Der Beitrag beleuchtet einige Facetten im Leben des Philosophen Ernő Gáll, der als Jude, Kommunist, und Ungar ein politisch Verfolgter und zugleich ein Täter war. Als engagierter Intellektueller vermittelte er zeitlebens zwischen politischen Fraktionen und verfeindeten Ethnien. Dabei entwickelte er eine Ethik der Würde und Verantwortung und prägte den Ausdruck „die Würde der Eigenart“, der auch für heutige Identitätsdebatten Relevanz besitzt.
Herkunft, Jugend und Ausbildung bis 1940 in Rumänien
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Die Biographie des ungarisch-jüdischen Philosophen Ernő Gáll steht beispielhaft für das (jüdische) Leid, die politischen Hoffnungen und die ideologischen Enttäuschungen einer ganzen ostmitteleuropäischen Generation, die sich nach 1945 daran machte, die ultimativ gerechte Gesellschaft auf der Erde zu errichten.1 Gáll wurde am 4. April 1917 in  in Ostungarn geboren. Er entstammte einer vermögenden ungarisch-jüdischen Familie. Sein Vater stand als Rechtsanwalt der Sozialdemokratie nahe, unterstützte aber auch kommunistische Aktivisten. 1920 gelangten weite Teile Ostungarns und somit auch Großwardein durch den Friedensschluss von Trianon Friedensschluss von Trianon Bei dem Friedenschluss von Trianon handelt es sich um einen der sogenannten Pariser Vorortverträge. Der Friedensschluss regelte die Gebietsabtretungen Ungarns, das Land verlor etwa 70% seines Staatsgebietes und 66% seiner Bevölkerung. Ungarn unterzeichnete den Vertrag unter Protest am 04. Juni 1920. zu Rumänien. Gáll besuchte das „Jüdische Lyzeum“ seiner Heimatstadt, in dem der Unterricht auf Ungarisch stattfand. Seine Großeltern führten ihn in die jüdische Religion ein, er lernte Hebräisch und feierte 1930 seine Bar Mitzwa. Inmitten der Weltwirtschaftskrise, die auch in Rumänien zu großer Arbeitslosigkeit führte, erfolgte 1931 seine Hinwendung zum Kommunismus. Sie bedeutete den Abschied vom Judentum und den Abbruch der Beziehungen zur jüdischen Gemeinde. Nach seinem 1934 (auf Rumänisch) abgelegten Abitur studierte Gáll in 
Klausenburg
ron. Cluj, hun. Kolozsvár, lat. Claudiopolis, lat. Claudianopolis

Cluj-Napoca (deutsch Klausenburg, ungarisch Kolozsvár) ist eine Großstadt im siebenbürgischen Kreis Cluj im Nordwesten Rumäniens. Sie ist mit ungefähr 324.000 Einwohner:innen die zweitgrößte Stadt Rumäniens.

 Jura. Er war Mitglied in der illegalen Jugendorganisation der Rumänischen Kommunistischen Partei und vervielfältigte in seiner Wohnung deren Flugblätter. In diesen Jahren entstand ein Netzwerk aus jüdischen, ungarischen und rumänischen Kommunisten, von dem er später mehrfach profitieren sollte. Seinen Aussagen nach befand er sich Mitte der 1930er Jahre in einem Zustand eines anationalen, kommunistischen Internationalismus, von dem er sich die Lösung aller ethnisch-nationalen Probleme erhoffte. Nach dem Jurastudium, das er aus Kostengründen als Fernstudium beendete, studierte er Philosophie. Dabei näherte er sich allmählich einigen ungarischen Kommunisten wie Edgár Balogh (1906-1996) an, die ihn auf die spezifisch ethnischen Probleme der ungarischen Bauern und Arbeiter aufmerksam machten. Unter dem Einfluss Baloghs befreite sich Gáll von seinem kommunistischen Internationalismus und entwickelte eine Empfänglichkeit für ethnische Belange. Balogh verschaffte ihm auch die Möglichkeit, in der Zeitschrift „Korunk“ („Unser Zeitalter“) zu publizieren. Sie war in der Zwischenkriegszeit das auflagen- und reichweitenstärkste kommunistische Organ im ungarischen Sprachraum, in dem Personen wie Georg Lukács publizierten. Gáll schrieb über die nationalsozialistische Gefahr und die Notwendigkeit einer Aussöhnung der mitteleuropäischen Nationen.
