Stefan war der erstgeborene Sohn. Später kamen noch zwei Brüder und eine Schwester dazu. Auf dem Foto vom Sommer 1951 ist er herausgeputzt wie ein kleiner Prinz. „Die Kniestrümpfe sind aus aufgerebbelten Säcken der UNRRA gestrickt“, der Nothilfe und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen.
Stefans Mutter Aurelia war Ermländerin. Eine geborene Milkus, römisch-katholisch, mütterlicherseits Deutsche, ihr verstorbener Vater war ein preußischer Litauer. Am Ende des Kriegs hatte ihre Mutter Gertrud entschieden, in der Heimat zu bleiben, wo sie sich auskannte und es genügend zu essen gab.
Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.
Als Karpatenvorland bezeichnet man das Gebiet an der äußeren Seite des Karpatenbogens. Es ist namensgebend für die polnische Woiwodschaft Podkarpackie.
Stefan Tymiec wollte Aurelia Milkus sofort, sie widerstrebte zunächst. Hochzeit war im September 1949.
Ein ungleiches Paar – Alter, Konfession (er war griechisch-katholisch), Sprache, da musste so Einiges überbrückt werden. Im Alltag redeten die Eheleute Deutsch miteinander. Während des Krieges hatte Stefan Tymiec anderthalb Jahre in den Kaligruben an der Werra gearbeitet, „freiwillig“, wie er stets betonte. Ihn lockte das Abenteuer. Einer, der sich überall zurechtfand und schnell lernte. Auf dem Hochzeitsfoto sieht er - mit dunklem Bärtchen, im geräumigen Anzug - ein wenig aus wie Charlie Chaplin.
„Alles in meiner Kindheit“, sagt der 70jährige, „war schön und bunt. Die Wiesen, der Wald und die Seen. Die Blumen an den Zäunen, die ich meiner Mutter zum Geburtstag gepflückt habe.“
Stefan war fünf Jahre alt, als die Mutter an Brustkrebs erkrankte. Er erinnert sich noch, wie sie aus dem Krankenhaus heimkehrte. „Sie zeigte mir ihren Verband und sagte: ‚Mama hat Aua‘. Und ich soll gesagt haben: ‚Wenn ich groß bin, werde ich Arzt und dich heilen‘.“
Trauriges zum Guten wenden, das wird ein Lebensthema von Stefan Tymiec werden. Am ersten Schultag konnte er kein Wort polnisch. Etwa einem Viertel der Klasse ging es ähnlich. Zum Glück war sein Lehrer zweisprachig, „der hat uns immer gedolmetscht“.
Oft hörte er die Erwachsenen von der Ausreise nach Westdeutschland reden, zu den Verwandten nach Remscheid-Lennep oder Düren. Dass die Familie auf „gepackten Koffern“ saß, hat er erst später verstanden. Ein Antrag nach dem anderen war abgelehnt worden. Jedes Mal führten die polnischen Behörden ins Feld, dass Gertrud Milkus 1946 ein Dokument unterschrieben hatte, dass sie bleiben wolle, daher polnische Staatsbürgerin sei.
In Sztynort war das Leben arm, ohne Zukunft. So zog die Familie 1958, wie schon andere Ausreisewillige, nach
Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.
Vater Stefan arbeitete als Nähmaschinenschlosser in einer Fabrik. Mutter Aurelia, die nach drei Söhnen ein Mädchen geboren hatte, als Näherin. Am wichtigsten war ihnen die Schulbildung der Kinder: Lernt, damit ihr es mal besser habt! Lernt, sonst bleibt ihr Außenseiter!
Nebenbei halfen die Kinder in der kleinen Landwirtschaft. Eine Kuh und ein Schwein hatten sie, und Hühner, zogen Gemüse und Obst für den eigenen Bedarf. Dazu einige Dutzend Bienenvölker, seit seiner Jugend in Horyniec imkerte Vater Stefan. Der Honig, bis zu 1000 Kilo im Jahr, brachte ein gutes Zubrot ein.
