Eine Tagebuchabschrift dokumentiert die Stationen auf dem Weg von Eva S.
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Montag, d[en] 9. Juli 1945. ‚Laufen Sie bloß nicht erst nach Kohlfurt! Es hat gar keinen Zweck. Züge fahren von dort doch nicht! Wir warten schon 14 Tage auf einen Zug nach dem Westen!‘ So rieten uns die Leute, als wir früh mit unserem Gepäck nach Kohlfurt trippelten. Von allen Seiten sagte man uns dasselbe, doch wir wollten es auf alle Fälle versuchen und marschierten mutig drauf los. Unterwegs begegneten uns lauter Ostarbeiter, die wieder in ihr Land zurück mußten.1 

Biografisches Kurzportrait
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Eva S. wurde 1928 in Oberhausen im Rheinland geboren. Sie lebte zusammen mit ihren Eltern und ihrer Zwillingsschwester Gritta während des Zweiten Weltkriegs zunächst in Rostock. Als der Vater wegen seines Rheumas wehrdienstuntauglich wurde, zog die Familie nach
Radków
deu. Wünschelburg, ces. Radkov, ces. Hrádek, ces. Radek, ces. Vinšlburk

Die niederschlesische Stadt Radków liegt heute in Polen. Sie wurde vermutlich bereits vor dem Jahr 1290 gegründet. Radków hat heute knapp 9.000 Einwohner:innen.

in 
Schlesien
ces. Slezsko, eng. Silesia, pol. Śląsk

Schlesien (polnisch Śląsk, tschechisch Slezsko) ist eine historische Landschaft, die heute überwiegend im äußersten Südwesten Polens, in Teilen jedoch auch auf dem Gebiet Deutschlands und Tschechiens liegt. Mit Abstand wichtigster Fluss ist die Oder. Nach Süden wird Schlesien vor allem durch die Gebirgsketten der Sudeten und Beskiden eingegrenzt. In Schlesien leben heutzutage knapp 8 Millionen Menschen. Zu den größten Städten der Region zählen Wrocław (hist. dt. Breslau), Opole (Oppeln) und Katowice (Kattowitz). Vor 1945 gehörte die Region zweihundert Jahre lang großteils zu Preußen, vor den Schlesischen Kriegen (ab 1740) fast ebenso lange Zeit zum Habsburgerreich. Schlesien wird in Ober- und Niederschlesien eingeteilt.