Im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)
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Der Zweite Weltkrieg bedeutete für Gáll eine Zeit der Verfolgung, aber auch die Erfahrung kommunistischer Solidarität. Am 30. August 1940 gelang es Ungarn, mit Unterstützung des „Dritten Reichs“ im „Zweiten Wiener Schiedsspruch“ „Zweiten Wiener Schiedsspruch“ Der Zweite Wiener Schiedsspruch beinhaltete die Abtretung von Gebieten Rumäniens an Ungarn, so zum Beispiel die nördlichen und östlichen Teile Siebenbürgens, die seit 1920 zu Rumänien gehörten und eine ungarische Bevölkerung aufwiesen. Auf rumänischer Seite wird der Schiedsspruch vom 30. August 1940 Wiener Diktat genannt. einen Teil der 1920 an Rumänien abgetretenen Gebiete zurückzuerhalten. Gáll äußerte sich Jahrzehnte später widersprüchlich über sein damaliges Verhalten: Einerseits behauptete er, zusammen mit seinen Genossen gegen den Spruch demonstriert zu haben, andererseits meinte er, dem Einmarsch des ungarischen Reichsverwesers Miklós Horthy mit Tränen in den Augen beigewohnt zu haben. Im ungarischen Nordsiebenbürgen begann eine Zeit der Juden- und Kommunistenverfolgung, der Gáll und seine Genossen nicht entgingen. Er konnte zwar 1941 sein Philosophiestudium noch beenden, doch tauchte er danach unter, um dem Schicksal vieler seiner Genossen zu entgehen, die verhaftet und ermordet wurden. Dem Einberufungsbefehl zum Arbeitsdienst, den die ungarische Regierung für die jüdischen Männer eingeführt hatte, folgte er dennoch, um seinen Eltern Probleme zu ersparen. Dort arbeitete er über zwei Jahre lang auf Baustellen und im Straßenbau. Im Herbst 1944 gelang es ihm, sich in Budapest vom Arbeitsdienst abzusetzen, doch schlug sein Versuch, in der Hauptstadt unterzutauchen, fehl. Er wurde verhaftet und nach Buchenwald transportiert, wo er auf seiner Uniform einen rot-gelben Winkel für jüdische und politische Häftlinge erhielt. Durch Mangelernährung und die harte körperliche Arbeit wurde sein Körper so geschwächt, dass er im März 1945 nur durch die internationale kommunistische Solidarität auf die Beine kam: Nachdem er von einem Klausenburger Genossen erkannt wurde, gliederte man ihn ins kommunistische Netzwerk des Lagers ein. Ein rumänischer Kommunist, der Arzt war, half, ihn zu heilen, er erhielt mehr Nahrung und knüpfte Kontakte zum kommunistischen Widerstand. Diese ideologische Solidarität in Zeiten der Not und Verfolgung prägte Gálls Denken bis in die 1980er Jahre hinein. Wiederholt rekurrierte er auf sie als auf einen Beweis, dass auch unter unmenschlichen Umständen gegenseitige Unterstützung möglich ist. Nach der Befreiung des Lagers (11. 4. 1945) kehrte er nach Rumänien zurück.
