Bekannt als Politikerin der Grünen, langjährige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Nach ihrem Rückzug 2005 wurde sie freie Autorin, ihr erstes großes Buchprojekt: „Doppelleben“, die Geschichte von Heinrich von Lehndorff, einem der Verschwörer des 20. Juli 1944, und seiner Frau Gottliebe. Eine bewegende Biografie zweier junger Adeliger, die von ihrem Wagemut erzählt und ihrer Liebe.
Geschichte eines jungen Paares, das den Widerstand gegen Hitler wagte
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Neuland - bis dahin hatte die Welt des Adels und der Militärs im Leben der linken Pazifistin Antje Vollmer keine Rolle gespielt. 1943 im ostwestfälischen Lübbecke geboren, setzte sie sich früh mit der NS-Zeit auseinander. Ihr Vorbild war Dietrich Bonhoeffer, der Widerstand der „Bekennenden Kirche“. Deswegen hat sie evangelische Theologie studiert. Von Heidelberg zog sie, 1967, nach West-Berlin, geriet in die Studentenrevolte, wurde Pastorin im Arbeiterbezirk Wedding.
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„Zufälligerweise war ich immer an Orten, wo etwas Neues begann“, sagte sie mal. Plötzlich saß sie im Bundestag, agierte dort mit „anarchistischer Dickköpfigkeit“, die den Ostwestfalen eigen ist. Offen und unbequem, ob sie RAF-Terroristen den Dialog anbot oder auf die Vertriebenen-Verbände zuging. Eine, die Perspektiven wechselte und auf blinde Flecken hinwies, in der Gesellschaft wie in der eigenen Partei.
 
Der Widerstand des 20. Juli war so ein Thema. In linksliberalen Kreisen galten die Verschwörer als Reaktionäre, dünkelhaft, nationalistisch, demokratiefeindlich, als Vorbild für die Bundesrepublik absolut ungeeignet. Wirkliche Helden, das waren Hans und Sophie Scholl, die Kommunisten der „Roten Kapelle“ oder Georg Elser. Werturteile, die auch Antje Vollmer geprägt haben – ihre Beschäftigung mit Heinrich und Gottliebe von Lehndorff veränderte ihr Denken.
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Über Vera von Lehndorff kam Antje Vollmer in Kontakt zu deren Schwestern und der weitläufigen Verwandtschaft, hatte Zugang zu privaten Dokumenten und Fotos.1  Ein Glücksfall! Und doch eine schwierige Recherche, weil sie an alte Wunden rührte. Nach der Hinrichtung Heinrich von Lehndorffs, am 4. September 1944, war die Familie lange  tief verstört. Seine Witwe Gottliebe und die vier Töchter Nona, Vera, Gabriele und die gerade erst geborene Catharina hatten versucht, das Schwere hinter sich zu lassen. Die frühere Heimat, der Adelssitz
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

, war versunken, über Familiengeschichte wurde kaum gesprochen.
Die Welt der Lehndorffs
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Nach und nach tauchte Antje Vollmer in die fremde Welt ein. Wo in Europa liegt Steinort? Wer waren die Lehndorffs? Neben den Dohnas, Dönhoffs, Eulenburgs, Groebens gehörten sie zu den alten Adelsfamilien Ostpreußens. Landmenschen, fest verwurzelt auf ihren Gütern, weiträumig verflochten mit dem Hof in
Warszawa
deu. Warschau, eng. Warsaw, deu. Warszowa, deu. Warszewa, yid. Varše, yid. וואַרשע, rus. Варшава, rus. Varšava

