Mehr als 150 Jahre stand die Rokoko-Kommode im Obergeschoss des Steinorter Schlosses, in der sogenannten „Simson-Stube“. Sie zeugt vom Lebensstil einer ostpreußischen Adelsfamilie. Hinter ihr liegt eine abenteuerliche Reise. Sie begann nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, als Heinrich Graf von Lehndorff, der letzte Schlossherr, verhaftet und hingerichtet wurde.
Adelsgeschichte und nationales Kulturerbe – ein Lehrstück
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Manche stellen sich den Adel im fernen Masuren als ländlich-provinziell vor. „Die Kommode erzählt eine andere Geschichte“, sagt Joachim Mähnert, Leiter des Ostpreußischen Landesmuseums. „Sie ist ein Beleg für die Internationalität der Lehndorffs. Die Familie hat die bedeutendsten Kunsthandwerker Europas engagiert. Und sie hatte das Geld dazu.“ Es gab bekanntlich auch schlechte Zeiten, doch über die Jahrhunderte kamen in
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

allerhand Kostbarkeiten zusammen.1
 
Die Kommode aus dem 18. Jahrhundert stammt aus der Berliner Werkstatt von Johann Michael Hoppenhaupt d.J., dem bekannten „Zieraten-Bildhauer“, der für den Preußischen Hof arbeitete. Ein Möbel im Stil des französischen Rokokos, es stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Besitz von Ernst Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorff (1727 – 1811).
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Als Kammerherr am Berliner Hof ist er durch seine Tagebuchaufzeichnungen in französischer Sprache berühmt geworden, in dem er ab 1750 mehr als ein halbes Jahrhundert lang die Ereignisse am Hofe festhielt.2
 
Foto ist vorne links die Kommode zu sehen, in Gesellschaft anderer Rokoko-Möbel, vor der Kulisse eines prächtigen Gobelins, einer von sieben, die Szenen aus der Geschichte des biblischen Helden Simson darstellen – flämische Textilkunst aus dem 17. Jahrhundert.
 
Für sein Steinorter Schloss ließ sich der Kammerherr vom königlich-preußischen Alltag inspirieren. Und er stand unter dem Einfluss der europäischen Aufklärung, die Friedrich der Große verkörperte. Ein Ölgemälde, das die Wirren der Zeit überstanden hat, zeigt den Grafen und seine Familie: selbstbewusst und würdevoll, die Kinder eigenständig und natürlich, den neuen Idealen von Jean-Jacques Rousseau entsprechend.
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Kein geringerer als Johann Heinrich Wilhelm Tischbein hat das Bild gemalt, es ist die wertvollste Hinterlassenschaft aus Lehndorffschem Besitz.
 
Ein Familienfoto aus dem Jahr 1941 dokumentiert, dass das Gemälde zuletzt in einem der Kinderzimmer hing. Heute befindet es sich in der Obhut des Ostpreußischen Landesmuseums. Wie fast alles, was übriggeblieben ist. Laut Inventarverzeichnis etwa 200 Objekte: Gemälde, Grafiken, Möbel, Silbergegenstände, Textilien, Porzellan, Bücher. Ein Sammelsurium, darunter banale Dinge wie ein Sektkübel, Messerbänkchen, einzelne Teller, die nicht zusammenpassen, „man könnte damit keinen Tisch decken“, so Joachim Mähnert.
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Vor Jahren schon hat der Kunsthistoriker Kilian Heck die Geschichte des Inventars erforscht, verlorene Dinge aufgespürt und gedeutet. Die Historikerin Gaby Huch ist dabei, im Rahmen der Online-Edition “Lebenswelten Lehndorff“, aus Akten ihre verschlungenen Wege nachzuzeichnen.
Verschlungene Wege
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Immer wieder führen die Recherchen zum Ausgangspunkt zurück, als Heinrich und Gottliebe von Lehndorff mit ihren kleinen Töchtern das Schloss bewohnten. Allein zu rekonstruieren, was sich in den zahlreichen Räumen befand, ist äußerst schwierig. Inwieweit die Familie vor oder nach dem 20. Juli 1944 kleinere Objekte und Archivalien heimlich in Sicherheit bringen konnte, ist umstritten.
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Nach der Hinrichtung Heinrich von Lehndorffs am 4. September 1944, der Enteignung und Vertreibung der Familie aus dem Schloss, war es den Nazis ausgeliefert. Größere Mengen Inventar wurden beschlag-nahmt. Denkbar, dass Außenminister von Ribbentrop, der seit 1941 im Westflügel des Herrenhauses residierte und bis Oktober 1944 blieb, dabei seine Hand im Spiel hatte. Alles wurde nach Sachsen verbracht, teils in die Burg Kriebstein, teils in die Kirche der alten Klosteranlage Wechselburg, die zur Auslagerungsorten für kriegsgefährdete Kulturgüter bestimmt worden waren. Laut Aktenvermerk trafen am 24. Dezember 1944 Eisenbahnwagen, in denen sich Lehndorffsche Besitztümer befanden, in Sachsen ein.
 