Gáll, der Stalinist
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Rumänien war 1945 von sowjetischen Truppen besetzt, so dass die Möglichkeit der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft offensichtlich war. Gáll arbeitete ab August 1945 in Klausenburg für eine ungarischsprachige kommunistische Tageszeitung, deren Chefredakteur er im Folgejahr wurde. Als solcher vertrat er bis etwa 1953/56 dogmatisch-stalinistische Positionen. 1949 wechselte er an die ungarische Universität und wurde Dozent für Marxismus-Leninismus. Gálls Stalinismus bedeutete, alles aus dem Blickwinkel der Sowjetunion und der offiziellen Lehre zu beurteilen, von der Agonie der als das Böse identifizierten kapitalistischen Welt auszugehen und lobhudelnde Artikel auf Stalin, Shdanow und allgemein die sowjetische Wissenschaft zu schreiben. Er attackierte mehrfach bekannte bürgerliche Wissenschaftler der ungarischen Universität und stellte sie an den Pranger, da sie sich die marxistische Weltanschauung (noch) nicht vollständig zu eigen gemacht hätten. Er griff ungarische Intellektuelle und Institutionen als faschistisch an und warf ihnen vor, in der Zwischenkriegszeit die Politik nicht vom Klassenstandpunkt her beurteilt zu haben. Damit trug er dazu bei, dass die von ihm angegriffenen ungarischen Minderheiteninstitutionen von den rumänischen Behörden geschlossen wurden. Jahrzehnte später sprach er selbst davon, dass ihn eine „ethnische Neutralität“ ergriffen hätte und er zum blinden Handlanger einer Ideologie geworden sei. Selbst die 1949 erfolgte Verhaftung seines alten Freundes Balogh (und einer Reihe weiterer Genossen) und den ihnen gemachten Schauprozess nahm er hin, da er davon überzeugt war, die Partei habe recht. Er habe in seinem Gedächtnis so lange nach Erklärungen gesucht, bis ihm Baloghs Verhaftung nachvollziehbar und richtig erschienen war, meinte er später. Sein Judentum spielte in dieser Lebensphase keinerlei Bedeutung: Selbst in den (wenigen) Artikeln, die er über die Lager geschrieben hat, kam jüdisches Leid kaum vor. Im Zentrum stand stets die Verfolgung der Kommunisten, deren heldenhafter Widerstand und der Kampf der Sowjetunion für die Befreiung der Völker von NS-Joch. Gálls Desillusionierung begann nach 1954 und ist auf die Freilassung seiner Freunde und ihre Berichte sowie auf den 1954 erfolgten Tod seines Mentors, eines marxistischen Literaturtheoretikers, zurückzuführen, der den Spätfolgen einer stalinistischen Hetzjagd erlag. Auch die Geheimrede Nikita Chruschtschows (1956) wurde in ungarischen Minderheitenkreisen diskutiert, doch verfolgte man auch die Gärungsprozesse im Nachbarland Ungarn mit Aufmerksamkeit. Während die rumänischen Behörden die Minderheit angesichts des ungarischen Aufstandes beruhigen wollte, bestand Gáll als Prorektor der Universität darauf, den Aufstand als eine Reaktion auf den ungarischen Stalinismus zu erklären. Gleichzeitig wirkte er beruhigend auf seine Studenten ein, damit diese den Behörden keinen Vorwand zu Repressalien bieten. Nach dem Aufstand wurde er von seinem Rektorenposten entbunden und musste Selbstkritik üben. Anfang 1957 erhielt er jedoch das Amt des Chefredakteurs der wieder ins Leben gerufenen Monatsschrift „Korunk“, die er bis zu seiner Pensionierung 1984 herausgab.
Abschied vom Dogmatismus