Warschau ist die Hauptstadt Polens und zugleich die größte Stadt des Landes (Bevölkerungszahl 2022: 1.861.975). Sie liegt in der Woiwodschaft Masowien an Polens längstem Fluss, der Weichsel. Warschau wurde erstmals Ende des 16. Jahrhunderts Hauptstadt der polnisch-litauischen Adelsrepublik und löste damit Krakau ab, das zuvor polnische Hauptstadt gewesen war. Im Rahmen der Teilungen Polen-Litauens wurde Warschau mehrfach besetzt und schließlich für elf Jahre Teil der preußischen Provinz Südpreußen. Von 1807 bis 1815 war die Stadt Hauptstadt des Herzogtums Warschau, einem kurzlebigen napoleonischen Satellitenstaat; im Anschluss des Königreichs Polen unter russischer Oberherrschaft (dem sog. Kongresspolen). Erst mit Gründung der Zweiten Polnischen Republik nach Ende des Ersten Weltkriegs war Warschau wieder Hauptstadt eines unabhängigen polnischen Staates.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Warschau erst nach intensiven Kämpfen und einer mehrwöchigen Belagerung von der Wehrmacht erobert und besetzt. Schon dabei fand eine fünfstellige Zahl an Einwohnern den Tod und wurden Teile der nicht zuletzt für seine zahlreichen barocken Paläste und Parkanlagen bekannten Stadt bereits schwer beschädigt. Im Rahmen der anschließenden Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde mit dem Warschauer Ghetto das mit Abstand größte jüdische Ghetto unter deutscher Besatzung errichtet, das als Sammellager für mehrere hunderttausend Menschen aus Stadt, Umland und selbst dem besetzten Ausland diente und zugleich Ausgangspunkt für die Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager war.

Infolge des Aufstandes im Warschauer Ghetto ab dem 18. April 1943 und dessen Niederschlagung Anfang Mai 1943 wurde das Ghettogebiet systematisch zerstört und seine letzten Bewohner verschleppt und ermordet. Im Sommer 1944 folgte der zwei Monate dauernde Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung, in dessen Folge fast zweihunderttausend Polen ums Leben kamen und nach dessen Niederschlagung auch das restliche Stadtgebiet Warschaus von deutschen Einheiten weitgehend und planmäßig zerstört wurde.

In der Nachkriegszeit wurden zahlreiche historische Gebäude und Teile der Innenstadt, darunter das Warschauer Königsschloss und die Altstadt, wiederaufgebaut - ein Prozess, der bis heute andauert.

, später in Berlin, dem
Baltikum
eng. Baltics, lat. Balticum, deu. Baltische Staaten, deu. Baltische Provinzen

Das Baltikum ist eine Region im Nordosten Europas und setzt sich aus den drei Staaten Estland, Lettland und Litauen zusammen. Das Baltikum wird von knapp 6 Millionen Menschen bewohnt.

. Fünf Jahrhunderte lang hatten die Lehndorffs in Masuren, an den Ufern des Mauersees, gelebt.
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Ende des 17. Jahrhunderts entstand das barocke Schloss. In Antje Vollmers Buch lernen wir einige Ahnen kennen, zum Beispiel den legendären „Onkel Carol“. Carol Graf Lehndorff, ein Dandy und Kindskopf vor dem Herrn, war der Vorgänger von Heinrich von Lehndorff auf Schloss Steinort. Nach dem Tod des Onkels, 1936, übernahm der Neffe das heruntergewirtschaftete Gut. 5500 Hektar Land, eine Riesenaufgabe! Gebäude reparieren, Drainagen legen, mechanisieren. Ein moderner Lanz-Bulldog  war sein Traum.
 
Damals, so schreibt die Biografin, ist er „gerade 27 Jahre alt, er liebt diese Landschaft, er liebt diesen Wald, er ist da, wo er immer sein wollte.“
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Vor unseren Augen entsteht das Bild eines lebensfrohen jungen Mannes. Geboren 1909, genannt „Heini“, der Älteste von Dreien. Mit Schwester Karin, „Sissi“, und dem Bruder Ahasverus verlebte er eine sorglose Kindheit auf Schloss Preyl, nordwestlich von
Kaliningrad
deu. Königsberg, rus. Калинингра́д

Kaliningrad ist eine Stadt im heutigen Russland. Sie liegt im Oblast Kaliningrad, einer russischen Exklave zwischen Litauen und Polen. Kaliningrad, ehemals Königsberg, gehörte über mehrere Jahrhunderte zu Preußen und war dessen nordöstlichste Großstadt.

