Wie weit reichte der „deutsche Osten“? Mit Rückgriff auf die um 1800 ‚wiederentdeckte‘ Marienburg fand die deutsche Geschichtspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts ganz unterschiedliche Antworten auf diese Frage.
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Beschaulich am grünen Ufer der Nogat gelegen steht die rötlich-backsteinerne Marienburg im Norden Polens, ungefähr eine Autostunde von
Gdańsk
deu. Danzig

Danzig ist eine Großstadt an der Ostsee in der polnischen Woiwodschaft Pommern (Pomorskie) mit ca. 470.000 Einwohner:innen. Sie liegt am Fluss Motława (dt. Mottlau) an der Danziger Bucht.

Historische Orte
Danzig
 
entfernt. Sie erinnert an den einstigen Deutschen Orden Deutschen Orden Der 1190/99 gegründete „Orden der Brüder vom Deutschen Haus Sankt Mariens in Jerusalem“, kurz: „Deutscher Orden“ war ein Ritterorden vergleichbar mit dem Templer- oder dem Johanniterorden. Nachdem er aus dem Heiligen Land vertrieben wurde, erfolgte 1226 eine Einladung durch Herzog Konrad von Masowien, die heidnischen Pruzzen zu unterwerfen, die im südöstlichen Ostseeraum siedelten (und von denen das spätere Preußen seinen Namen erhielt). Die Gründung des Deutschordensstaates erfolgte im Preußenland im 13. Jahrhundert. Nach der Eroberung der Pommerellen mit Danzig gewann der Ordensstaat neue Gebiete entlang des nördlichen Laufes der Weichsel. Sitz der Hochmeister des Deutschen Ordens war von 1309 bis 1457 die im Weichseldelta gelegene Burganlage Marienburg. 1410 erlitt der Orden unter seinem Hochmeister Ulrich von Jungingen bei Tannenberg/Grunwald gegen ein polnisch-litauisches Heer eine vernichtende Niederlage, durch die die Vormachtstellung des Ordens in der Region gebrochen wurde. 1466 verlor der Orden im Zweiten Thorner Frieden bedeutende Teile seines Herrschaftsraumes an das Königreich Polen, darunter auch die Marienburg und die angrenzenden Gebiete. 1525 trat der letzte Ordensmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach zur Reformation über, wandelte den Ordensstaat in ein weltliches Fürstentum um und huldigte seinem Onkel, dem polnischen König Sigismund I. von Polen, der ihm das Herzogtum Preußen zum Lehen gab. . Dieser Ritterorden beherrschte im Mittelalter den südöstlichen
Ostsee
fin. Itämeri, lav. Baltijas jūra, lit. Baltijos jūra, est. Läänemeri, swe. Östersjön, eng. Baltic Sea, fra. Mer Baltique, pol. Morze Bałtyckie, lat. Mare Balticum
, die Festung diente ihm von 1309 bis 1457 als Hauptsitz. Um 1800, als die Burg und das umliegende Gebiet weder zum Deutschen Orden noch zu Polen, sondern zum Königreich Preußen gehörte, vermochte kaum noch etwas an die schillernde Bedeutung dieses historischen Ortes zu erinnern. Die Burg war dem Verfall preisgegeben.
Die Entdeckung der Marienburg als historisches Bauwerk
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An der Burgruine in ihrem traurig desolaten Zustand kam Theodor von Schön (1773–1856), ein hochrangiger preußischer Beamter, in den Jahren nach 1800 mehrmals vorbei. Wie er sich später erinnerte, sollte sich sein Blick eines Tages, als er die Burg wieder einmal sah, mit einem Mal verändert haben: „Marienburg hatte ich vor dem Kriege 1806 zweimal in seiner tiefsten Erniedrigung gesehen, aber ich hatte es mehr als Curiosität […] betrachtet. Im Jahr 1816 sah ich es wieder, und ich sah etwas anderes, als ich früher gesehen hatte“, denn „nun trat erst das hohe Werk in seiner Glorie vor meine Seele.“1
 