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Auch wenn nach 1956 die marxistische Begrifflichkeit weiterhin Gálls Denken bestimmte, sind bereits seit Anfang der 1960er Jahre in seinen Artikeln erste Zeichen einer geistigen Öffnung unverkennbar. Er rezipierte eine Reihe von Denkern, die er ein Jahrzehnt zuvor als bürgerlich und als Handlanger des Kapitalismus verdammt hätte (Saint-Exupéry, Sartre, Kierkegaard). Er betonte die Notwendigkeit des Dialogs, begrüßte reformmarxistische Strömungen (Ernst Fischer) und setzte sich zunehmend für unorthodoxe Positionen innerhalb des Marxismus ein. Durch ein DAAD-Stipendium verbrachte er 1967 einen Monat in Westdeutschland und lernte Personen wie Ralf Dahrendorf in Konstanz oder sogar Ernst Bloch kennen. Die vielen Gespräche, die er in Universitätsstädten (Konstanz, Heidelberg, Frankfurt usw.) mit Soziologen und Philosophen führte und der Besuch von Universitätsveranstaltungen am Vorabend der 1968er Bewegung zeigten ihm eine lebendige demokratische Gesprächskultur. Die Realität des westdeutschen Alltags und der Arbeitswelt verdeutlichten ihm, dass sich die westliche Welt in keiner Agonie befindet. Die Arbeiter wurden keineswegs unendlich ausgebeutet, sie konnten vielmehr an den technischen Errungenschaften ihrer Gesellschaft teilhaben. Im Gegensatz dazu erlebte die Gesellschaft Rumäniens bereits Ende der 1950er Jahre eine weitere Terrorwelle als verspätete Reaktion auf den Aufstand in Ungarn, wobei die ungarische Minderheit im Fokus der Verfolgungen und Todesurteile stand. Nicolae Ceauşescu Nicolae Ceauşescu Ceauşescu (1918-1989) wurde 1965 zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei ernannt. Nach einer Phase der Liberalisierung und Öffnung (1965-1970) konzentrierte er immer mehr Ämter auf sich und setzte auf einen Personenkult, die Unterdrückung innerparteilicher Opposition und eine wirtschaftliche Autarkie, die zur Verarmung des Landes führte. Im Zuge eines innerparteilichen Putsches, der auch auf den Straßen ausgefochten und viele Menschenleben forderte, wurde er 1989 hingerichtet. , seit 1965 der neue Mann an der Parteispitze, kopierte 1971 Maos „kulturelle Revolution“, was die Einführung einer Reihe von Restriktionen, Verboten und Gängelungen bedeutete. Die ungarische Minderheit war von diesen Maßnahmen besonders betroffen, denn unter den Verboten litten ihre Kultur und ihre Kontakte zu Ungarn. Gálls Abschied von seinen dogmatischen Ansichten war somit auf die geistigen Einflüsse westlicher Denker, die Realität des westlichen Alltags sowie die rumänische Diktatur zurückzuführen.
Auseinandersetzung mit dem Holocaust und die „Würde der Eigenart“
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Die Befreiung von der marxistischen Begrifflichkeit ermöglichte es Gáll, der an der Universität nicht mehr den Marxismus, sondern Ethik unterrichtete, die Entwicklung eigener Ansichten und Terminologie. Ins Zentrum seines Denkens rückten Begriffe wie „Würde“, „Verantwortung“, „Selbsterkenntnis“, „Verpflichtung“ und „Hoffnung“. Bereits 1974 verfasste er nach einem Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald einen viel beachteten Aufsatz, die „Ettersberger Grübeleien“. Darin fragte er, welche Ethik nach den Gräueln des Holocaust zu formulieren sei und setzte dem von den Konzentrationslagern angestrebten entfremdeten, gesichts- und würdelosen Massenmenschen einen Menschentyp entgegen, der allen widrigen Umständen seiner Zeit trotzt und auf die Bewahrung seiner Würde besteht. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre entwickelte er den Ausdruck „die Würde der Eigenart“. Damit reagierte er darauf, dass ein selbstbestimmtes Leben und die Bewahrung der ungarischen Kultur und Traditionen im sozialistischen Rumänien immer schwieriger wurden. Dabei komme der Pflege der eigenen Identität ein natur- und menschenrechtlicher Status zu, so Gáll: jedes Individuum und daher auch jede Kollektivität besitze per se das Recht, ihre Eigenarten zu bewahren. Die Würde des Menschen und die Würde der (je spezifischen) Eigenarten seien voneinander untrennbar und um die je einzelne Würde bewahren zu können, müsse man das Recht haben, alle dazu gehörenden Eigenarten (Sprache, Bräuche, Traditionen, Lebensarten usw.) pflegen zu dürfen. Mit seinem Ausdruck gab Gáll der ungarischen Minderheit eine theoretische Stütze an die Hand, die die Selbstbehauptung und den moralischen Halt der Gemeinschaft stärken sollte.