. Die Eltern Harriet und Manfred von Lehndorff gönnten den Kindern viel Freiheit. Etikette war eher kleingeschrieben. Pferdesport groß, Heini und Sissi waren begnadete Reiter. Die Hauslehrer hatten ihre liebe Not, den Zöglingen das Nötigste zu vermitteln, konservative Gesinnung und Standesbewusstsein inbegriffen.
 
Sie waren eine ganze Clique. In den Ferien kamen Vettern und Cousinen nach Preyl, darunter Marion Gräfin Dönhoff.2  Auch die Mädchen genossen das ungebundene, freudige Leben. Als Heinrich mit dreizehn ins Internat, auf die traditionsreiche Klosterschule Roßleben, geschickt wurde, fühlte er sich wie in einem Gefängnis.
 
„Ein ganz ungewohnter Zwang“, zitiert Antje Vollmer den Schüler. Und das Urteil des Klassenlehrers über ihn: „Er ist voller guter Vorsätze, aber schwach im Halten. Lebensfroh, sorglos, unbekümmert lebt er in den Tag hinein.“
 
Offenbar entfaltete die Klosterschule erstaunliche pädagogische Wirkung. Aus keiner anderen Schule, stellt Antje Vollmer fest, sind so viele Widerstandskämpfer hervorgegangen. Zwölf zählt sie, fast alle wurden hingerichtet.
 
Nach der Reifeprüfung 1928 folgten Lehr- und Wanderjahre: landwirtschaftliche Praxis, Wehrdienst, zwei Jahre Frankfurt, wo er Vorlesungen in Jura und Betriebswirtschaft besuchte, liberale Ideen kennenlernte. Und wo er wieder auf Marion Dönhoff traf, sie beide die Leidenschaft für schnelle Autos entdeckten.
Heinrich und Gottliebe werden ein Paar
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Inzwischen war Hitler an der Macht. 1936 übernahm Heinrich Gut Steinort. Im selben Jahr begegnete er der 23jährigen Gottliebe Gräfin von Kalnein.
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Mit geübtem weiblichem Blick holt Antje Vollmer die schöne Unbekannte ins Licht der Geschichte. Jahrgang 1913, auch sie aus einer großen Adelsfamilie, doch mehr Gemeinsamkeiten mit ihrem künftigen Ehemann gab es kaum: Ihre Kindheit war unglücklich. Als sie fünf war, starb ihr älterer Bruder. Kurz darauf ließen sich ihre Mutter und ihr Vater - damals Landstallmeister in Graditz - scheiden.
 
Zerbrechlich war Gottliebe, dickköpfig, wollte unbedingt Abitur machen. Als Gymnasiastin in Dresden lernte sie Bogislav Krahmer kennen, ihre erste große Liebe. Er war Tierarzt - und er war Jude, in den Augen ihres Standes eine Mesalliance. Kurzerhand ließ die Mutter Gottliebe auf ein Schiff nach Kolumbien verfrachten.
 
In Bogotà – ihr Stiefvater besaß dort ein Kaffeeunternehmen - versank sie in Trauer. 1934 kämpfte sie sich frei, zog nach Berlin und nahm eine Stelle als Bibliothekarin an. Endlich durfte sie eine emanzipierte Frau sein.
 
Bei ihrem Ostpreußenbesuch, 1935, begegneten sich die beiden auf der Königsberger Rennbahn. Spontan lud Heinrich von Lehndorff sie nach Preyl ein. Im August 1936, während der Olympischen Spiele in Berlin, wo Gottliebe als Hostess für die spanischen Sportler arbeitete, fing er sie buchstäblich ein, setzte sie in sein Cabrio. Ziel Steinort. Im Februar 1937 feierten sie Hochzeit in Graditz. Der befreundete Pastor, der sie traute, war Martin Niemöller, ein führender Vertreter der Bekennenden Kirche.
 
