eine Woche zuvor, nach gerade einem halben Jahr Ehe, mit einem Kaufmann durchgebrannt und von 
Ostpreußen
eng. East Prussia, pol. Prusy Wschodnie, lit. Rytų Prūsija, rus. Восто́чная Пру́ссия, rus. Vostóchnaia Prússiia

Ostpreußen ist der Name der ehemaligen, bis 1945 bestehenden östlichsten preußischen Provinz, deren Ausdehnung (ungeachtet historisch leicht wechselnder Grenzverläufe) ungefähr der historischen Landschaft Preußen entspricht. Die Bezeichnung kam erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gebrauch, als neben dem 1701 zum Königreich erhobenen Herzogtum Preußen mit seiner Hauptstadt Königsberg weitere, zuvor polnische Gebiete im Westen (beispielsweise das sog. Preußen Königlichen Anteils mit dem Ermland und Pommerellen) zu Brandenburg-Preußen kamen und die neue Provinz Westpreußen bildeten.
Heutzutage gehört das Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz überwiegend zu Russland (Oblast Kaliningrad) und Polen (Woiwodschaft Ermland-Masuren). Das ehemalige sog. Memelland (auch Memelgebiet, lit. Klaipėdos kraštas) kam erstmals 1920 und erneut ab 1945 zu Litauen.

 nach Sachsen gereist. Die sofort aufgenommene Verfolgungsjagd ihres Gatten allerdings hat sich verzögert und krankt an dessen chronischem Geldmangel. Im ersten Anlauf kommt Wagner nur rund hundert Kilometer weit und muss schon im westpreußischen  nach 
Kaliningrad
deu. Königsberg, rus. Калинингра́д

Kaliningrad ist eine Stadt im heutigen Russland. Sie liegt im Oblast Kaliningrad, einer russischen Exklave zwischen Litauen und Polen. Kaliningrad, ehemals Königsberg, gehörte über mehrere Jahrhunderte zu Preußen und war dessen nordöstlichste Großstadt.

 zurückkehren. Erst, nachdem einige der Hochzeitsgeschenke verkauft und neue Schulden aufgenommen worden sind, kann er sich erneut auf den Weg machen, um seine Frau zurückzugewinnen.
Text
Die überstürzte Reise gehört zu einer Episode in Wagners Leben, die den noch unbekannten Komponisten wenig später in den Nordosten Europas führen wird, eben nach Riga, in die größte und kulturell vielfältigste Stadt im russischen Ostseegouvernement
Livland
eng. Livonia, est. Liivimaa, lav. Livonija

Livland (lett. Livonija, estn. Liivimaa) ist eine historische Landschaft im Baltikum. Sie umfasst heutzutage Teile des südlichen Estlands und des nördlichen Lettlands. Benannt wurde die Landschaft nach den einst dort lebenden Livonen.

. Das Engagement als Musikdirektor am neueröffneten Rigaer Stadttheater wird dringend benötigt, denn Wagner ist ein Leichtfuß, ein Verschwender, der schon in jungen Jahren weit über seine Verhältnisse lebt, sich immer wieder Geld leiht, ohne es zurückzahlen zu können. 1835 muss selbst seine Mutter die Freunde ihres Sohnes eindringlich bitten, ihm keine weiteren Summen mehr zu geben. Auch „das verfluchte Judengeschmeiß“, schreibt Wagner schon im Jahr zuvor boshaft und frustriert, gewährt ihm keinen Kredit. Eine Briefstelle, die auf den drastischen, offensiven Antisemitismus verweist, der Wagners Person tief überschattet und den er beispielsweise in seiner Schrift Das Judenthum in der Musik (1850/1869) breittreten wird.1


„Schulden; – Verklagungen… schlimme Lage; den 17ten Mai Abreise nach Berlin.“

Richard Wagner 1836 in seinen persönlichen Notizen (Rote Brieftasche)
Text
Im Mai 1836 hat Wagner den Bogen dann so weit überspannt, dass er vor seinen Gläubigern aus Magdeburg nach Berlin fliehen muss. Hier erwägt er erstmals, sich um die Stelle in Riga zu bewerben. Im Sommer reist er jedoch zunächst zu seiner Noch-Verlobten Minna Planer, die als Schauspielerin und Sängerin am Königsberger Theater tätig ist. Im kleinen, nahe gelegenen Dorf 
Tragheim (Kaliningrad)
deu. Königsberg-Tragheim

Tragheim war ein Stadtteil in der ehemals preußischen Stadt Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, Russland. Das Viertel lag nördlich des Schlosses und war bekannt als gehobener Stadtteil.

Historische Orte
Ostpreußen
  (
pol. Prusy Wschodnie, eng. East Prussia
)
 findet am 24. November die Hochzeit statt. Einige Monate später, im Frühjahr 1837, gelingt es Wagner sogar, eine Anstellung als Musikdirektor am Theater zu erhalten. Nach wenigen Wochen allerdings ist sein Arbeitgeber Bankrott. Es folgt die erwähnte Verfolgungsjagd nach Sachsen, am 15. Juni die Weiterreise nach Berlin, wo Wagner endlich den Vertrag mit dem Rigaer Theaterdirektor Karl von Holtei (1798–1880) abschließen kann (allerdings nur über einen Lohn von 800 Silberrubeln, nicht über 1.000, wie zuvor gefordert).