. Wenige Wochen nach Kriegsende wurde Eva S. mit ihrer Familie aus Schlesien vertrieben. Teils zu Fuß, teils auf Lastwagen, mit Bussen und der Eisenbahn gelangten sie nach Bredelar im Sauerland, wo die Familie ein kleines Haus besaß. Nach dem Krieg absolvierte Eva zunächst eine Ausbildung zur keramischen Malerin und Töpferin, arbeitete jedoch später als Beamtin im Mittleren Dienst. In Duisburg lernte sie ihren Mann Peter kennen, mit dem sie bis zu seinem Tod 2008 verheiratet war.
Historischer Hintergrund
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Als die Sowjetische Armee im April 1945 Wünschelburg in Schlesien eroberte, war Eva S. gerade 17 Jahre alt. Die Bewohner wurden nach wenigen Wochen gezwungen, die Stadt zu verlassen. Innerhalb des größeren Zusammenhangs von Flucht-Vertreibung-Aussiedlung der Deutschen bei Kriegsende schildert Eva. S. in ihrem Tagebuch also den mittleren Abschnitt der Zwangsmigrationen: Vor Kriegsende waren viele Deutsche auf der Flucht vor der anrückenden Sowjetischen Armee nach Westen aufgebrochen; in den Wochen unmittelbar nach Kriegsende kam es zu oftmals gewaltsamen Vertreibungen, wie sie Eva S. dokumentiert. Ab Ende 1945 mussten die noch verbliebenen Deutschen im Rahmen von Aussiedlungen die Gebiete östlich von Oder und Neiße verlassen. Die Wege der Deutschen gen Westen kreuzten sich mit den Wegen bspw. von ehemaligen Zwangsarbeiter:innen, die in ihre Herkunftsländer zurückstrebten.
Eva S. wurde zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Gritta und ihrer Mutter sowie mit einer Bekannten (die im Text Annemie genannt wird) und deren kleiner Tochter im Juni 1945 aus Wünschelburg vertrieben, da sie bei Kriegsbeginn nicht in Schlesien gelebt hatten. Die Ereignisse in Wünschelburg nach der Eroberung durch die Sowjetische Armee und während der Vertreibung notierte Eva mit Bleistift in Sütterlin-Schrift in kleine A5 Schulhefte. Ihre Mutter schrieb diese Hefte später ab und versah sie mit kleinen Illustrationen. Die Originale sind nicht überliefert. Es lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen, inwieweit die Mutter während des Abschreibens auch eigene Sichtweisen auf die Ereignisse in den Text eingebracht hat.
Die Familie übergab die abgeschriebene Fassung dem Deutschen Tagebucharchiv (DTA) in Emmendingen bei Freiburg. Der Abschrift liegt ein Foto der Zwillingsschwestern Gritta und Eva im Alter von 17 Jahren in Wünschelburg bei. Die Vereinbarung mit dem Tagebucharchiv zur Nutzung des Bestandes sieht vor, dass im Copernico-Portal nur der Vorname mit abgekürztem Nachnamen der Autorin genannt wird.
Furcht vor der Sowjetischen Armee
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Leben im besetzten Wünschelburg
Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen mit dem 9. Mai 1945. An diesem Tag erreicht die Rote Armee Wünschelburg. Nachts wird das Haus, in dem Eva mit ihrer Mutter und Gritta lebt, geplündert. Sie schaffen es, sich aus dem Haus zu schleichen und im Krankenhaus Unterschlupf zu finden. Später kommen sie bei der befreundeten Familie Bienert unter. Ihre alte Wohnung wird nun als Fernmeldestelle genutzt. Die Angst vor Vergewaltigung ist groß, denn die sowjetischen Soldaten streifen nachts durch die Straßen und suchen nach jungen Frauen. Eva, Gritta und ihre Mutter bleiben verschont, da die Tür stabil genug ist und die Soldaten sich ein leichteres Ziel suchen. Schon zuvor im Krankenhaus kommt es zu einer ähnlichen Situation. Mehrere sowjetische Soldaten kommen in das Gebäude und teilen allen Deutschen dort mit, dass sie bis zum nächsten Morgen weg sein müssen, ansonsten würden sie anfangen die Krankenschwestern zu töten. Eva schreibt dazu: „Donnerstag, d[en] 10. Mai 1945: Als wir sie kommen hörten, zogen wir ganz schnell unsere Schals und Tücher an. […] Schals bedeuteten Krankheit und die Angst der Soldaten vor Ansteckung war groß. So versuchten wir vor Schändung verschont zu bleiben.2
Alltägliches in Nicht-Alltäglichem
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Um den 18. Juni 1945 lösen polnische Soldaten die sowjetischen ab. Eva schreibt, dass die Polen die Frauen in Ruhe lassen und in die Kirche gehen, aber deutsche Männer verprügeln. Ab dem 19. Juni werden die Mädchen zur Zwangsarbeit eingeteilt. Sie müssen im Zollhaus putzen und aufräumen, während sie von polnischen Soldaten beaufsichtigt werden. Eva beschreibt die Arbeit als anstrengend, aber auch spaßig, denn immer wieder albern sie mit den Soldaten herum oder singen ein paar Lieder. Die Arbeit wird nicht allzu stark kontrolliert, und so schwänzen die Mädchen auch das ein oder andere Mal. Generell gibt es einen fast normalen Alltag, beispielsweise finden regelmäßig Chorproben statt, an denen auch Eva teilnimmt. Einen Sonntag beschreibt Eva wie folgt: „Sonntag, d[en] 24. Juni 1945: Wir gingen zu Niesels [...] und sangen dort, während Dorle [eine Freundin, Anm.d.Red.] spielte. Danach gingen Dorle und ich die Strandbadstraße herunter spazieren und Gritta blieb noch länger bei Tschöckes und spielte Klavier.3
Über Kunzendorf nach Waldenburg
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Ab dem 26. Juni 1945 gibt es Gerüchte, dass die deutsche Bevölkerung ausgewiesen werden soll. Die Familie fürchtet getrennt zu werden, denn Gritta und Eva sind zur Arbeit eingeteilt, ihre Mutter nicht. Daher organisieren sie ihrer Mutter auch eine Arbeitsbestätigung. Allerdings erfahren sie nur zwei Tage später, dass sie Wünschelburg verlassen müssen, da sie bei Kriegsbeginn noch in Rostock und nicht in Wünschelburg gewohnt haben. Sie packen ihre Sachen und erledigen alles Notwendige, beispielsweise organisieren sie sich sowjetische Passierscheine und nehmen Abschied vom Grab des Vaters.
Am 30. Juni beginnt ihre Vertreibung per Zug über verschiedene Stationen bis in das nahe gelegene
Nowa Ruda
deu. Neurode, ces. Nová Ruda