Was war in der Zwischenzeit geschehen, dass Theodor von Schön die Burg mit so ganz anderen Augen betrachtete? Zum einen befand er sich in der Übergangszeit von der Aufklärung hin zur Romantik, womit die Antike als Sehnsuchtsort längst vergangener Zeiten vom Mittelalter verdrängt wurde. Für diese Mittelalterromantik gewann die Erinnerung an die Marienburg als Symbol versunkener Ritterlichkeit und des wackeren Streitens für den christlichen Glauben mit einem Mal neuen Wert. Zum anderen war soeben die Herrschaft Napoleon Bonapartes (1769–1821) über den Kontinent mit vereinten Kräften der europäischen Völker und ihrer Fürsten gebrochen worden. Das hatte den nationalen Einigungsbewegungen Auftrieb gegeben. Mit ihnen ging eine Besinnung der Menschen auf die Geschichte ihres Landes und ihrer unmittelbaren Umgebung einher. Vor diesem Hintergrund muss Theodor von Schöns Umdenken betrachtet werden. Was folgte, war die von ihm als Oberpräsident der Provinz
Westpreußen
eng. West Prussia, pol. Prusy Zachodnie

Westpreußen ist eine historische Region im heutigen Norden Polens. Die Region fiel infolge der ersten Teilung Polen-Litauens 1772 an Preußen und erhielt ihren Namen durch die 1775 durch Friedrich II. gebildete gleichnamige Provinz, zu der auch Teile der historischen Landschaften Großpolen, Pommerellen, Pomesanien und das Kulmerland gehörten. Die preußische Provinz hatte in wechselnden Grenzen bis ins frühe 20. Jahrhundert Bestand. Nach dem Ersten Weltkrieg fielen Teile an die 1918 gegründete Zweite Polnische Republik. Zu den größten Städten Westpreußens zählen Danzig (poln. Gdańsk, heute Woiwodschaft Pommern), Elbing (poln. Elbląg, heute Woiwodschaft Ermland-Masuren) und Thorn (poln. Toruń, heute Woiwodschaft Kujawien-Pommern).

federführend und mit großem Aufwand betriebene Restaurierung der Marienburg ab 1816/17; ein Meilenstein der Denkmalpflege im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts.
Ein Griff in die Mottenkiste der Geschichte? – Die Ordensritter als Rechtfertigungsargument der bestehenden Grenzen
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Diese Bemühungen dürfen keineswegs als rein kulturpolitisches Liebhaberprojekt missverstanden werden. Die Marienburg diente auch als Bezugspunkt für die großen politischen Streitthemen jener Zeit. Eines dieser Themen war die territoriale Zugehörigkeit der Provinz Westpreußen, in der die Burg lag. Erst seit Kurzem, seit der Ersten Teilung
Polen-Litauen
eng. Polish–Lithuanian Commonwealth, lit. Abiejų Tautų Respublika, pol. Rzeczpospolita Obojga Narodów, deu. Erste Polnische Republik, lat. Respublica Poloniae, pol. Korona Polska i Wielkie Księstwo Litewskie, lat. Res Publica Utriusque Nationis, deu. Republik beider Völker

Bereits 1386 wurden das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen durch eine Personalunion verbunden. Polen-Litauen bestand als multiethnisches Staatsgebilde und Großmacht im östlichen Europa von 1569 bis 1795. In dem auch Rzeczpospolita genannten Staat wurde der König von den Adeligen gewählt.