„Ich bin jetzt brodlos. Ich muß Riga erhalten. […] Ich habe augenblicklich kein Geld, und meine Verhältnisse lassen sich nicht so schnell ordnen. […] Thue ja Alles. Dieser Brief an Holtei. Kein Geheimniß mehr. Großen, warmen Dank, mein Louis! Adieu!!“

Richard Wagner an Louis Schindelmeisser, Dresden, 12. Juni 1837


„Minna, – ich war bei Holtey, – Alles ist abgemacht, wir sind einig, morgen schließen wir Contrakt. Mir wird Riga als der angenehmste Aufenthalt in der Welt geschildert, besonders was Geldverdienen betrifft; […] Minna, werde wieder ein Weib, – wirf Deine üblen Meinungen alle von Dir, sei wieder ganz mein!“

Richard Wagner an Minna Wagner, Berlin, 20. Juni 1837
Text
Im August, nachdem Minna ihn ein weiteres Mal verlassen hat und Wagner ihren Aufenthaltsort nicht mehr rechtzeitig in Erfahrung bringen kann, schifft er sich allein von Travemünde aus nach Riga ein. Wohl fühlt er sich hier anfangs nicht: „Kummervolle Lage. Unbehaglichkeit.“, notiert er in sein Notizbuch, die Rote Brieftasche. Erst im Oktober folgt ihm Minna nach.
Die Tätigkeit in Riga allerdings wird eine wichtige Rolle für sein weiteres Werk und Leben spielen: Wagner entwickelt sich als Dirigent stetig weiter und schreibt große Teile der Oper Rienzi, die Anfang der 1840er Jahre seinen Durchbruch als Komponist bringen wird. Und das als „Scheune“ gescholtene Rigaer Theater soll in seiner Anlage von Orchesterraum und Parkett sogar ein Vorbild für das Bayreuther Festspielhaus gewesen sein.
Die Vorurteile und Ressentiments gegenüber seinem Wirkungsort kann Wagner dennoch nie vollständig ablegen. Als er dem Stuttgarter Publizisten August Lewald (1792–1871) im November 1838 die Vertonung eines Gedichtes zum Abdruck übersendet, schreibt er nicht nur von „meiner glühenden Sehnsucht nach dem Süden“, ungeachtet derer er „jetzt in Sibirien“ sei. Zu seiner kleinen beigelegten Komposition merkt er auch an, ihren Entstehungsort vorschützend:


„Beiliegendes Gedicht fand ich im Musenalmanach; so wenig ich nun auch gerade die Tannenbaum-Melancholie liebe, so kann man sich ihrer in Liefland doch manchmal nicht ganz erwehren; ich habe das Gedicht in liefländischer Tonart componirt und übersende es Ihnen mit der Bitte, es der „Europa“ beizufügen; nur urtheilen Sie nach dieser Composition ja nicht auf meine Art, Opern zu componiren, dies ist, glaube ich behaupten zu können, Gott sei Lob weniger liefländisch.“ 

Richard Wagner an August Lewald, Riga, 12. November 1838
Text
Der Vertrag am Rigaer Theater wird 1839 nicht mehr verlängert, das Ehepaar Wagner reist im Sommer des Jahres heimlich und illegal, ohne gültige Reisepässe und erneut auf der Flucht vor alten und neuen Gläubigern, nach Paris. Auch diese Reise ist filmreif: Der Grenzübertritt nach Preußen erfolgt nachts, während der Wachablösung der Soldaten an der streng bewachten russischen Grenze, über Gräben, offenes Schussfeld und in der Angst, durch den mitgeführten Hund Robber verraten zu werden. Hinter Königsberg verunglückt ihre Kutsche. Und das kleine Schiff, das neben den beiden Flüchtigen lediglich sieben Mann Besatzung, Hafer und Erbsen nach London transportiert, gerät auf der Reise dorthin gleich mehrfach in schwere Stürme. Immerhin, so behauptet Wagner später, kommt ihm dabei die Idee zur Oper Der Fliegende Holländer – in der tatsächlich zahlreiche Reiseerlebnisse verarbeitet sind.
Im Stadtbild von Riga ist der Komponist bis heute präsent: Im Zentrum der Altstadt verbindet seit 1987 die Richard-Wagner-Straße (Riharda Vāgnera iela) die traditionsreiche Kalkstraße (Kaļķu iela) mit der Theaterstraße (Teātra iela). Bis heute ist hier, mit der Hausnummer 4, das historische Gebäude des alten Stadttheaters zu finden, das mittlerweile allerdings mehrfach umgebaut worden ist. Der hier im 20. Jahrhundert eingerichtete Wagnersaal (Vāgnera zāle) soll in den kommenden Jahren aufwendig saniert werden.

Siehe auch