Schon im 19. Jahrhundert waren die Puschkes Lehrer in Steinort und im benachbarten Kirchort Rosengarten. Sie spielten im Dorfleben eine wichtige Rolle und hatten enge Verbindungen zur Grafenfamilie Lehndorff. Die letzte der Lehrerdynastie war Eva Puschke, von 1940 bis 1944 „Laienlehrerin“ in Rosengarten. Nach der Vertreibung lebte sie in Hamburg. Sie hat einen Koffer voller Familiendokumente hinterlassen.
Auf den Spuren von „Tante Eia“ aus Rosengarten
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Nach dem Tod von Tante Eva – Kosename „Eia“ – im Jahr 2011 stand der Koffer aus robustem Rindsleder im Schlafzimmer von Christiane Puschke. Sie und ihre Schwester Eva-Maria hatten ihn bisher nicht geöffnet. Sie wussten nur, dass die Tante ihn bei der Flucht aus
Ostpreußen
eng. East Prussia, pol. Prusy Wschodnie, lit. Rytų Prūsija, rus. Восто́чная Пру́ссия, rus. Vostóchnaia Prússiia

Ostpreußen ist der Name der ehemaligen, bis 1945 bestehenden östlichsten preußischen Provinz, deren Ausdehnung (ungeachtet historisch leicht wechselnder Grenzverläufe) ungefähr der historischen Landschaft Preußen entspricht. Die Bezeichnung kam erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gebrauch, als neben dem 1701 zum Königreich erhobenen Herzogtum Preußen mit seiner Hauptstadt Königsberg weitere, zuvor polnische Gebiete im Westen (beispielsweise das sog. Preußen Königlichen Anteils mit dem Ermland und Pommerellen) zu Brandenburg-Preußen kamen und die neue Provinz Westpreußen bildeten.
Heutzutage gehört das Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz überwiegend zu Russland (Oblast Kaliningrad) und Polen (Woiwodschaft Ermland-Masuren). Das ehemalige sog. Memelland (auch Memelgebiet, lit. Klaipėdos kraštas) kam erstmals 1920 und erneut ab 1945 zu Litauen.

dabeihatte.
 
An einem Novembertag liegt das Köfferchen auf dem Wohnzimmertisch in Hannover.1  Gespannte Stille, die Schlösser schnappen auf. Kunstseidenfutter in kräftigem Violett. Als erstes fällt das Gesangbuch ins Auge, und ein weißer Schlüpfer, in den etwas eingewickelt ist.
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Dinge, die noch aus
Radzieje
deu. Rosengarten

Radzieje, 1417 als „Rosengarten“ gegründet, ist ein Kirchdorf in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren. Radzieje hatte im Jahr 2006 noch 510 Einwohner:innen.

stammen: religiöse Bücher, Familienfotos, wohl auch das gehäkelte Täschchen. Andere aus der Zeit nach 1945: Briefe und Traueranzeigen, Dokumente, dazwischen gepresste Blüten. „Eia war schon in Ostpreußen eine Kräutersammlerin.“ Den Nichten kommt Manches vertraut vor, denn das frühere Zuhause war in der Familie Puschke durch viele reich ausgeschmückte Erzählungen präsent. Christiane ist noch dort geboren, im Jahr 1942, Eva-Maria 1945 in Schleswig-Holstein. 
 
Sie erzählen im Duett. „Schau, das Schulhaus!“ – „Das stand unterhalb der Kirche.“ Mühelos können sie Orte und Menschen auf den Fotos identifizieren. „Unser Opa!“ Evas Vater Heinrich Richard Puschke, der langjährige Rektor der Schule. „Unsere Omi Gertrud.“ Evas älterer Bruder Hans, „unser Vater, als Theologiestudent.“ An der familiären Kaffeetafel entdecken sie fremde Gesichter: „Das müssen die Junglehrer sein.“ 
 
Und immer wieder „Tante Eia“ als junge Frau. Hübsch, oft burschikos.
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Eva Puschke, geboren 1911, von Beruf Krankenschwester. So haben sie ihre Nichten nach dem Krieg erlebt: in weißer Tracht, als eine, die ganz in ihrer Arbeit aufging. Jetzt lesen sie staunend: „In den Jahren 1940 bis 44 war ich als Laienlehrkraft tätig“, steht da, in einer Bewerbung für die Krankenpflegeschule Osnabrück, anno 1949.
 