Ernő Gálls hybride Identitäten
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Gálls Biographie fasziniert wegen der Vielfalt und der Hybridität seiner Identitäten. Nach dem Abschied vom Judentum verschrieb er sich dem kommunistischen Internationalismus. Die ungarischen Behörden machten 1940 aus ihm erneut einen Juden. Dieser Zugehörigkeit konnte er auch durch eine Scheintaufe nicht entgehen. Sein Einsatz für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft hatte nach 1945 fast religiöse Züge angenommen. Ethnische oder religiöse Belange interessierten ihn in seiner stalinistischen Phase jedoch nicht. Etliche Ungarn nahmen ihn dennoch als einen Juden wahr, der als Funktionsträger der rumänischen Kommunisten im Namen des Staates gegen ungarische Institutionen agitiert. Während Gáll auf diese Weise (antisemitisch) ausgegrenzt wurde, wurde sein Denken weiterhin von einer ethnischen Gleichgültigkeit beherrscht. Er publizierte zu diesem Zeitpunkt mindestens genauso viel auf Rumänisch wie auf Ungarisch und betrachtete die Vermittlung zwischen beiden Nationen als eine seiner Hauptaufgaben. Ein Wandel stellte sich erst seit den 1970er Jahren ein. Dabei stand er als Chefredakteur der kommunistischen Traditionszeitschrift „Korunk“ im Kreuzfeuer seiner Bekannten: Während ihm seine ehemaligen jüdischen Mitschüler eine zu große Nähe zu den Ungarn, die Beschäftigung von Antisemiten, sogar die Ermöglichung von antisemitischen Artikeln durch Kollegen sowie die Verdrängung jüdischen Leids im Essay „Ettersberger Grübeleien“ vorwarfen, meinte sein alter Freund Balogh, der sein Stellvertreter in der „Korunk“-Redaktion war, er habe die Zeitschrift vor Gálls Kosmopolitismus, Modernismus und Westlertum bewahren müssen. Dabei setzte sich Gáll durch seine Arbeit als Chefredakteur von einer der sehr wenigen ungarischen Periodika für den Bestand und die Modernisierung des ungarischen Kulturlebens ein. In den 1970er Jahren gelangte er aber zu der (Selbst-)Erkenntnis, eine „Person am Rande“ mehrerer Kulturen zu sein. Schließlich galt er in den Augen des rumänischen Geheimdienstes wegen seines Engagements als Chefredakteur als „ungarischer Nationalist“: Er wurde abgehört und beschattet. Doch selbst in den finstersten Zeiten der Ceauşescu-Diktatur gab Gáll sein Bemühen nicht auf, in rumänischen Organen ungarische und mitteleuropäische Denker bekannt zu machen, um so den nationalistischen Abgrenzungen entgegenzuwirken. Allerdings verlagerte sich seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre der Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen auf ungarischsprachige Publikationen in Rumänien und Ungarn. Um 1980 begann eine weitere Entwicklung in Gálls Denken, die als vorsichtige Rückkehr zu seinen jüdischen Wurzeln zu charakterisieren ist. Das zeigte sich daran, dass er sich nicht nur (im Gegensatz zu früher) öffentlich mehrfach zu seiner jüdischen Herkunft und Erziehung äußerte, sondern er setzte sich vor allem in seinen Tagebucheintragungen und in Briefen damit auseinander. Seine wachsende Sympathie für „jüdische“ Probleme und Themen oder das Land Israel machte er also im zunehmend nationalistischen Klima der 1980er und 1990er Jahre nicht öffentlich. Sie erreichte 1991 einen Höhepunkt, als er im Sommer Israel besuchen und die Errungenschaften des Landes bewundern durfte. Zum Glauben seiner jüdischen Vorfahren fand er jedoch (im Gegensatz zu manchen seiner kommunistischen Genossen) nicht mehr zurück. Seine intellektuelle Verantwortung als Überlebender des Holocaust, als Jude und als ungarischer Intellektueller erblickte er darin, gegen die neofaschistischen Tendenzen in Rumänien wie in Ungarn seine Stimme zu erheben. Er publizierte weiterhin über die Bedeutung des Nachdenkens über den Holocaust. Kritisch setzte er sich zugleich mit seiner eigenen stalinistischen Phase auseinander und fragte sich mehrfach, wie(so) er (und seine Generation) so dogmatisch und so blind gegenüber den Ungerechtigkeiten sein konnten. Seine soziale Sensibilität bewahrte er weiterhin und in seinen letzten Lebensjahren blieb er sozialdemokratischem Gedankengut verpflichtet. Ernő Gáll starb am 17. Mai 2000.

Siehe auch