Im Juli 1950 ist Stefan Tymiec in Sztynort geboren. „Ich hatte eine glückliche Kindheit“, sagt er. Von den Tragödien, die seine Eltern durchlebt hatten, spürte er kaum etwas. Seine Mutter war eine Deutsche, die 1945 in der Heimat geblieben war. Sein Vater Ukrainer, einer von vielen Zwangsumgesiedelten aus dem Südosten Polens. Acht Jahre dauerte Stefans Kinderglück, dann brach die Familie Richtung Westen auf.
Eine Familie zwischen Ost und West
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Siebzig ist Stefan Tymiec heute, noch immer beruflich aktiv. Ort des Gesprächs: seine Wuppertaler Arztpraxis.1  Zwischendurch setzt sich sein hundertjähriger Vater, Stefan Tymiec Senior, zu uns. „Die Hebamme kam vom Feld gelaufen, da guckte ich schon halb raus“, erzählt der Sohn. Und der Vater fährt fort: „Sie hatte noch schmutzige Hände und legte das Kind in meine Arme“. Sie lachen im Duett, offenbar haben die beiden eine innige Beziehung.
 
Stefan war der erstgeborene Sohn. Später kamen noch zwei Brüder und eine Schwester dazu. Auf dem Foto vom Sommer 1951 ist er herausgeputzt wie ein kleiner Prinz. „Die Kniestrümpfe sind aus aufgerebbelten Säcken der UNRRA gestrickt“, der Nothilfe und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen.
 
Stefans Mutter Aurelia war Ermländerin. Eine geborene Milkus, römisch-katholisch, mütterlicherseits Deutsche, ihr verstorbener Vater war ein preußischer Litauer. Am Ende des Kriegs hatte ihre Mutter Gertrud entschieden, in der Heimat zu bleiben, wo sie sich auskannte und es genügend zu essen gab.
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Mutter und Tochter hatte es nach
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

verschlagen. Dort traf die damals sechzehnjährige Aurelia auf Stefan Tymiec. Sie war Melkerin in der Kollektivwirtschaft. Er war Traktorist, ganze zwölf Jahre älter, ein Bauernsohn aus
Horyniec-Zdrój
pol. Horyniec, ukr. Horynecʹ, ukr. Горинець

Horyniec-Zdrój ist ein Dorf und Kurort im Südosten Polens nahe der Grenze zur Ukraine.
Im Jahr 2020 hatte Horyniec-Zdrój 2.454 Einwohner:innen.

, im
Karpartenvorland
slk. Čelná karpatská priehlbina, ces. Vněkarpatské sníženiny, ukr. Прикарпаття, eng. Outer Subcarpathia, pol. Podkarpacie Zewnętrzne, pol. Podkarpacie

Als Karpatenvorland bezeichnet man das Gebiet an der äußeren Seite des Karpatenbogens. Es ist namensgebend für die polnische Woiwodschaft Podkarpackie.

. Auch er aus einer ethnisch gemischten Region, der Vater Ukrainer, die Mutter Polin. 1947, im Zuge der „Aktion Weichsel“ „Aktion Weichsel“ „Aktion Weichsel“ (polnisch Akcja Wisła) bezeichnet die Zwangsumsiedlung von etwa 150.000 ethnisch ukrainischen, lemkischen und bojkischen Menschen aus den polnischen Ostgebieten in die sog. „Wiedergewonnenen Gebiete“ im Westen des Landes, größtenteils im Zeitraum von April bis Juli 1947. , war die Familie in einem Viehwaggon nach Masuren, eines der sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete“ „wiedergewonnenen Gebiete“ Als „wiedergewonnene Gebiete“ (polnisch Ziemie Odzyskane) bezeichnete man in Polen ab 1945 die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Volksrepublik gekommenen ehemaligen deutschen Ostgebiete einschließlich Danzig. , transportiert worden.
 
Stefan Tymiec wollte Aurelia Milkus sofort, sie widerstrebte zunächst. Hochzeit war im September 1949.
 