1772, befand sich Westpreußen im Besitz der preußischen Krone. In diesem Jahr hatten sich die Großmächte Preußen, Österreich und Russland verbündet, jeweils ein Stück ihres in der Mitte liegenden Nachbarn zu annektieren. Ein unerhörtes, bis dahin nicht vorgekommenes Beispiel gewissenloser Machtpolitik war das, so die Wahrnehmung vieler Zeitgenossen. Als 1793 und 1795 zwei weitere Teilungen folgten, durch die der ostmitteleuropäische Staat endgültig von der Landkarte verschwand, nannte ein ehemals hochrangiger preußischer Beamter das schlichtweg „Abscheu erregend“.2
Ähnlich kritisch äußerten sich in den Jahren nach 1815 die deutschen Liberalen, die sich für einen deutschen Nationalstaat und bürgerliche Freiheiten einsetzten. Ihnen galt zwar König Friedrich II. von Preußen (1712–1786), der die erste Teilung veranlasst hatte, in vielerlei Hinsicht als Vorbild. Aber der Überfall auf den polnischen Nachbarn wurde als ein nicht schönzuredender Rechtsbruch betrachtet. Darüber hinaus existierte eine besondere Polenbegeisterung nach dem heroischen Novemberaufstand der Polen gegen die russische Fremdherrschaft 1830/31. Wenn die Deutschen einen eigenen Nationalstaat haben wollten, warum sollten ihn die Polen dann nicht auch haben? In diesem Sinne forderte der linke Abgeordnete Robert Blum (1807–1848) in der Revolution von 1848, als die Schaffung eines deutschen Nationalstaates zum Greifen nah war, die Wiederherstellung Polens in seinen Grenzen von 1772.
Der preußische Anspruch auf diese neu gewonnenen Gebiete stand also auf tönernen Füßen. Nicht nur die Art und Weise der Erwerbung stellte die preußische Herrschaft infrage. War der Herrschaftsanspruch auf diese Weise bereits prekär gewesen, so bröckelte er im Zeitalter der Nationalbewegungen durch die zahlenstarke polnische Bevölkerung weiter dahin. Dass in Westpreußen auch Polen siedelten, war ein Argument, das 1772, in vornationaler Zeit, bei der Erwerbung durch Preußen noch keine Rolle gespielt hatte, nach der Neuordnung Europas 1815 aber den preußischen Herrschaftsanspruch umso stärker unterminierte. Es musste der preußischen Regierung also ein Anliegen sein, neue Wege zu finden, um die eigene Herrschaft in den erst kürzlich erworbenen Gebieten zu festigen. Die ‚Wiederentdeckung‘ der Ordensburg kam da zur rechten Zeit. Die Exponierung der Burg darf also als geschichtspolitische Intervention gelten, als Hinweis auf die deutsche Präsenz im südlichen Ostseeraum, die viel weiter zurückreichte als nur bis zu den Annexionen im ausgehenden 18. Jahrhundert. Wichtig wurde in diesem Zusammenhang die Erzählung von Preußen als dem Erbe des Ordensstaates. So hob der Architekt Friedrich Gilly, der mit seiner Beschreibung der Marienburg maßgeblich zu ihrer denkmalpflegerischen Rettung beitrug, die Bedeutung des Ortes damit hervor, dass er „als der Grundstein der Rechte angesehen werden kann, welche das brandenburgische Haus, auf die Regierung [West- und Ost-]Preußens besitzt“.3
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Dieses historische Argument besaß einen defensiven Charakter, der sich am Bauwerk selbst, als Wehranlage, ablesen ließ, aber auch im Bildprogramm, das dem Denkmalprojekt beigegeben wurde: Bei den bemalten Glasfenstern wurde dem historisierenden Ordensritter als aktualisierender Gegenwartsbezug nicht etwa ein Soldat der preußischen Linientruppen zur Seite gestellt, sondern ein Angehöriger der Landwehr, die, wenigstens in der Stilisierung zeitgenössischer Liberaler, milizähnliche Züge trug. Nicht Eroberungs-, sondern Abwehrbereitschaft gegen äußere Bedrohungen sollte vermittelt werden.
Jedoch besaß diese defensive, historisch argumentierende Darstellung, 1772 nicht erobert, sondern lediglich alten Besitz zurückerworben zu haben, einen doppelten Boden: Zum einen verwies sie darauf, dass auch die Ordensritter einst als Fremde in das bereits von anderen besiedelte Gebiet kamen. Das Problem, dass die Deutschen lediglich Neuankömmlinge waren, wurde also nicht gelöst, sondern lediglich vordatiert.4  Zum anderen schilderten mittelalterliche Chronisten die Eroberung als überaus brutal, gar von Ausrottung ist die Rede (ein Extrem, das heute als unwahrscheinlich gilt). Aus diesem Grund wurde die Unterwerfung der heidnischen Pruzzen damit entschuldigt, dass die Region vom Einzug des Ordens große Vorteile hatte, die Christianisierung etwa oder die Kultivierung der Landwirtschaft. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelte sich daraus die Erzählung einer immerwährenden „Zivilisierungsmission“ der Deutschen, um Ordnung und Fortschritt unter den vermeintlich rückständigen Slawen zu verbreiten.
Der Deutsche Orden in der polnischen Erinnerungskultur
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Vertreter der polnischen Nationalbewegung reagierten auf das neu erwachte Interesse an der Ordenszeit auf ihre Weise. Sie deuteten den Orden in ihrem Sinne um und zeichneten ein Bild kriegerischer Eroberung und unbarmherziger Unterjochung slawischer Gebiete durch Deutsche. Die Kreuzritter, mit denen die Deutschen als Ganzes identifiziert werden konnten, traten als aggressive Invasoren auf, die sich dank ihrer militärischen Überlegenheit fremdes Land aneigneten und die Bevölkerung hemmungslos malträtierten. Ein Bild, das sich gut dafür eignete, die preußische Besatzung der Gegenwart in die Erzählung einer überzeitlichen Unterdrückung von Slawen durch Deutsche einzubetten.