1968 siedelte die Familie nach Eisenhüttenstadt um – wieder ein Stück westwärts. Noch in Słubice hatte Stefan Abitur gemacht. Er träumte davon, Medizin an der berühmten Humboldt-Universität in Ost-Berlin zu studieren. Sein Deutsch ließ zu wünschen übrig, und er war seit seiner Umsiedlung staatenlos. Irgendwie schaffte er es, alle Hürden zu überwinden. „Ich war ein mutiger Kerl zu der Zeit.“
An der Charité lernte er Anemone, eine Medizinstudentin aus Sachsen, kennen. Hoffnungsfrohe Jahre – Liebe, Freundschaften, Großstadtleben, doch die innere Unruhe blieb. Stefan Tymiec fing an, sich für Steinort und seine Geschichte zu interessieren. Zum ersten Mal las er etwas über Heinrich von Lehndorff, das missglückte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.

Die Tschechoslowakei war ein zwischen 1918 und 1992 in wechselnden Grenzen und unter wechselnden Namen und politischen Systemen bestehender Staat, dessen ehemalige Landesteile in den heutigen Staaten Tschechien, Slowakei und der Ukraine (Karpatenukraine, bereits 1939 ungarisch besetzt, ab 1945 an die Sowjetunion) aufgegangen sind. Nach 1945 stand die Tschechoslowakei unter politischem Einfluss der Sowjetunion, war als Satellitenstaat Teil des sog. Ostblocks und ab 1955 Mitglied des Warschauer Paktes. Zwischen 1960 und 1990 trug das kommunistische Land offiziell den Namen Tschechoslowakische Sozialistische Republik (abgekürzt ČSSR). Die demokratische politische Wende wurde 1989 mit der Samtenen Revolution eingeleitet und mündete 1992 in der Gründung der unabhängigen Tschechischen bzw. Slowakischen Republiken.
Anemone, im zweiten Monat schwanger, und Stefan, sein jüngerer Bruder Marian mit Freundin scheiterten. Versteckt in einem LKW wurden sie in der ČSSR entdeckt und verhaftet. Ein Albtraum! Drei Jahre und zehn Monate Gefängnis standen ihnen bevor, den Frauen etwas weniger. Zur Entbindung wurde Anemone vorübergehend freigelassen. Hendrik kam im Juni 1977 zur Welt, im Dezember musste die Mutter ihn in ein Kinderheim abgeben.
Im März 1978 kaufte die Bundesrepublik die Vier vorzeitig frei. Erst am Nikolaustag konnten Stefan und Anemone Tymiec ihren Sohn in die Arme schließen. „Da hab‘ ich Hendrik zum ersten Mal gesehen.“ Noch heute treten ihm die Tränen in die Augen. „Ich habe alles Rote gehasst. Jahrelang konnte ich nicht mal einen roten Pullover tragen.“
Für das Mediziner-Ehepaar genau die richtige Aufgabe und ein florierendes Geschäft. In nur einem Jahrzehnt haben Stefan und Anemone Tymiec ihre ehrgeizigen Ziele erreicht. Die Söhne Hendrik und Patrick traten später in ihre Fußstapfen, wurden ebenfalls Ärzte. Der lange Weg in den Westen, er hatte sich gelohnt.
Und die große Geschichte gab ihnen recht: Am 9. November 1989 saßen sie fassungslos vor dem Fernseher. „Wir konnten es nicht glauben, und das alles ohne einen einzigen Schuss, ohne Tote.“ Die Mauer war gefallen. Ein kommunistisches Regime nach dem anderen brach zusammen.
Was Stefan Tymiec sah, forderte seinen Unternehmergeist heraus. Medikamente fehlten, also brachte er beim nächsten Mal welche mit. Zwei, drei Jahre lang belieferte er Apotheken mit Aspirin und Vitaminen, bis die großen Händler ihn verdrängten.
Bis ins Kleinste hat er zusammen mit einem Architekten das Gebäude untersucht, alles penibel durchgerechnet – und ließ dann die Finger davon. Zu unklar die Eigentumsverhältnisse, zu viel Korruption im Spiel.
„Steinort ist meine Urheimat“, sagt er. „Ich bin ein Deutscher, letztendlich“, dessen ist er sich heute sicher. „Veredelt durch andere Kulturen“, die litauische, polnische und ukrainische.
Polnisch ist der größte Teil seines Akkordeonrepertoires. Seinen Gästen zeigt Stefan Tymiec gern den masurischen Findling vor seinem Haus und die „Papierowki“ hinten im Garten, „Papieräpfel“ aus einer polnischen Baumschule.