Kurz danach, am 1. Mai 1937, wurde Heinrich von Lehndorff in die NSDAP aufgenommen. Seine Biografin Antje Vollmer stellt dazu ausführliche Überlegungen an. Immerhin waren Teile des Adels, etwa ein Zweig der Familie Dohna, Anhänger Hitlers. Vielleicht trat der junge Gutsherr von Steinort – wie sein Schwager Dietrich Dönhoff – in die Partei ein, weil es für die Zukunft der Güter „nützlich und opportun“ erschien? „Wir wissen es nicht“, resümiert Vollmer.
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Die Großstädterin Gottliebe war nun „Herrin auf Steinort“. Und sie schien sich wohl zu fühlen an der Seite ihres Mannes, der so ganz eins war mit seiner Welt.  
 
Im November 1937 wurde Marie Eleonore (genannt „Nona“) geboren, im Mai 1939 Vera. Als erster sah Heinrichs jüngerer Bruder Ahasverus das Unheil kommen, er war bereits mit Hitlergegnern in Verbindung. Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde Heinrich von Lehndorff zum Einsatz befohlen. „Ohne militärische Ambitionen“, heißt es bei Antje Vollmer, diente er vorübergehend als Ordonanzoffizier bei General Fedor von Bock. Weil Gut Steinort zur Versorgung von Armee und Bevölkerung äußerst wichtig war, würde er den größten Teil des Krieges hier verbringen.
 
Und dieses Gut rückte, plötzlich und schicksalhaft, aus dem Abseits ins Zentrum der militärischen Macht.
In der „Höhle des Löwen“
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Ende 1940, in Vorbereitung des Überfalls auf die
Sowjetunion
eng. Soviet Union, deu. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз, . Совет Ушем, . Советонь Соткс, rus. Sovetskij Soûz, . Советий Союз, yid. ראַטן־פֿאַרבאַנד, yid. סאוועטן פארבאנד, yid. sovətn farband, yid. sovʿtn-farband, yid. sovətn-farband, . Советтер Союзу, . Совет Союзы, deu. Советий Союз, . Советон Цæдис, . Совет Эвилели

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.

Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.

, wurde auf Lehndorffschem Besitz, in Mauerwald, das Oberkommando des Heeres (OKH) errichtet. Und 14 Kilometer vom Schloss entfernt das Führerhauptquartier Wolfsschanze. Wolfsschanze. Die „Wolfsschanze“ wurde im Zweiten Weltkrieg errichtet und zählte zu den „Führerhauptquartieren“. Die Anlage mit Bunkern und zahlreichen Gebäuden befand sich oberirdisch, jedoch getarnt in einem Waldgebiet nahe der Stadt Rastenburg (heute Kętrzyn). Von  1941 bis 1944 hielt sich Hitler vorwiegend dort auf. Heute sind die Ruinen der Wolfsschanze, die von der Wehrmacht bei ihrem Rückzug gesprengt wurden, eine Touristenattraktion.
 
Im Juni 1941, eine Woche nach dem Überfall, fuhren vor dem Steinorter Schloss zwei Mercedes-Limousinen vor. „Ich erkannte Ribbentrop, dessen Gesicht mir durch die Zeitung bekannt war,“ erinnerte sich Gottliebe später. Joachim von Ribbentrop, Hitlers Außenminister, war auf der Suche nach einem standesgemäßen Quartier in der Nähe des Führers und des OKH. Er beschlagnahmte den linken Schlossflügel und ließ ihn für sich und seine Entourage – Gestapo-Beamte, Köchin, Sekretär, Kammerdiener – umbauen.
 
Damit lebte die Familie buchstäblich in der „Höhle des Löwen“.
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Man begegnete sich täglich. Von Ribbentrop suchte die Gesellschaft der Lehndorffs. Sich mit der schönen Gräfin und ihren Töchtern zu zeigen, schmeichelte ihm. Gern ließ er sich dabei fotografieren -  Propagandabilder, die unfreiwilligen Gastgeber spielten zum Schein mit.
 