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Zu diesem Zweck nutzten polnische Intellektuelle seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch den Begriff des deutschen Drangs nach Osten. „Drang“, das stand im Kontrast zu den statischen Grenzen, wie sie die preußische, auf Verteidigung bedachte Geschichtspolitik vertrat. „Drang“ dagegen, als dynamischer Begriff, das konnte bedeuten, dass Preußen-Deutschland als „neue Kreuzritter“ nur vorübergehend in den bestehenden Grenzen zum Stillstand gekommen war und weitere Angriffe auf slawisches Gebiet drohten.
Namhafte Schriftsteller wie die beiden bedeutendsten Dichter der polnischen Romantik Adam Mickiewicz (1798–1855) und Juliusz Słowacki (1809–1849) oder im ausgehenden 19. Jahrhundert Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887) und der Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz (1846–1916) schrieben einflussreiche Romane, die das polnische Bild von den Ordensrittern nachhaltig prägten. Nicht alle diese Werke waren im antipreußischen Sinne geschrieben. Manche richteten sich eigentlich gegen die russische Fremdherrschaft und hüllten sich in den Tarnmantel des Historienromans, um die Zensur zu umgehen. Doch auch sie ließen sich als antideutsche Manifeste lesen. In Gemälden und Filmen fand der negative Ordensmythos seine visuelle Verfestigung. Die Gleichsetzung von Ordensrittern mit Preußen und diesen mit Deutschen war im polnischen kollektiven Gedächtnis fest verankert und wurde angesichts der machtpolitischen Auseinandersetzungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein tradiert.
Die Wandlung des deutschen Bildes zum aggressiv Kriegerischen
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Je schärfer und unversöhnlicher der deutsch-polnische Gegensatz wurde, desto stärker wurden auch von deutscher Seite aus die kriegerischen Elemente des Ordens betont. Zivile und kulturelle Errungenschaften traten in den Hintergrund oder erschienen nur noch unter militärischer Verteidigungsbereitschaft denkbar. Um 1900 erwuchs nach Ansicht des Denkmalpflegers Conrad Steinbrecht (1849–1923) die Bedeutung der Burg daraus, dass „das Deutschthum auf dem strittigen Boden an der Weichsel sich seines älteren Heimatrechts und seiner höheren Culturaufgaben bewusst bleibt.“5  Nicht mehr bloß die Erwerbung des Gebiets wurde mit der Erinnerung an das Mittelalter begründet, sondern ebenso die entschlossene Verteidigung der bestehenden Grenzen. 1902 erklärte Kaiser Wilhelm II. (1859–1941), immerhin Oberhaupt über mehrere Millionen polnischer Untertanen, bei einer Feier auf der Marienburg, dass „die alte Marienburg, dieses einstige Bollwerk im Osten, der Ausgangspunkt der Kultur der Länder östlich der Weichsel, auch stets ein Wahrzeichen für die deutschen Aufgaben bleiben soll. Jetzt ist es wieder so weit. Polnischer Übermut will dem Deutschtum zu nahe treten“. Und weiter: „Nicht auf fremdem Boden […], sondern daheim an des Reiches Grenze, da steckte die Vorsehung dem Orden die Aufgabe.“6
Wenig deutet darauf hin, dass bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 die Marienburg und die Ordensritter „expansionistischen Zielsetzungen des Kaiserreichs“ dienten, wie der Historiker Eugen Kotte schreibt.7  Stattdessen ging es darum, die Rechtmäßigkeit der aus vornationaler Zeit stammenden territorialen Erbschaft gegen polnische Ansprüche mit historischen Mitteln zu verteidigen. Während mit anderen Argumenten längst eine imperiale Politik gefordert wurde, um sich die von Deutschen besiedelten Gebiete jenseits der Reichsgrenzen einzuverleiben, wirkte der Defensivcharakter des Ordensmythos weiter nach. Selbst der radikalnationalistische Ostmarkenverein, der seit seiner Gründung 1894 nach immer drastischeren Maßnahmen gegen die polnische Minderheit im eigenen Lande rief, nutzte den geharnischten Ritter noch zur Verteidigung des Bestehenden.
Die „Ordensritter in Marsch setzen“ – über die bestehenden Grenzen hinaus
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Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) schrieb 1862 in einem einflussreichen Aufsatz von der Eroberung des Preußenlandes als „der größten, folgenreichsten Tat des späteren Mittelalters, von dem reißenden Hinausströmen deutschen Geistes über den Norden und den Osten, dem gewaltigen Schaffen unseres Volkes als Bezwinger, Lehrer, Zuchtmeister unserer Nachbarn.“8  Mochte auch für Treitschke noch die Rechtfertigung der bestehenden Grenzen im Vordergrund gestanden haben, so konnte das Loblied auf die Eroberung doch auch anders verstanden werden. In dem Maße, in dem die Betonung des kriegerischen Elements in der Deutung des Deutschen Ordens die Oberhand zu gewinnen anfing, gewannen auch Expansionsbestrebungen an Bedeutung. Damit begannen die Grenzen des „deutschen Ostens“ fließend zu werden. Bis wohin er reichen sollte, war fortan der Fantasie des Einzelnen überlassen.
An diesem Punkt angelangt, war es nur noch ein kleiner Schritt, den Orden für die ideologische Rechtfertigung einer brutalen Eroberungspolitik heranzuziehen. Niemand geringeres als Adolf Hitler (1889–1945), der die Erwerbung von ausreichend Lebensraum als zwingende Notwendigkeit für das deutsche Volk ansah, skizzierte Mitte der 1920er-Jahre in „Mein Kampf“ seine Pläne wie folgt: „Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte dies im großen und ganzen nur auf Kosten Rußlands geschehen, dann mußte sich das neue Reich wieder auf der Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert […] der Nation aber das tägliche Brot zu geben.“9  Damit war endgültig die Entkoppelung des Ordens von seinem historischen Herrschaftsbereich vollzogen, die Ritter zur Chiffre für eine schier grenzenlose Expansion in den osteuropäischen Raum hinein geworden.
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So kam es, dass 1940 im Treiben des Zweiten Weltkriegs die in
Kraków
deu. Krakau