Die Stadt Nowa Ruda liegt in Niederschlesien in Polen und ist seit 1337 schriftlich belegt. Seit dem Mittelalter überwog in Nowa Ruda die Textilproduktion, ab dem 19. Jahrhundert der Bergbau als wichtigster Wirtschaftszweig. Nowa Ruda hat heute knapp 22.000 Einwohner:innen.

. Von da aus geht es zu Fuß weiter, bis sie wieder einen Zug nehmen können. Die Nacht verbringen sie in Waldenburg.4
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„Samstag, d[en] 30. Juni: Von Neurode aus liefen wir bis
Drogosław (Nowa Ruda)
deu. Kunzendorf b. Neurode

Drogosław, erstmals 1352 urkundlich als „Cunczendorf“ erwähnt, ist heute ein Stadtteil der Stadtgemeinde Nowa Ruda.

. Das war mit der doppelten Unterwäsche, 2 Kleidern und 2 Mänteln, die wir anhatten, und mit dem schweren Gepäck sehr anstrengend. Nach kurzer Rast bei netten Leuten ging die Fahrt zum Bahnhof in Kunzendorf weiter. Nun wurde es noch anstrengender, denn es ging eine Stunde lang ganz steil die Straße herauf. Oben angelangt, mußten wir lange warten, bis der Zug kam. Es waren sehr viele Russen da, darunter schreckliche Typen. Endlich ging die Fahrt von Zentnerbrunn aus weiter. Kurz vor Waldenburg mußten wir wieder aussteigen und bis Waldenburg über eine zerstörte Brücke laufen. Als ich mal alleine auf das Gepäck aufpassen mußte, stellten sich drei unheimlich aussehende Russen um mich, die mich von allen Seiten beschnüffelten. Ich war froh, als Mutti wiederkam! Nun liegen wir hier in Waldenburg in der Schule, wo wir übernachten, und ich kann überhaupt nichts mehr sehen, so dunkel ist es! Diesen Tag muß ich aber unbedingt noch fest halten! Glück auf zur weiteren Flucht! Gute Nacht!
5
Erzwungene Unterbrechung in Greifenberg wegen Krankheit
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Am 1. Juli 1945 nehmen sie einen Zug bis
Hirschberg
eng. Jelenia Góra