Aus dem lebenslustigen Draufgänger Heinrich von Lehndorff wurde ein ernster Mann. Da war der Schmerz über den Tod des Bruders Ahasverus, der im August 1941 in
Estland
eng. Eestimaa, est. Eestimaa, lat. Hestonia, swe. Aistland, deu. Iste, lat. Aisti, lat. Aesti, dan. Estland, eng. Esthonia, lat. Estia, lat. Hestia, swe. Eistland, swe. Estlatum, swe. Estland, deu. Esthland, rus. Estljandija, rus. Ėstljandija, rus. Èstlândiâ, rus. Эстляндия, deu. Aestii, eng. Estland

Estland ist eine historische Landschaft in Nordosteuropa, die den nördlichen Teil des heutigen estnischen Staates umfasst. Die Region ist weitgehend deckungsgleich mit dem gleichnamigen Ostseegouvernement des Russländischen Kaiserreichs, das bis 1918 bestand - und neben Livland und Kurland eines von insgesamt drei Ostseegouvernements bildete. Im Hoch- und Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit hatten Teile der Region auch unter der Herrschaft finnischer Fürsten, der Rus, Schwedens, Dänemarks und des Deutschen Ordens gestanden. Erst im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) kam Estland unter russische Hoheit. Insbesondere seine Stadtbevölkerung war deutschsprachig, wobei die meisten Menschen auf dem Land lebten. Hier bildeten sich neben der estnischen Mehrheit auch russische und schwedische Minderheiten.

fiel. „Für Führer und Vaterland“, so die reaktionäre deutsche Adelsgenossenschaft (DAG), die den 25jährigen Hitlergegner schamlos für sich vereinnahmte. Den letzten Anstoß gab das Massaker von Borissow, wo im Oktober 1941 siebentausend Juden ermordet wurden. Heinrich von Lehndorff selbst war an der Ostfront Augenzeuge einer Gräultat gewesen. Seitdem war er fest entschlossen zum Widerstand.
 
Zurück in Steinort weihte er seine Frau ein. Ein „Doppelleben“ begann, eines nach außen hin, zur Tarnung, ein geheimes im Widerstand, im engeren Kreis um Henning von Tresckow.
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Oft beriet sich das Paar bei Ausritten. Viele konspirative Treffen fanden im Freien statt, getarnt als Kutschpartie oder Jagdausflug. Wenn führende Offiziere vom OKH Mauerwald im Schloss zu Gast waren, erregte dies kaum Argwohn, da der Reichsaußenminster hier residierte. Tresckow ging ein und aus, Schlabrendorff, Fellgiebel, von der Groeben, Axel von dem Bussche, Helmuth James von Moltke.
 
Über Heinrich von Lehndorffs Rolle wußte man bislang nur wenig. Seine Aufgabe war, weitere Unterstützer zu gewinnen, sowie Kurierdienste zwischen den beiden Zentralen des Widerstands, Stauffenberg in Berlin und Tresckow an der Ostfront. Für das Attentat auf Hitler, den Staatsstreich, der das Regime stürzen und den Krieg beenden sollte, bedurfte es vieler Verbündeter.
 
Nur die Militärs hatten noch eine Chance, sich Hitler, der sich in der „Wolfsschanze“ verkrochen hatte, zu nähern. Es war Lehndorff, der Stauffenberg, die berühmte Botschaft von Tresckows überbrachte: „Das Attentat muss erfolgen, coute que coute.“
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Während der Gutsherr unterwegs war, täuschte seine Frau im Schloss Normalität vor. Drei kleinen Töchtern – 1942 war Gabriele geboren – Geborgenheit geben, die eigene Angst im Zaum halten. Ein Leben in schier unerträglicher Spannung. In den Jahren des gemeinsamen Widerstands wuchsen Gottliebe und Heinrich zusammen.
 
Damals entstand ihre „große Liebe“. In einem Brief an Ricarda Huch, kurz nach dem Krieg, hat Gottliebe von Lehndorff davon erzählt. Dank späterer Niederschriften und eines Gesprächs, das Tochter Vera auf Tonband aufzeichnete, können wir das gefahrvolle Privatleben der Familie nacherleben: Er brennt drauf, dass es endlich geschieht. Sie bangt, wieder schwanger. Beiden ist bewußt, was auf dem Spiel steht.
 