Lehrerin? Ob sie freiwillig in die Fußstapfen ihres Vaters trat? Oder unter dem Druck der Zeitumstände? Die Junglehrer waren an der Front, also wurden Frauen dienstverpflichtet. Wer wäre dafür geeigneter als eine Lehrertochter?
Eine masurische Lehrerdynastie
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Ihre Vorgänger im Lehramt sind allesamt aktenkundig. Die Reihe beginnt mit Friedrich August Puschke, geboren 1811, aufgestiegen aus dem Milieu besitzloser Landarbeiter im Dienst der Lehndorffs. Und blieb trotzdem ein armer Schlucker: Er könne seine Familie von seinem Lehrergehalt und der kleinen Feldwirtschaft kaum ernähren, schrieb er 1854 in einem langen Brief an den „hochgeborenen Grafen“ Carl Meinhard Graf von Lehndorff.
 
Sein jüngster Sohn Richard Franz Puschke folgte ihm an der Dorfschule in
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

nach. Ein geschichtsbegeisterter Mann, der zum gräflichen Archiv Zugang hatte und 45 Jahre lang die Dorfjugend für Heimatkunde begeisterte – und für das Adelsschloss.2
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Ab 1920 setzte dessen Sohn Richard Alexander seine Arbeit fort. Dieser wiederum ist ein Vetter von Heinrich Richard Puschke, Lehrer und Rektor in Rosengarten – Eva Puschkes Vater, der Großvater von Christiane und Eva-Maria.
 
Mit seiner Pensionierung 1938, so glaubte man bislang, endete die Lehrerdynastie. Der Kofferfund ist eine kleine Familiensensation: Nicht er war der letzte, sondern seine Tochter Eva. Eine Frau!
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Eigentlich war sie gelernte Schwesternhelferin. Sie hat die Rolle als Laienlehrerin, die ihr 1940 zufiel, gut bewältigt, vermutet Eva-Maria Puschke. „Die Tante spielte Schifferklavier und Geige.“ Musikalisch und sportlich, heimatkundlich bewandert, wie sie war, dürften ihr die Herzen der Dorfkinder zugeflogen sein. „Als Ratgeber hatte sie ihren Vater“, den Rektor im Ruhestand.
 
In den Erzählungen der Nichten wird das Rosengartener Lehrerhaus lebendig. „Unser Opa war wie alle Puschkes ein großer Jäger.“ Ein echter Masure, der jagte und fischte, eine Familie, die Seen und Wälder über alles liebte. Musik war wichtig, Humor und die „typisch ostpreußische Rührseligkeit“. Heißer Grog unter Männern, Skatrunden, bei denen „Wippchen“ und derbe Witze erzählt wurden – Rituale, die die Vertreibung überdauerten.
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Rosengarten lebte in der Hamburger Kindheit der Nichten weiter. Auch die Erinnerung an die Grafenfamilie Lehndorff. „Gottliebe“, der Name der letzten Herrin von Steinort, ist Eva-Maria und Christiane seit Kindertagen im Ohr, vor allem durch Tante Eias wunderbare Erzählungen.
 
Den Puschkes sei früher als anderen klar gewesen, dass Hitlers Krieg verloren war. „Unser Vater war Mitglied der Bekennenden Kirche.“ Hans Puschke, Evas älterer Bruder, war seit 1936, nach mehrfacher Strafversetzung, Pfarrer in Nemmersdorf. Im letzten Kriegswinter war seine Frau Käthe mit dem sechsten Kind schwanger, mit Eva-Maria.
Flucht und Neubeginn in Hamburg
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In Rosengarten war man ab Herbst 1944 auf das Kommende vorbereitet. Eva Puschke und ihre Mutter Gertrud hatten für die Flucht einen stabilen Handwagen gebaut, um den schwachen, kranken Heinrich Richard zu transportieren. Doch der Tod war schneller – im Dezember fand man ihn im Wald. Bei einem Jagdausflug war er ins Koma gefallen und verstarb kurz darauf Zuhause.
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Mitte Januar 1945, bei Eiseskälte, brachen Eva und ihre Mutter auf. „Sie sind mit dem Zug gefahren, später mit dem Schiff.“ Den Rest haben die Nichten vergessen, bis auf den Satz ihrer Oma Gertrud: „Eva hat sich das Gesicht schwarz gemacht.“ Um sich vor Vergewaltigungen durch russische Soldaten zu schützen.
 
Von ihrer eigenen Flucht sind Christiane Puschke nur wenige verschwommene Bilder geblieben. Ein von einem Trecker gezogener Anhänger voller Kinder, sie, damals zweieinhalb, ihre älteren Geschwister und Mutter Käthe, Tante Grete mit ihren Kindern.
 