Ein ungleiches Paar – Alter, Konfession (er war griechisch-katholisch), Sprache, da musste so Einiges überbrückt werden. Im Alltag redeten die Eheleute Deutsch miteinander. Während des Krieges hatte Stefan Tymiec anderthalb Jahre in den Kaligruben an der Werra gearbeitet, „freiwillig“, wie er stets betonte. Ihn lockte das Abenteuer. Einer, der sich überall zurechtfand und schnell lernte. Auf dem Hochzeitsfoto sieht er - mit dunklem Bärtchen, im geräumigen Anzug - ein wenig aus wie Charlie Chaplin.
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Bis zum siebten Lebensjahr sprach Stefan junior nur deutsch, die Sprache seiner Mutter und der Oma, die bei ihnen lebte. Dass sein Dorf bis vor kurzem zu Deutschland gehört hatte, wusste er damals nicht. „Lehndorff? Nie gehört! Das Schloss war für mich ein ganz normales Gebäude. Da wohnten die Vorgesetzten meiner Eltern, da war der Speiseraum für die Arbeiter und ein Laden.“
Genauer erinnern kann er sich nur an das Erntedankfest. Dann pilgerte die Familie in Sonntagskleidung auf den Schlossberg, dort wurden auf großen Tabletts belegte Brötchen serviert. „Ein Glückserlebnis. Wir kannten ja nur selbstgebackenes Brot.“
 
„Alles in meiner Kindheit“, sagt der 70jährige, „war schön und bunt. Die Wiesen, der Wald und die Seen. Die Blumen an den Zäunen, die ich meiner Mutter zum Geburtstag gepflückt habe.“
 
Stefan war fünf Jahre alt, als die Mutter an Brustkrebs erkrankte. Er erinnert sich noch, wie sie aus dem Krankenhaus heimkehrte. „Sie zeigte mir ihren Verband und sagte: ‚Mama hat Aua‘. Und ich soll gesagt haben: ‚Wenn ich groß bin, werde ich Arzt und dich heilen‘.“
 
Trauriges zum Guten wenden, das wird ein Lebensthema von Stefan Tymiec werden. Am ersten Schultag konnte er kein Wort polnisch. Etwa einem Viertel der Klasse ging es ähnlich. Zum Glück war sein Lehrer zweisprachig, „der hat uns immer gedolmetscht“.
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In der Schule war er „der Deutsche“, musste sich gegen die polnischen Jungen zur Wehr setzen. Und gute Noten erobern, das war nach Meinung seiner Eltern der beste Schutz.
 
Oft hörte er die Erwachsenen von der Ausreise nach Westdeutschland reden, zu den Verwandten nach Remscheid-Lennep oder Düren. Dass die Familie auf „gepackten Koffern“ saß, hat er erst später verstanden. Ein Antrag nach dem anderen war abgelehnt worden. Jedes Mal führten die polnischen Behörden ins Feld, dass Gertrud Milkus 1946 ein Dokument unterschrieben hatte, dass sie bleiben wolle, daher polnische Staatsbürgerin sei.
 
In Sztynort war das Leben arm, ohne Zukunft. So zog die Familie 1958, wie schon andere Ausreisewillige, nach
Frankfurt (Oder)-Dammvorstadt

Die polnische Stadt Słubice gehörte bis 1945 als „Dammvorstadt“ zu Frankfurt/Oder. Bereits 1253 wurde die Siedlung als „Zliwitz“ schriftlich erwähnt. 2019 hatte Słubice 16.705 Einwohner:innen.

um, das Grenzstädtchen im Westen
Polen
eng. Poland, pol. Polska

Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.

.2 Ein erster Schritt zum Ziel: Vom Ufer der Oder konnte man das ostdeutsche Frankfurt sehen.
 