Am 20. Juli 1944 ist Heinrich von Lehndorff unterwegs nach Königsberg, um dort, wenn das Attentat gelingt, den Umsturz zu organisieren.
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Wie verläuft dieser Tag, einer der besterforschten der Geschichte, in Steinort? Wir erfahren, wie Ribbentrops Adjutant Gottliebe mitteilt: „Unser Führer lebt, er ist unverletzt.“ Von der Rückkehr ihres Mannes und der letzten Nacht der Paares, Heinrichs Sprung aus dem Fenster, als am nächsten Morgen Gestapo anrückt.
Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944
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Von nun an wird er gejagt. Er stellt sich, um seine Frau zu schützen, kann in Berlin noch einmal entkommen. Nachts wandert er gen Norden, tags schläft er im Wald, ernährt sich von Beeren und rohem Gemüse. Vier Tage Freiheit in der Natur, ein Geschenk. Nach seiner erneuten Verhaftung ist klar, er wird sterben. Durch eigene Hand, wie viele der Verschwörer planten, oder durch den Henker.
 
Auf Umwegen hören Heinrich und Gottliebe hin und wieder voneinander. Am 23. Juli wird sie aus Schloss Steinort vertrieben, flieht nach Graditz, zu Gottliebes Vater, wo Nona, Vera und Gabriele vorsorglich untergekommen sind.3  Dort wird sie verhaftet und ins Gefängnis Torgau gebracht, bringt am 15. August ihr viertes Kind, Catharina, zur Welt. Während die drei älteren Töchter in ein geheimes Kinderlager nach Bad Sachsa gebracht werden. „Sippenhaft“, die ganze Familie gefangen!
 
Heinrich von Lehndorff wird am 4. September 1944, einen Tag nach dem Urteil des „Volksgerichtshofs“, in Plötzensee gehenkt. Am Vorabend schreibt er einen Abschiedsbrief, er wird in Antje Vollmers Buch erstmals in voller Länge veröffentlicht. „Mein Geliebtestes auf der Welt!“ beginnt er. Zehn dichtbeschriebene Seiten, ein ganz und gar unheroischer, persönlicher Rückblick.
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Ein Liebesbrief: „Sieben herrliche Jahre haben wir Seite an Seite gelebt und vor allem Herz an Herz.“ Küsse für Catharina von ihrem „unbekannten Papi“ und die ganze „heißgeliebte kleine Familie“. Felsenfest überzeugt, dass sein Handeln richtig war, werde er „aufrecht und stolz allem entgegensehen.“ Mut machen will er, Gottliebe Zuversicht einflössen für das Leben ohne ihn.
 
Inzwischen ist der bewegende Brief, als Teil der umfangreichen Quellensammlung „Lebenswelten Lehndorff“ im Internet zu finden.
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Fünfunddreißig Jahre alt war Heinrich von Lehndorff damals, Gottliebe einunddreißig. Sein letztes Lebenszeichen hat die Witwe erst Anfang 1945 erreicht. Lange trug sie den Brief bei sich, las ihn immer wieder. „Eine große Beruhigung“ während der Nachkriegs-Odyssee, die sie mit ihren Töchtern durchlebte, und später, Ende der 1940er Jahre, als sie in Schwermut versank.
 
In kurzen Zügen skizziert Antje Vollmer, wie die Familiengeschichte weiterging. Ausführlicher hat Vera Lehndorff davon erzählt: vom Leid der Mutter und dem eigenen, der Suche nach Erlösung und einem erfüllten Leben.
 
Das Lehndorffsche Schloss ist eines der ganz wenigen ostpreußischen Herrenhäuser, das überlebt hat. Sein Verfall konnte mithilfe vieler Enthuasiasten, darunter die Nachkommen von Heinrich und Gottliebe, aufgehalten werden.
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Welche Rolle es hier und heute spielen könnte, ist noch nicht ganz klar. Dabei ist Antje Vollmers „Doppelleben“ wichtig - ein historisches Fundament gewissermaßen und Aufforderung an alle Akteure zum freundschaftlichen Perspektivenwechsel.