Beide Puschke-Familien überlebten und fanden in Norddeutschland wieder zusammen. Ihr Fluchtkoffer begleitete Eva weiter durchs Leben, wurde später zum Archiv. Dokumentiert sind die Entnazifizierung, Notquartiere, Arbeitssuche, alles zu entziffern wird Monate dauern.
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Nach Kriegsende schlug sich Eva Puschke mit schwerer körperlicher Arbeit in einem Dorf bei Brandenburg durch, landete dann in Osnabrück, erkämpfte sich dort einen Platz an der Krankenpflegeschule, während ihr Bruder Hans bald wieder als Pfarrer Fuß fasste. In Hamburg fanden alle schließlich zusammen: Das Pfarrhaus von St. Stephan in Wandsbek wurde Lebensmittelpunkt für die achtköpfige Familie, die Witwe Gertrud Puschke und für Eva, die in der Nähe wohnte und häufig zu Besuch kam. Sie gehörte selbstverständlich zur Familie.
 
Für die heranwachsenden Nichten war die alleinstehende, berufstätige Tante eine Art Vorbild. „Eia war ganz anders als unsere Mutter“. Unkonventionell und witzig, sie hatte ihren eigenen Kopf, rauchte Zigarillos, fuhr Auto, was für eine Frau ziemlich unüblich war.
 
Im Laufe ihres Lebens, erzählen die Nichten, seien die Beziehungen zu „Tante Eia“ noch enger geworden.
Zwei Mal Rosengarten
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Als sich nach den Ostverträgen das Tor zur alten Heimat öffnete, fuhren sie zu dritt los. 1978 zeigte die Tante den Nichten ihr Rosengarten und die schöne Natur Masurens. Auch in Steinort machten die Frauen Station. „Eia radebrechte auf Polnisch“, bewegte sich wie selbstverständlich durchs Land. Kommunismus, Mangelwirtschaft, unbequeme Quartiere schienen sie nicht zu schrecken. Siebenundsechzig war sie damals, schon Rentnerin.
 
Eva verbrachte immer mehr Zeit auf dem Fleckchen Erde, das sie „Rosengarten“ nannte. Vor vielen Jahren hatte sie das verwilderte Grundstück bei Haffkrug, in der Lübecker Bucht, gepachtet. Dazu ein Zimmer, mit Bett und Zweiplattenherd, Plumpsklo vor der Tür. Schon im März fuhr sie mit ihrem VW Golf dorthin, pflanzte und hegte ihre Kartoffeln, Kürbisse und Gurken, Erdbeeren, Rosen natürlich.
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Finanziell war Eva Puschke nicht gerade auf Rosen gebettet. Im Koffer hat sie Kontoauszüge der Sparkasse in Angerburg aufbewahrt, Notizen über monatliche Ausgaben. Ein Reiskochbuch, eine Anleitung für die sparsame Küche.
 
„Einmal im Leben hatte sie richtig Geld.“ Die Nichten erinnern sich, als wäre es gestern gewesen. „Da hat Eia 77 000 DM im Lotto gewonnen.“ Mitte der 1980er Jahre war das. Einen Teil ihres plötzlichen Reichtums hat sie den Nichten und Neffen geschenkt.
 
Heute würden Eva-Maria und Christiane Puschke die Tante gern noch Vieles fragen: Bist Du mal im Schloss der Lehndorffs gewesen? Und hast mit Gottliebe gesprochen? Hast Du Dich mit deinem Bruder Hans gestritten? War Dein Vater als Rektor streng oder nachgiebig?
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Ihr Koffer ist voller Überraschungen. Die größte: ein Brief von Gottliebe Gräfin Lehndorff, abgesendet aus Bremen-Vegesack. „Liebes Frl. Puschke“, schreibt sie am 4. Januar 1947, „leider komme ich erst jetzt dazu, Ihnen auf Ihren Brief vom 17.10. zu antworten.“ Der Ton lässt darauf schließen, dass die beiden sich aus der alten Heimat kannten. „Ihnen und Ihrer Mutter und ihren Geschwistern möchte ich nun erstmal nachträglich ein recht gesundes, neues Jahr wünschen.“
 
Wie aus dem Brief hervorgeht, hatte sich Eva Puschke als Hauslehrerin für die vier Lehndorff-Töchter beworben. „Die Kinder lernen in der Schule absolut gar nichts, da sie zu voll ist und kein Unterrichtsmaterial vorhanden. Ich rechne im Stillen mit Ihnen und baue meine Pläne damit auf.“
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Nachdem der Kauf eines 500 Hektar großen Hofes gescheitert sei, suche sie nach einer neuen Gelegenheit. Der Brief gibt Einblick in das private Leben der gräflichen Familie und hat inzwischen Eingang in die digitale Quellensammlung „Lebenswelten Lehndorff“ gefunden.
 
Noch einmal haben sich die Wege der Lehndorffs und der Puschkes gekreuzt. Warum aus der Verabredung nichts wurde, wissen wir nicht. Hätte Eva die Stelle als Hauslehrerin angenommen, wäre sie vielleicht auch als Lehrerin glücklich geworden?