Dann ab - es ist halb 6 Uhr abends, 15 Grad Kälte und wenig Schnee. Hell leuchtet der Mond, knarrend fährt der Wagen durchs Tor. Kleine Häufchen Polen stehen auf der Strasse, aber sie sagen kein Wort.1
Der Reichsgau Wartheland, auch bekannt als Warthegau, war ein nationalsozialistischer Verwaltungsbezirk im besetzten Polen, der von 1939 bis 1945 bestand. Der Reichsgau war in größeren Teilen deckungsgleich mit der historischen Landschaft Großpolen und hatte 4,5 Millionen Einwohner:innen. Hauptstadt war das heutige Poznań, dt. Posen.
Die fast sechsjährige Besatzungszeit war geprägt durch die brutale Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung einerseits und der gezielten Neuansiedlung deutschsprachiger Bevölkerungsteile andererseits.
Bild: „Karte der Verwaltungseinteilung der deutschen Ostgebiete und des Generalgouvernements der besetzten polnischen Gebiete nach dem Stand vom März 1940“, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Kartensammlung, Inv.-Nr. K 32 II L 43. bearbeitet von Copernico (2022). CC0 1.0.
Ein Teil des Nachlasses der Familie von Campenhausen wird in der Dokumentensammlung des Herder-Instituts aufbewahrt. Dazu gehört ein 19-seitiger maschinenschriftlicher Bericht über die Flucht. Irmela von Manteuffel gibt im Bericht Auskunft über dessen Entstehung: Auf der Grundlage von handschriftlichen Notizen verfasste sie den Bericht Anfang März 1945, als sie in Hessen angekommen waren (vgl. Eintrag über den Zeitraum vom 1. bis 9. März 1945). Da die ursprünglichen Notizen nicht überliefert sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob Irmela von Manteuffel möglicherweise nachträglich in den Inhalt des Berichts eingegriffen hat. Daneben sind mehrere Briefe und Postkarten von Adline von Campenhausen und ihren Verwandten überliefert, die vor, während und nach der Flucht verschickt wurden.
Wann u[nd] wie bricht der Friede aus?? Oder stampft der Krieg erst noch durch ganz D[eu]t[schland] kreuz u[nd] quer?2
Ende 1944 rückte die Rote Armee auf das Wartheland vor und die Unruhe unter der deutschen Bevölkerung wuchs: Gehen oder bleiben, und falls letzteres, wie sollte man den Betrieb der Gutswirtschaft aufrechthalten und zugleich mit der drohenden Eroberung umgehen? Am 2. Januar 1945 schrieb Adline von Campenhausen an Cousine Hennerijette [Henriette] von Campenhausen: „Doch kann ich mir nicht denken, daß ich unser Haus den Frühling über von Einquartierung frei halten können werde. Von Balthasar u[nd] Remb[.]t ganz abgesehen. Susi schweigt übrigens seit ihrem Alarmbrief [fol. 18r] in allen Tonarten. Wie schon manche vor ihr. Mit dieser Treckpanik rechne ich schon. | Ich war am 30./31. [Dezember?] in Schachau: Baron Rapp [?] findet alles halbsowild u[nd] meint eigentlich, die Treuhand müsse gut sein für uns. Ich solle nur Deputat [?] u[nd] Geldentnahme vorsorglich festlegen. Dabei denk ich auch an den Fall Eurer Ausbombarkeit [sic!].“3
„26. Januar 1945 […] wir wollen versuchen[,] heute noch über die Oderbrücke in Frankfurt zu kommen. Um 14 Uhr 30 Min. sind wir schon in Kunersdorf (30 km), von wo es nur noch 5 km bis Frankfurt sind. Die Strassen sind voll Militär, das westwärts strebt. [...] wir fahren nach Kunersdorf hinein. [...] Es heisst die Oderbrücke in Frankfurt sei gesperrt, die Trecks würden über Küstrin geleitet. Das bedeutet fast 60 km Umweg für uns, bei dem Schneesturm und [Pferd] ‚Noras‘ leider schlechtem Zustand, ziemlich unmöglich für uns. [...] die Russen scheinen näher zu kommen. Wo man hinschaut, wird gepackt.“
Kartenmaterial des Herder-Instituts
Kartenmontagen: Laura Gockert