Am 13. Januar 1945 rückte die Rote Armee in Ostpreußen ein. Soldaten plünderten das Schloss, später transportierten die Sieger ganze Waggonladungen nach Russland ab. Noch lange verschwanden nützliche Dinge, Hausrat, Öfen, Ziegel. Die Not war groß, die neuen Bewohner, die aus dem Osten nach Masuren deportiert wurden, konnten sie gut brauchen.
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1947 begann die polnische Museumsverwaltung, die letzten Kunstgüter aus ostpreußischen Herrenhäusern zu sichern. Diesen Aktionen verdanken etwa 20 Gemälde, einige Möbel und Parkskulpturen aus Lehndorffschem Besitz ihr Überleben. Genauer überliefert ist die Rettungsaktion der wertvollen Sonnenuhr, engagierte Denkmalpfleger brachten sie nach
Olsztyn
deu. Allenstein, lat. Holstin, lat. Allenstenium

Das heutige Stadt Allenstein/Olsztyn (Bevölkerungszahl 2022: 168.212) wurde 1353 als „Allensteyn“ an der Allna gegründet. Allenstein ist die größte Stadt Ermlands und der Sitz der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Die Stadt ist Mitglied der Europäische Route der Backsteingotik, insbesondere aufgrund seines Altstadtrings und der Burg Allenstein.

Das Bild zeigt eine Stadtansicht von Olsztyn /Allenstein auf einer Postkarte von vor 1945.

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Die in Sachsen gelagerten Hinterlassenschaften wurden größtenteils als Reparationsleistung der Sowjetunion übergeben. Schätzungsweise 90 % des Steinorter Interieurs oder mehr befinden sich heute in russischen Depots. Museumsleuten gelang es, vor dem Abtransport 1946 Objekte für ihre Sammlungen abzuzweigen. Das berühmte Tischbein-Gemälde zum Beispiel wanderte in das Leipziger Grassi-Museum.
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Manches blieb auch in der Burg Kriebstein, die 1949 zum Heimatmuseum wurde. Mitte der 1980er Jahre ging durch die Presse, dass in einem zugemauerten Kamin Inventar der Lehndorffs wiederentdeckt wurde. Die farbige, aufsehenerregende Story, die der damalige Museumsleiter Bernd Wippert der Welt erzählte, wird inzwischen angezweifelt. Jedenfalls wurde der „Kaminschatz“ nach der Wende öffentlich ausgestellt.
 
Was die Rokoko-Kommode angeht, so wissen wir Genaueres: Sie war in der Wechselburger Kirche gelandet – und es waren zwei. Baugleich, derselbe Brandstempel auf der Unterseite des Deckels, Zwillingsschwestern sozusagen. 1948 wurden sie, zusammen mit anderen Möbeln, Textilien und Archivalien, als „herrenloses Kulturgut“ in die Kunstsammlung Chemnitz überführt. Ihr damaliger Direktor wusste, wem es gehörte, dass es „aus dem Besitz des Grafen Lehndorff stammt,“ so schrieb er an die sächsische Landesregierung, „der am 20. Juli 1944 beteiligt war und deshalb samt der gesamten Familie ausgerottet wurde.“3
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Eine der Kommoden wählte das Grassi-Museum Leipzig für sich aus.  Die andere, die in Chemnitz blieb, soll in den 1970er Jahren von Alexander Schalck-Golodkowski, zuständig für verdeckte Geschäfte zur Devisenbeschaffung, in den Westen verkauft worden sein. Jahrzehnte später tauchte sie schwer beschädigt auf dem Kunstmarkt auf.
Politkrimi mit Happy End
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Stoff für einen Politkrimi! Mit dem Ende der DDR ging er weiter, endlich warf die Justiz eines demokratischen Staates einen Blick auf das Un-recht der Vergangenheit: 1992 stellte Gottliebe von Lehndorff beim Amt für offene Vermögensfragen einen Antrag auf Rückgabe.
 