Vater Stefan arbeitete als Nähmaschinenschlosser in einer Fabrik. Mutter Aurelia, die nach drei Söhnen ein Mädchen geboren hatte, als Näherin. Am wichtigsten war ihnen die Schulbildung der Kinder: Lernt, damit ihr es mal besser habt! Lernt, sonst bleibt ihr Außenseiter!
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Obwohl das Geld knapp war, schickten sie sie zur Musikschule. „Meine Mutter hat viel gesungen. Ihr Lieblingsinstrument war das Akkordeon, deswegen hat sie uns Kinder zum Akkordeonunterricht angemeldet.“
 
Nebenbei halfen die Kinder in der kleinen Landwirtschaft. Eine Kuh und ein Schwein hatten sie, und Hühner, zogen Gemüse und Obst für den eigenen Bedarf. Dazu einige Dutzend Bienenvölker, seit seiner Jugend in Horyniec imkerte Vater Stefan. Der Honig, bis zu 1000 Kilo im Jahr, brachte ein gutes Zubrot ein.
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„Armut verbindet. Reichtum entbindet.“ Sagt Stefan Tymiec Junior. Auch der katholische Glaube und die strikte Ablehnung des Kommunismus hielten die Familie zusammen.
 
1968 siedelte die Familie nach Eisenhüttenstadt um – wieder ein Stück westwärts. Noch in Słubice hatte Stefan Abitur gemacht. Er träumte davon, Medizin an der berühmten Humboldt-Universität in Ost-Berlin zu studieren. Sein Deutsch ließ zu wünschen übrig, und er war seit seiner Umsiedlung staatenlos. Irgendwie schaffte er es, alle Hürden zu überwinden. „Ich war ein mutiger Kerl zu der Zeit.“
 
An der Charité lernte er Anemone, eine Medizinstudentin aus Sachsen, kennen. Hoffnungsfrohe Jahre – Liebe, Freundschaften, Großstadtleben, doch die innere Unruhe blieb. Stefan Tymiec fing an, sich für Steinort und seine Geschichte zu interessieren. Zum ersten Mal las er etwas über Heinrich von Lehndorff,  das missglückte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.
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Kurz vor seiner Approbation, im Mai 1974, heiratete Stefan Tymiec „unter der Aufsicht von Erich Honecker“ seine Freundin Anemone. Jetzt wurde es Zeit! Während der junge Arzt am Krankenhaus in Köpenick Erfahrung sammelte, schmiedete das Paar Fluchtpläne. Alle Tymiec wollten „nachm Westen“. Im Oktober 1976 wagten sie es. In zwei Gruppen wollten sie über die
Tschechoslowakei
ces. Československo, slk. Česko-Slovensko, eng. Czecho-Slovakia, eng. Czechoslovakia

Die Tschechoslowakei war ein zwischen 1918 und 1992 in wechselnden Grenzen und unter wechselnden Namen und politischen Systemen bestehender Staat, dessen ehemalige Landesteile in den heutigen Staaten Tschechien, Slowakei und der Ukraine (Karpatenukraine, bereits 1939 ungarisch besetzt, ab 1945 an die Sowjetunion) aufgegangen sind. Nach 1945 stand die Tschechoslowakei unter politischem Einfluss der Sowjetunion, war als Satellitenstaat Teil des sog. Ostblocks und ab 1955 Mitglied des Warschauer Paktes. Zwischen 1960 und 1990 trug das kommunistische Land offiziell den Namen Tschechoslowakische Sozialistische Republik (abgekürzt ČSSR). Die demokratische politische Wende wurde 1989 mit der Samtenen Revolution eingeleitet und mündete 1992 in der Gründung der unabhängigen Tschechischen bzw. Slowakischen Republiken.

nach Österreich, Treffpunkt: Wien.
 
Anemone, im zweiten Monat schwanger, und Stefan, sein jüngerer Bruder Marian mit Freundin scheiterten. Versteckt in einem LKW wurden sie in der ČSSR entdeckt und verhaftet. Ein Albtraum! Drei Jahre und zehn Monate Gefängnis standen ihnen bevor, den Frauen etwas weniger. Zur Entbindung wurde Anemone vorübergehend freigelassen. Hendrik kam im Juni 1977 zur Welt, im Dezember musste die Mutter ihn in ein Kinderheim abgeben.
 