Die niederschlesische Stadt Hirschberg, heute polnisch Jelenia Góra, liegt am Fluss Bober im Hirschberger Tal am Fuß des Riesengebirges. Im Mittelalter ein wichtiges Handelszentrum, etablierten sich ab dem 16. Jahrhundert zunächst die Weberei, später weitere Industriezweige. Mit dem Eisenbahnanschluss 1866 wurden Hirschberg und das umliegende Tal zudem ein beliebtes touristisches Reiseziel.

und beginnen einen 48km langen Fußmarsch nach
Lauban

Die heute polnische Stadt Lubań wurde 1268 erstmals urkundlich erwähnt. Zunächst zur böhmischen Oberlausitz gehörig, fiel Lauban 1635 an das Kurfürstentum Sachsen, 1815 an Preußen. Es hat heute knapp 21.000 Einwohner:innen.

. Als sie an einer Hecke vorbeilaufen, werden sie von einem Bienenschwarm angegriffen. Aufgrund der vielen Stiche bekommt Gritta Fieber und sie verbringen zwei Nächte in
Lauban

Die heute polnische Stadt Lubań wurde 1268 erstmals urkundlich erwähnt. Zunächst zur böhmischen Oberlausitz gehörig, fiel Lauban 1635 an das Kurfürstentum Sachsen, 1815 an Preußen. Es hat heute knapp 21.000 Einwohner:innen.

im evangelischen Pfarrhaus. Am 3. Juli geht es zu Fuß weiter nach
Chmieleń
deu. Langwasser

Chmieleń ist ein Dorf in Niederschlesien mit rund 560 Einwohner:innen.

, wo sie bei einer Frau auf dem Boden schlafen dürfen. Am nächsten Tag kommen sie bis
Gryfów Śląski
deu. Greiffenberg

Die Stadt Gryfów Śląski liegt in Niederschlesien an der Grenze zur Oberlausitz. Als Greiffenberg wurde sie vor 1354 gegründet, dem Jahr, in dem sie ein erstes Stadtprivileg erhielt. Gryfów Śląski hat heute ca. 6.500 Einwohner:innen.

und finden bei zwei Frauen ein Quartier, da die Flüchtlingsunterkunft überfüllt ist. Dort verbringen sie abermals einen Tag länger, da Gritta wieder Fieber bekommt.
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Donnerstag, d[en] 5. Juli 1945: Da Gritta gestern abend [sic!] wieder Fieber bekam, blieben wir heute auch noch hier. Gritta lag den ganzen Tag zu Bett. Mutti, Annemie [die Bekannte, Anm.d.Red.] und ich gingen in die Stadt, um einzukaufen. Im ,Bürgerstübel‘ bekamen wir auf einen Bon, den wir uns im Flüchtlingslager geholt hatten, eine gute Gemüsesuppe. Mutti und Annemie gingen nachmittags zum Friseur.6

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Am 6. geht es weiter Richtung Lauban. Die Zerstörung durch den Krieg wird sichtbarer. Sie übernachten in einem Flüchtlingslager in Lauban.
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Freitag, d[en] 6. Juli 1945: Als wir heute früh loswanderten, meinte Mutti: ‚Von jetzt ab kommen wir in´s Kampfgebiet.‘ Das sahen wir auch bald, je mehr wir uns Lauban näherten. An Häusern, die vereinzelt an der Landstraße standen, war der Dachstuhl abgerissen, die Fensterscheiben heraus, und Telegraphendrähte hingen zerfetzt herunter.7

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Von Lauban geht es weiter in Richtung
Kohlfurt

Die Stadt Węgliniec liegt im polnischen Teil der Oberlausitz und hat heute ca. 3.000 Einwohner:innen. Sie entstand ab 1502 um ein Hammerwerk und entwickelte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Knotenpunkt im Eisenbahnnetz.