Achtzehn Jahre dauerte die rechtliche Auseinandersetzung der Familie mit dem Freistaat Sachsen! Nach dem Tod ihrer Mutter führten die vier Töchter sie fort, allen voran die prominente Vera von Lehndorff. Die Akten – Zeugenaussagen, Gutachten, Einlassungen der Anwälte etc. – werden eines Tages der Forschung zur Verfügung stehen.4
 
Nicht jeder verhielt sich damals so kooperativ wie der Museumsleiter von Kriebstein Bernd Wippert, der die Lehndorffs gleich nach der Wende eingeladen hatte. Die Museen in Leipzig und Chemnitz mauerten, die Beweisführung, dass es sich um Raubkunst handelt, war mühsam. Erst 2010 bekamen die Lehndorff-Erben einen Großteil der ermittelten Wertgegenstände zurück.
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Als rechtmäßige Besitzer entschieden sie, diese zu verkaufen. Sie haben dies nicht öffentlich kommentiert, doch man kann sich unschwer vorstellen, was sie dazu bewegte. Sich mit einem „kaiserlichen Diplom über die Erhebung in den Reichsgrafenstand“ zu schmücken, wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen. Gobelins und Barockschränke, viel zu groß für normale Wohnungen, pompöse Kommoden, silberne Messerbänkchen, all das passte nicht in ihre Welt. Ein Giraffenklavier oder ein Gemälde zu restaurieren, hätte viel Geld verschlungen. Schloss Steinort ist Geschichte, unendlich fern, eine andere Galaxie. Heinrich und Gottliebe Lehndorffs Töchter waren sieben, fünf und zwei Jahre alt, als sie fortmussten, die jüngste noch nicht geboren.
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„Diese Dinge waren eine Last“, vermutet Joachim Mähnert, der sie jetzt in seiner Obhut hat. „Mit traumatischen Erfahrungen verbunden, Ängsten, die bis heute weiterwirken. Auch das ist europäische Geschichte.“
Rettung des Steinorter Interieurs
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Beinahe wären sie in alle Winde verstreut worden. Die Kataloge des Münchner und Londoner Auktionshauses waren bereits gedruckt, im Frühling 2015 konnte – in letzter Minute – die Versteigerung gestoppt werden: Engagierte Bürger befanden, es handele sich um nationales Kulturerbe, und kauften gemeinsam alles auf. Wer die anonymen Retter waren, die sich „Kunstfreunde Schloss Steinort“ nannten, ist nur teilweise bekannt.
Es war eine kleine Gruppe um den Kunsthistoriker Kilian Heck, den Bauingenieur Wolfram Jäger und den Dirigenten Christian Thielemann, der schon die lädierte Rokokokommode auf dem Kunstmarkt erworben hatte.
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Nach fünf Jahren zähem Ringen bekamen sie ihren Einsatz zurück. Die Bundesrepublik zahlte, das Staatsministerium für Kultur und Medien bestimmte das Deutsche Historische Museum Berlin zum neuen Eigentümer, Standort und Verwalter der Sammlung wurde das Ostpreußische Landesmuseum Lüneburg. Hier sollen sie nach Restaurierung der Objekte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Sollte das Lehndorffsche Schloss gerettet werden, könnten die Kommode und andere Dinge als Museumsstücke und Leihgaben zumindest temporär heimkehren. Das wird noch eine Weile dauern, vielleicht wird bis dahin Russland seine Depots öffnen…