Ostpreußen ist der Name der ehemaligen, bis 1945 bestehenden östlichsten preußischen Provinz, deren Ausdehnung (ungeachtet historisch leicht wechselnder Grenzverläufe) ungefähr der historischen Landschaft Preußen entspricht. Die Bezeichnung kam erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gebrauch, als neben dem 1701 zum Königreich erhobenen Herzogtum Preußen mit seiner Hauptstadt Königsberg weitere, zuvor polnische Gebiete im Westen (beispielsweise das sog. Preußen Königlichen Anteils mit dem Ermland und Pommerellen) zu Brandenburg-Preußen kamen und die neue Provinz Westpreußen bildeten.
Heutzutage gehört das Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz überwiegend zu Russland (Oblast Kaliningrad) und Polen (Woiwodschaft Ermland-Masuren). Das ehemalige sog. Memelland (auch Memelgebiet, lit. Klaipėdos kraštas) kam erstmals 1920 und erneut ab 1945 zu Litauen.
An einem Novembertag liegt das Köfferchen auf dem Wohnzimmertisch in Hannover.1 Gespannte Stille, die Schlösser schnappen auf. Kunstseidenfutter in kräftigem Violett. Als erstes fällt das Gesangbuch ins Auge, und ein weißer Schlüpfer, in den etwas eingewickelt ist.
Radzieje, 1417 als „Rosengarten“ gegründet, ist ein Kirchdorf in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren. Radzieje hatte im Jahr 2006 noch 510 Einwohner:innen.
Sie erzählen im Duett. „Schau, das Schulhaus!“ – „Das stand unterhalb der Kirche.“ Mühelos können sie Orte und Menschen auf den Fotos identifizieren. „Unser Opa!“ Evas Vater Heinrich Richard Puschke, der langjährige Rektor der Schule. „Unsere Omi Gertrud.“ Evas älterer Bruder Hans, „unser Vater, als Theologiestudent.“ An der familiären Kaffeetafel entdecken sie fremde Gesichter: „Das müssen die Junglehrer sein.“
Und immer wieder „Tante Eia“ als junge Frau. Hübsch, oft burschikos.
Lehrerin? Ob sie freiwillig in die Fußstapfen ihres Vaters trat? Oder unter dem Druck der Zeitumstände? Die Junglehrer waren an der Front, also wurden Frauen dienstverpflichtet. Wer wäre dafür geeigneter als eine Lehrertochter?
Sein jüngster Sohn Richard Franz Puschke folgte ihm an der Dorfschule in
Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.
Mit seiner Pensionierung 1938, so glaubte man bislang, endete die Lehrerdynastie. Der Kofferfund ist eine kleine Familiensensation: Nicht er war der letzte, sondern seine Tochter Eva. Eine Frau!
In den Erzählungen der Nichten wird das Rosengartener Lehrerhaus lebendig. „Unser Opa war wie alle Puschkes ein großer Jäger.“ Ein echter Masure, der jagte und fischte, eine Familie, die Seen und Wälder über alles liebte. Musik war wichtig, Humor und die „typisch ostpreußische Rührseligkeit“. Heißer Grog unter Männern, Skatrunden, bei denen „Wippchen“ und derbe Witze erzählt wurden – Rituale, die die Vertreibung überdauerten.
Den Puschkes sei früher als anderen klar gewesen, dass Hitlers Krieg verloren war. „Unser Vater war Mitglied der Bekennenden Kirche.“ Hans Puschke, Evas älterer Bruder, war seit 1936, nach mehrfacher Strafversetzung, Pfarrer in Nemmersdorf. Im letzten Kriegswinter war seine Frau Käthe mit dem sechsten Kind schwanger, mit Eva-Maria.
Von ihrer eigenen Flucht sind Christiane Puschke nur wenige verschwommene Bilder geblieben. Ein von einem Trecker gezogener Anhänger voller Kinder, sie, damals zweieinhalb, ihre älteren Geschwister und Mutter Käthe, Tante Grete mit ihren Kindern.
Beide Puschke-Familien überlebten und fanden in Norddeutschland wieder zusammen. Ihr Fluchtkoffer begleitete Eva weiter durchs Leben, wurde später zum Archiv. Dokumentiert sind die Entnazifizierung, Notquartiere, Arbeitssuche, alles zu entziffern wird Monate dauern.
Für die heranwachsenden Nichten war die alleinstehende, berufstätige Tante eine Art Vorbild. „Eia war ganz anders als unsere Mutter“. Unkonventionell und witzig, sie hatte ihren eigenen Kopf, rauchte Zigarillos, fuhr Auto, was für eine Frau ziemlich unüblich war.
Im Laufe ihres Lebens, erzählen die Nichten, seien die Beziehungen zu „Tante Eia“ noch enger geworden.
Eva verbrachte immer mehr Zeit auf dem Fleckchen Erde, das sie „Rosengarten“ nannte. Vor vielen Jahren hatte sie das verwilderte Grundstück bei Haffkrug, in der Lübecker Bucht, gepachtet. Dazu ein Zimmer, mit Bett und Zweiplattenherd, Plumpsklo vor der Tür. Schon im März fuhr sie mit ihrem VW Golf dorthin, pflanzte und hegte ihre Kartoffeln, Kürbisse und Gurken, Erdbeeren, Rosen natürlich.
„Einmal im Leben hatte sie richtig Geld.“ Die Nichten erinnern sich, als wäre es gestern gewesen. „Da hat Eia 77 000 DM im Lotto gewonnen.“ Mitte der 1980er Jahre war das. Einen Teil ihres plötzlichen Reichtums hat sie den Nichten und Neffen geschenkt.
Heute würden Eva-Maria und Christiane Puschke die Tante gern noch Vieles fragen: Bist Du mal im Schloss der Lehndorffs gewesen? Und hast mit Gottliebe gesprochen? Hast Du Dich mit deinem Bruder Hans gestritten? War Dein Vater als Rektor streng oder nachgiebig?
Wie aus dem Brief hervorgeht, hatte sich Eva Puschke als Hauslehrerin für die vier Lehndorff-Töchter beworben. „Die Kinder lernen in der Schule absolut gar nichts, da sie zu voll ist und kein Unterrichtsmaterial vorhanden. Ich rechne im Stillen mit Ihnen und baue meine Pläne damit auf.“
Noch einmal haben sich die Wege der Lehndorffs und der Puschkes gekreuzt. Warum aus der Verabredung nichts wurde, wissen wir nicht. Hätte Eva die Stelle als Hauslehrerin angenommen, wäre sie vielleicht auch als Lehrerin glücklich geworden?