Im März 1978 kaufte die Bundesrepublik die Vier vorzeitig frei. Erst am Nikolaustag konnten Stefan und Anemone Tymiec ihren Sohn in die Arme schließen. „Da hab‘ ich Hendrik zum ersten Mal gesehen.“ Noch heute treten ihm die Tränen in die Augen. „Ich habe alles Rote gehasst. Jahrelang konnte ich nicht mal einen roten Pullover tragen.“
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Endlich angekommen! In der Freiheit! Bei der Familie in Remscheid! Der zweite Sohn, Patrick, auf der Welt! Ärmel hochkrempeln, das konnten sie.
Wuppertal – Neubeginn und Heimweh
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1980 eröffneten Stefan und Anemone Tymiec eine eigene Praxis in Wuppertal. Anfangs kamen die Patienten nur zögerlich, „weil unser Name ausländisch klang“. Doch als 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde, kamen zahlreiche Spätaussiedler und Dissidenten in die BRD, auch ins Bergische Land – da war ein polnisch sprechender Arzt gefragt.
 
Für das Mediziner-Ehepaar genau die richtige Aufgabe und ein florierendes Geschäft. In nur einem Jahrzehnt haben Stefan und Anemone Tymiec ihre ehrgeizigen Ziele erreicht. Die Söhne Hendrik und Patrick traten später in ihre Fußstapfen, wurden ebenfalls Ärzte. Der lange Weg in den Westen, er hatte sich gelohnt.
 
Und die große Geschichte gab ihnen recht: Am 9. November 1989 saßen sie fassungslos vor dem Fernseher. „Wir konnten es nicht glauben, und das alles ohne einen einzigen Schuss, ohne Tote.“ Die Mauer war gefallen. Ein kommunistisches Regime nach dem anderen brach zusammen.
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Noch hatte die Familie im Land ihrer Träume nicht vollends Wurzeln geschlagen. Doch jetzt richtete Stefan Tymiec seinen Blick wieder zurück, nach Osten. Was passiert in Polen? Wo sind die alten Freunde geblieben? In Słubice, Sztynort? Im Sommer 1990 reiste Stefan Tymiec wieder nach Masuren und verliebte sich aufs Neue in die Landschaft seiner Kindheit. Er nahm das Lehndorffsche Schloss in seiner Größe und Schönheit wahr. Es stand leer, das Dorf zu seinen Füßen war arm wie eh und je.
 
Was Stefan Tymiec sah, forderte seinen Unternehmergeist heraus. Medikamente fehlten, also brachte er beim nächsten Mal welche mit. Zwei, drei Jahre lang belieferte er Apotheken mit Aspirin und Vitaminen, bis die großen Händler ihn verdrängten.
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Warum nicht in Schloss Steinort investieren? Das Hauptgebäude war zu groß „ein Fass ohne Boden“. Aber der alte Speicher schien von solider Substanz, geeignet vielleicht für ein Hotel mit Gastronomie. Tymiec war einer der ersten, der Pläne machte für eine Wiederbelebung des historischen Ortes.
 
Bis ins Kleinste hat er zusammen mit einem Architekten das Gebäude untersucht, alles penibel durchgerechnet – und ließ dann die Finger davon. Zu unklar die Eigentumsverhältnisse, zu viel Korruption im Spiel.
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Anfang Vierzig war er damals, ein Mann in den besten Jahren. Fortan lebte er bewusst und aktiv zwischen den Welten – zwischen West und Ost, erfolgreicher Karriere und der Sehnsucht, seine Ursprünge zu verstehen.
 
„Steinort ist meine Urheimat“, sagt er. „Ich bin ein Deutscher, letztendlich“, dessen ist er sich heute sicher. „Veredelt durch andere Kulturen“, die litauische, polnische und ukrainische.
 
Polnisch ist der größte Teil seines Akkordeonrepertoires. Seinen Gästen zeigt Stefan Tymiec gern den masurischen Findling vor seinem Haus und die „Papierowki“ hinten im Garten, „Papieräpfel“ aus einer polnischen Baumschule.
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Vor acht Jahren hat er seinen hochbetagten Vater zu sich nach Wuppertal geholt. Durch ihn ist die ukrainische Vergangenheit im Alltag präsent, Horyniec, das Dorf im Karpatenvorland. „Mein Vater hat mich nach der Geburt in die Arme genommen“, sagt Stefan Tymiec Junior, „und er wird in meinen Armen sterben.“

Siehe auch