Krakau ist die zweitgrößte Stadt Polens und liegt in der Woiwodschaft Kleinpolen im Süden des Landes. In der Stadt an der Weichsel wohnen ungefähr 775.000 Menschen. Die Stadt ist bekannt für den Hauptmarkt mit den Tuchhallen und der Wawel-Burg in der Altstadt Krakaus, welche seit 1978 zum UNESO-Welterbe gehört. In Krakau liegt die älteste Universität Polens, die Jagiellonen-Universität.

gelagerten Repliken von Bannern des Ordens mit großem Pomp in die Marienburg überführt wurden. Für die nationalsozialistische Propaganda fiel dieser „Tag der Heimkehr alter Ordenssymbole in die Burg des Ostens“ in eine Zeit eines „gigantische[n] Kampf[es] für ein neues Europa, für ein Europa mit einer neuen Raumordnung, die ein Zusammenleben der Völker in Frieden gewährleistet.“10  Dass dieses friedliche Zusammenleben nicht mit, geschweige denn durch, sondern einzig gegen das nationalsozialistische Deutschland zu erreichen war, ist bekannt. Ein entsprechend symbolisches Schicksal ereilte auch die Festung in der Endphase des Krieges: Nach mehrwöchigem Beschuss durch die Rote Armee Anfang 1945 war auch die Marienburg zu einer jener zahllosen Ruinenlandschaften Mittel- und Osteuropas geworden. Einzig der bereits Anfang der 1960er-Jahre einsetzenden mühevollen Arbeit polnischer Rekonstrukteure ist es zu verdanken, dass die Burg, freilich entkernt von deutschnationalen Sinndeutungen, heutzutage wieder als Monument mittelalterlicher Herrschaftsentfaltung gelten kann.

Siehe auch