. Sie sehen abgeschossene Panzer und abgestürzte Flugzeuge. Die kleine Gruppe wird von einem polnischen Soldaten kontrolliert, der sich ihre Passierscheine zeigen lässt. Sie haben Angst, dass er die Dokumente nicht zurück gibt. Ohne die Passierscheine könnten sie verhaftet werden, aber es geht alles gut. Vor Kohlfurt bekommen sie zu hören, dass man vergeblich auf Züge warten würde. Aber sie haben Glück und bekommen einen Zug, der, über mehrere Stationen, nach Dresden fährt.
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„Montag, d[en] 9. Juli 1945. ‚Laufen Sie bloß nicht erst nach Kohlfurt! Es hat garkeinen Zweck. Züge fahren von dort doch nicht! Wir warten schon 14 Tage auf einen Zug nach dem Westen!‘ So rieten uns die Leute, als wir früh mit unserem Gepäck nach Kohlfurt trippelten. Von allen Seiten sagte man uns dasselbe, doch wir wollten es auf alle Fälle versuchen und marschierten mutig drauf los. Unterwegs begegneten uns lauter Ostarbeiter, die wieder in ihr Land zurück mußten. Da hatten wir wieder Angst um unsere paar Habseligkeiten, doch wir hatten, toi-toi-toi, mal wieder Glück! Auf der Landstraße fanden wir der Reihe nach jeder einen Glückspfennig!!! Zu Kohlfurt angelangt, begegnete uns ein Herr, der uns zurief: ‚Gehen Sie schnell zum Bahnhof, es steht gerade ein Zug nach dem Westen zur Abfahrt!‘ Wir rasten zum Bahnhof, der von Russen wimmelte und schlängelten uns zwischen den Gleisen durch zu den Zügen. Es standen mehrere dort. Durch viele Fragen erfuhren wir, mit welchem Zuge wir fahren konnten. Es war ein russischer Militärtransportzug. Mit großer Mühe und vielen Umständen kletterten wir mit Kinder- und Handwagen auf den Tender der Lokomotive. Wie wir heraufgekommen sind, wissen wir selber nicht mehr, so schnell mußte alles gehen. Eine Russin in Uniform stand mit einem gelben Fähnchen daneben und schimpfte: ‚Schnääll! Schnääll! [sic!] Alles unten lassen! Zug abfahren!!‘ ‚Wir müssen aber rauf, wir haben unser Gepäck schon oben!‘[,] riefen wir, warfen noch schnell unsere Taschen und Rucksäcke nach oben auf den Tender, wo hilfsbereit ein paar deutsche Soldaten, Breslaukämpfer, unsere Sachen in Empfang nahmen und uns nach und nach heraufzogen, nachdem wir halb herauf geklettert waren. Oben hockten wir zwischen deutschen und russischen Soldaten. Plötzlich stieß die Lokomotive einen schrillen Pfiff aus und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. In diesem Augenblick dankten wir alle Gott, daß  es so gut geklappt hatte! Wir haben unsere Glückspfennige nicht umsonst gefunden!  Man könnte bald abergläubisch werden!8
Quartier in Aue/Sachsen, Musik und Kino
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Auch in Dresden bekommen sie, wie schon an vielen ihrer vorherigen Stationen, eine Übernachtungsmöglichkeit bei einer hilfsbereiten Anwohnerin. Frau Zahn öffnet sogar ein Glas Kirschen für die Reisenden. Sie verbringen zwei Tage bei ihr in Dresden bevor sie mit dem Zug über Zwönitz (im Text als „Zwödnitz“) nach Aue weiterfahren. In Aue bleiben sie wieder für zwei Tage und haben Zeit zu musizieren und ins Kino zu gehen.
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„Freitag, d[en] 13. Juli 1945: In Aue bekamen wir in einem wunderschönen Schlößchen Quartier, auf einem Berg, inmitten schöner Parkanlagen, umgeben von einer Burgmauer. Das ganze wirkte so romantisch, weil [es] etwas verwildert [war]. Annemie und ich gingen an dem schönen Sommerabend dort spazieren. Dann tummelten wir vor dem Haus in den Anlagen herum und entdeckten ein besonders schönes Plätzchen, eine Bank umgeben von den schönsten Rosen und davor ein kleiner Springbrunnen. Dazu die Abendröte und der schöne Blick in die Anlagen! Gritta und ich holten unsere Flöten und spielten Mozart. Es war eine wunderschöne, friedliche Stimmung! Annemie war so dankbar für das Flötenspiel. Der friedliche Abend hat uns wohlgetan.9
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Sonntag, d[en] 15. Juli 1945: Gestern haben wir lange geschlafen und einen Stadtbummel gemacht. - Heute sind wir um 12 Uhr zum Mittagessen in ein Hotel gegangen. Der Ober war so nett und gab uns 2x Mittagessen für 1x Markenabgabe. - Annemie, Gritta und ich gingen um 3 Uhr in´s Kino: ,Die Sache mit Styx‘[,] ein Krimi mit Victor de Koroa [sic!]. - Aue ist ein nettes Städtchen und hat vom Kriege nichts gespürt. Die Leute gehen gut gekleidet, und sie tragen sogar Schmuck! Russen sehen wir wenig, fast nur Offiziere.10

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Von Aue geht es nach Zwickau, wo sie Glück haben, dass sie die Nacht im Zug verbringen dürfen, da es ein schlimmes Gewitter gibt. Eva fällt auf, dass die Amerikaner dort gewesen sein müssen, da überall Plakate in englischer Sprache hängen. Von Zwickau fahren sie über Weimar und Erfurt bis nach Gotha und verbringen dort die Nacht in einer umfunktionierten Schule. Am Morgen des 18. Juli geht es weiter nach Mühlhausen, wo sie Verwandte haben und bei diesen unterkommen. Sie können seit langem wieder in richtigen Betten schlafen. Außerdem gibt es Bratkartoffeln mit Rührei. Sie bleiben fast zwei Wochen bis Ende Juli bei der Verwandtschaft und Eva notiert nicht jeden Tag etwas in ihr Tagebuch. Sie genießen die Normalität, die sich ihnen bietet.
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Sonntag, d[en] 22. Juli 1945: Gestern haben wir uns einen gemütlichen Tag gemacht, viel geschlafen und nachmittags gewaschen und gebügelt. - Um ½ 9 sind Mutti, Annemie und ich heute in die Kirche gegangen. […] Annemie und ich gingen dann zum Thuringa-Plalatius [?] Konzert. Ein Trio spielte klassische Musik. Zwischendurch wurde aus Goethes und Schillers Werken rezitiert. Es war ein wertvolles Programm. […] [U]nd dann [haben wir] Kaffee mit Kuchen geschlemmt. Dann haben wir Mühle gespielt.
Montag, d[en] 23. Juli bis Donnerstag, d[en] 26. Juli 1945: Wäsche gewaschen, beim Friseur Kopfwäsche und zuhause geblieben.
Freitag, d[en] 27. Juli 1945: Mit Annemie in´s Kino gegangen: ,Das Herz muß schweigen‘ mit Paula Wessely. - Am Abend die ersten Amerikaner im offenen Auto vorüber flitzen und das erste englische Auto gesehen.
Sonntag, d[en] 28. Juli 1945: Annemie, Gritta und ich haben einen Stadtbummel gemacht und haben im Café Eis gegessen!!!11
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Von Mühlhausen aus machen sie einen Ausflug und besuchen Verwandte eines Onkels in Heyerode, nahe der hessisch-thüringischen Grenze. In diesem Eintrag wird deutlich, dass die Familie in die Westzonen will und sich Gedanken macht, wie ihnen der Grenzübertritt gelingen könnte.
„Freitag, d[en] 20. Juli 1945: Mutti, Gritta und ich sind heute um 9 Uhr mit dem Zuge nach Heyerode zu Onkel K. Zengerling´s Verwandten gefahren. Dort erfuhren wir vieles über die Wittener, mit denen wir seit langem keine Postverbindung mehr gehabt hatten. Dann meinte unser Gastgeber, der Bürgermeister, daß die Engländer wohl bald die Russen in diesem Gebiet als Besatzung ablösen würden. Für uns könnte es natürlich nichts Besseres geben. Bleibt der Russe, der die Grenze zum Westen gesperrt hält, hier, dann müssen wir es wagen die ,grüne Grenze‘ zu passieren.12
Grenzposten bestechen
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Am 31. Juli 1945 brechen sie von Mühlhausen mit dem Zug nach Arenshausen an der Leine auf. Die Fahrkarten haben ihnen ortsansässige Frauen gekauft, da nur lokale Bürger zum Kauf berechtigt sind. In Heiligenstadt fährt der Zug nicht weiter, weswegen sie die restlichen 12 Kilometer laufen. In Arenshausen versuchen sie mehrmals vergeblich über die Grenze zu gelangen, bis sie es durch Bestechung des Postens doch schaffen.
„Dienstag, d[en] 31. Juli 1945: […] Zu Ahrenshausen [sic!] gingen wir zuerst zum Bahnhof und ruhten uns aus. Dort saßen viele, die vergeblich versucht hatten, über die Grenze zu kommen. Manche Frauen erzählten Schauergeschichten, daß einem schlecht werden konnte. Einige hatten versucht abends über die Grenze zu gehen, wurden von den Russen in den Wald getrieben, vergewaltigt und wieder zurückgejagt. Anderen wurde alles abgenommen. Jeder wußte etwas anderes zu erzählen. Als wir eine Zeitlang gesessen hatten, kam eine Dame auf uns zu und meinte: ,Versuchen Sie doch jetzt mal rüberzukommen. Ich war gerade an der Grenze. Der Posten, der jetzt Wache hält, scheint mit sich reden zu lassen. Sie müssen sich beeilen, bevor er abgelöst wird! Möglichst einzeln Ihr Glück versuchen!‘ Wir fünf machten uns sofort auf den Weg. Es lag für uns eine Spannung in der Luft, wie sie nicht größer hätte sein können! - […] Nun waren wir vor der Brücke angelangt, auf der der Posten mit aufgepflanztem Bajonett auf und ab ging. Viermal nahmen wir einen ergebnislosen Anlauf, dann opferte Annemie eine goldene Armbanduhr zur Bestechung – und wir waren über die Grenze! Drüben fielen wir uns jubelnd in die Arme vor lauter Glück!13
Text
Nach dem Grenzübertritt erreichen Eva, Gritta und ihre Mutter am 3. August 1945 ihr kleines Haus in Bredelar in Nordrhein-Westfalen, welches sie sich mit Verwandten teilten, die ebenfalls dorthin gekommen waren. In Kassel hatten sie sich von ihrer Bekannten Annemie und deren Tochter getrennt, die nach Mainz weiterzogen. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Bredelar wurden Eva und Gritta in einem Schulinternat in Menden bei Iserlohn aufgenommen.
Die unterschiedlichen Erfahrungen, die Flüchtlinge und Vertriebene in den Ankunftsregionen machten, sind mittlerweile ein eigener Forschungsgegenstand geworden, etwa in dem Band von Philipp Ther über Flucht, Flüchtlinge und Integration.14
Quellen:
Deutsches Tagebucharchiv, Signatur 4372, Eva S.; Vertreibung aus Wünschelburg 1945. Material der Kartensammlung des Herder-Instituts
Bearbeitung:
Quellenauswahl und Analyse: Johanna Michaela Stevanin
Kartenmontage: Laura Gockert
Redaktion: Christian Lotz
Text
Dieser Beitrag stammt aus der Serie: „Zwangsmigration: Menschen und ihre Fluchtwege

Siehe auch